Auch geringe Strahlung führt zu vererbbaren Mutationen

Gentests an Kindern von Menschen, die nach der Katastrophe in Tschernobyl gearbeitet haben, zeigen unerwartet hohe Mutationen

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Nach Untersuchungen von Wissenschaftlern aus Israel und der Ukraine, deren Ergebnisse in den Proceedings of the Royal Society: Biological Sciences (268, S. 1001) veröffentlicht wurden, kann auch eine geringe radioaktive Strahlung zu Mutationen führen, die vererbt werden. Bislang konnten nur Veränderungen an Körperzellen durch radioaktive Strahlung festgestellt werden, die u.a. zu Krebs führen.

Die Wissenschaftler unter der Leitung von Hava Weinberg von der Universität in Haifa haben Kinder von Eltern untersucht, die bei Aufräumungsarbeiten nach der Reaktorschmelze in Tschernobyl tätig waren. Über 140.000 Menschen, darunter 30.000 Kinder, aus dem Gebiet um Tschernobyl sind seit Beginn der 90er Jahre nach Israel eingewandert. Die Mitglieder dieser Aufräumteams waren einer Strahlungsdosis zwischen 50 und 200 Millisievert ausgesetzt. Das entspricht der Strahlungsdosis, der ein Pilot nach 20 Jahren oder ein Angestellter in einem AKW nach 10 Jahren ausgesetzt ist. Vergleichbar ist die Dosis, was die Schädigung der Gene anbelangt, wahrscheinlich deswegen nicht ohne weiteres, da die Tschernobyl-Arbeiter der Strahlung sehr kurzfristig ausgesetzt waren. Tatsache aber bleibt, dass die Dosis nicht sehr hoch war.

Nach der deutschen Strahlenschutzverordnung liegt der Grenzwert für Personen, die beruflich radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind, noch bei jährlich 50 Millisievert, soll aber auf 20 reduziert werden. Die zulässige Jahresdosis für die Bevölkerung soll 1,5 Millisievert nicht überschreiten. Die natürliche Strahlenbelastung in Deutschland liegt durchschnittlich bei etwa 2,4 Millisievert im Jahr.

Bei den Kindern, die nach der Tätigkeit der Eltern in Tschernobyl gezeugt und geboren wurden, fand man nach einer Analyse durch Gentests eine "unerwartet hohe Zunahme" an Mutationen. Als Vergleich diente eine Kontrollgruppe von Geschwistern dieser Kinder, die schon vor der Katastrophe gezeugt wurde, sowie Familien, die keiner radioaktiven Strahlung ausgesetzt waren. Die Mutationsrate war bis zu sieben Mal höher als bei den Kindern in der Kontrollgruppe. Erwartet hatte man nur eine Verdoppelung.

Die Zahl der Mutationen nahm mit der Zeit ab, die zwischen der Aussetzung an die Strahlung und der Zeugung verstrichen ist, was darauf hinweisen könnte, dass die geschädigten Zellen schneller absterben. Gleichwohl schreiben die Wissenschaftler, dass ihre Ergebnisse darauf hinweisen, "dass eine geringe Strahlungsdosis vielfältige Veränderungen in der menschlichen Keimbahn auslösen kann." Dass die Mutationen durch die Umwelt bedingt sind, wird von den Wissenschaftlern ausgeschlossen, da die Veränderungen in den älteren Geschwistern, die denselben Umweltbedingungen ausgesetzt gewesen seien, nicht festzustellen waren.

Die Zahl der Mutationen ging nicht nur mit der verstrichenen Zeit zwischen der Aussetzung eines Elternteils und der Zeugung zurück, sondern hatte auch mit der Länge der Zeit zu tun, die ein Elterteil in der verstrahlten Zone verbrachte. Auch wenn die Mutationen nur gering das unmittelbar genetische Risiko erhöhen würden und sich keine direkten gesundheitlichen Folgen feststellen ließen, könne man langfristigen Folgen doch nicht ausschließen: "Die Tatsache, das viel geringere Strahlungsdosen als bislang angenommen die Zahl der genetischen Veränderungen verdoppeln können, erzwingt eine ernsthafte Aufmerksamkeit."

Für die Wissenschaftler reichen die beobachteten Folgen radioaktiver Strahlung weit über Tschernobyl hinaus, da ein nicht unerheblicher Teil der Menschheit zunehmend mehr durch Mutagene beeinflusst wird. Dass durch Strahlung hervorgerufene Mutationen erblich sind, ist nicht nur seit langem bei Tieren und Pflanzen bekannt, sondern macht etwa auch den Erfolg von entsprechenden Züchtungsverfahren für Nutzpflanzen aus, die auf "Mutationstechniken", d.h. Mutagenen, beruhen (Genveränderte Lebensmittel seit Jahrzehnten auf dem Markt). Was hier seit 40 Jahren gemacht und erwünscht wird, ist jedoch bislang kaum bei Studien über die Folgen von radioaktiver Bestrahlung von Menschen untersucht worden. Ob dieselben Folgen auch bei einer nicht kurzfristigen, sondern längeren Aussetzung an eine geringe Strahlungsdosis zu vergleichbaren Folgen ist nicht bekannt.