Audiovisionen // Vor und nach dem Kino
Seite 2: Krise des Fotorealismus
Ungenügen an den Qualitäten des industriellen Fotorealismus, insbesondere am klassischen Hollywood-Spielfilm, wurde seit der Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich. Die Krise reproduzierender Bildlichkeit: dass mit Postindustrialisierung und Digitalisierung gesellschaftlich ästhetische Bedürfnisse aufkamen, die von den industriellen Medien und den auf ihnen basierenden Darstellungs- und Erzählformen nicht mehr gänzlich zu befriedigen waren, konstatierte Robert Sklar (in Movie-made America: A Cultural History of American Movies, 1976) bereits für den kommerziellen Film der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zu seinen medialen Mängeln zählte das zeitgenössische Kunstwollen neben der Beschränkung auf die Reproduktion des Realen auch die sensorische Depravation in der Reduktion auf fixierte audiovisuelle Zweidimensionalität. Was das Kino um die Jahrhundertmitte zu behindern schien, noch mit analog-maschinellen Mitteln zu überwinden, wurde auf dreifache Weise versucht.
Technische Experimente
Erstens kam es bereits seit den fünfziger Jahren innerhalb des Mediums zu einer Reihe von Experimenten, die auf eine den Fotorealismus transzendierende Bildlichkeit und Immersion zielten. Ihren unmittelbaren Anlass hatten sie in der Etablierung des Fernsehens, das reine Realitätsreproduktion, ob nun tatsächlicher oder inszenierter Ereignisse, billiger und schneller besorgte. Das Hollywoodkino reagierte auf diese Konkurrenz mit in einer Vielzahl von Experimenten zur sensorischen Aufladung des Filmerlebnisses, u. a. Cinemascope, Panavision und Cinerama. Die horizontale Erweiterung verstärkte das subjektive Empfinden der Immersion: das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen, mittendrin und dabei zu sein. Darüber hinaus wurden die Farben bunter, die Töne lauter und lebensechter. Dem dermaßen gesteigerten Fotorealismus entsprach künstlerisch eine Welle kostspielig ausgestatteter Filme, die sich auch thematisch der heimeligen Alltäglichkeit der Fernsehbilder entgegenstemmten und deren tricktechnisch erzeugte Welten – der Fantasie, der Geschichte, der Zukunft – die bunteren Bilder umso spektakulärer wirken ließen.
Zweitens versuchten Pioniere einer postindustriellen Audiovisualität ebenfalls seit den 1950er Jahren, das filmische Erleben in die dritte Dimension zu katapultieren und dadurch interagierender Immersion und multisensorischer Erfahrbarkeit zu erschließen. Dies geschah innerhalb des Kinos über technische Aufrüstung (3-D-Filme, Smell-O-Vision, AromaRama etc.). Es geschah weiterhin mit Hilfe von innovativen Apparaturen, die – wie vor allem Mort Heiligs multisensorisches Experience Theater und Sensorama – zugleich auf Edisons Kinetoskopen zurück- und auf Erfahrungen mit digitalen Simulatoren und Virtual-Reality-Filmritten voraus wiesen, wie sie erst ab Mitte der 1980er Jahre möglich und zur populären Attraktion werden sollten. Und es geschah – auf Anhieb am erfolgreichsten –, indem jene audiovisuellen Filmwelten, die im analog-maschinellen Reproduktionsmedium interagierender Immersion nicht zugänglich waren, schlicht herbeigebaut und damit betretbar gemacht wurden.
Pionier dieser Anstrengung war Walt Disney. Was er erstrebte und was ihm der Film verwehrte, war dreidimensionale Lebensechtheit: „ein Zeichentrickfilm, der das Publikum umhüllt“. Die Mittel, die Beschränkungen fotorealistischer Audiovisionen zu überwinden, fand er in den Filmfabriken selbst. Disneyland, 1955 als erster in einer langen Reihe von Themenparks eröffnet, nutzte die gesamte Palette des in Hollywood akkumulierten Illusions-Know-hows: realistischen Kulissen- und Modellbau, Bewegungsplattformen, elektronische Steuerung und Automatisierung, technische Kontrolle visueller und akustischer Sensationen. Wie die ästhetischen Verfahren entnahm Disney auch die Themen und Motive des Parks seinen erfolgreichsten Filmproduktionen.
Geschichten und Erzählräume zweidimensionaler Filme wurden in der Dreidimensionalität rekonstruiert und in Bewegungsattraktionen von Vergnügungsparks verwandelt.
Erkki Huhtamo
Utopische Konzepte
Drittens schließlich entwickelten sich – wie zu Zeiten des handwerklichen Realismus mit der Utopie des Gesamtkunstwerks – nun auch spekulative Reflexionen auf eine Zeit nach dem farbigen Tonfilm. Zwei Theorien des Films, die kurz nach der Mitte des 20. Jahrhunderts formuliert wurden, indizieren den Übergang von der industriellen zur postindustriellen Sicht des Mediums. Siegfried Kracauer schrieb (in Theory of Film: The Redemption of Physical Reality,1960) den Status quo als Aufgabe fest, die Errettung der äußeren Wirklichkeit zu betreiben. Der Gedanke, die Verpflichtung des Films auf die Dokumentierung von – zudem inszenierter – Wirklichkeit könne wie einst seine Verpflichtung zur Stummheit technischen Mängeln geschuldet sein, lag jenseits von Kracauers Perspektive. Für ihn stellte das Kino seiner Gegenwart eine mehr oder weniger fertige Kunst dar.
Dagegen behauptete André Bazin (in What Is Cinema, 1967) die Sehnsucht nach einem anderen, einem „vollkommenen Kino“ – „the myth of total cinema“ –, das die Wahrnehmung der Realität in ihrer Multisensorik reproduzieren sollte und in dessen Konturen dasselbe Verlangen nach Lebensechtheit aufschien, das damals auch Mort Heilig oder Walt Disney trieb. Summierte Kracauer den historischen Stand, zur Theorie gewendet, so operierten Bazins Gedanken, gerade weil sie utopisch waren, dicht an den Bedürfnissen künstlerischer Praxis. Die meisten Filmkünstler nämlich verlangten, so lange es Kino gab, nach der Befreiung von den Zwängen der materiellen Realität und erstrebten, frei wie Romanciers oder Maler über ihr Material auch über die Inhalte der laufenden Bilder bestimmen zu können.
Die Mittel zu einer solchen souveräneren Filmproduktion ließen sich industriell kaum zur Verfügung stellen. Filmemacher waren es denn auch eher als Filmtheoretiker, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf die sukzessive Ablösung analoger durch digitale Verfahren mit Imagination reagierten, mit utopischen Entwürfen neuer, medial gesteigerter Formen audiovisuellen Erzählens: von Douglas Trumbulls Verlangen nach einem postcinematischen Illusionspunkt „an dem ein Film wie ein Geschehen des wirklichen Lebens erscheint”, über George Lucas’ Hoffnung auf ein biotechnisch induziertes Drogenkino – „Bilder zu erschaffen, ohne sie tatsächlich herzustellen, so, wie man sie in einem Traum erzeugt“ – bis zu Walter Murchs Zukunftsvision eines Cinema of the Mind, einer „einer Blackbox, eines schwarzen Zauberkastens, der die Gedanken einer einzelnen Person unmittelbar in sichtbare cinematische Realität verwandeln könnte.”
Mit der Krise des Industrialismus wuchs so in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Ungenügen an dem prinzipiellen Verfahren der industriellen Medien, Realitätsspuren zu speichern. Nicht anders, als im 18. und 19. Jahrhundert die Effekte des Tonfilms sowohl ersehnt wie herbeigebastelt wurden, kam es nach 1950 zu einer Reihe von technischen und formalen Experimenten sowie utopischen Reflexionen. In ihrer Gesamtheit arbeiteten sie deutlich auf Effekte und Rezeptionserlebnisse hin, wie sie erst digitale Bild- und Tonproduktion leisten konnten, und damit auf eine nach dem handwerklichen Realismus und industriellen Fotorealismus nun dritte Variante der Audiovisualität. Ihr herausragendes Kennzeichen sollte es sein, folgt man dem Telos der audiovisuellen Experimente wie Gedankenspiele, die ästhetischen Qualitäten des Fotorealismus zu bieten, ohne dessen indexikalische Anbindung an Reales noch zu erfordern.