Audiovisionen // Vor und nach dem Kino
Seite 3: Digitalisierung der Töne & Bilder
- Audiovisionen // Vor und nach dem Kino
- Krise des Fotorealismus
- Digitalisierung der Töne & Bilder
- Die Gegenwart der Zukunft // Hyperrealismus
- Resümee & Ausblick
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Die technologische Basis der Digitalisierung wurde um die Mitte des 20. Jahrhunderts gelegt. John von Neumann konzipierte die Virtualisierung der Werkzeuge und Geräte (Programme), Claude Elwood Shannon die der Materialien und Speichermedien (Dateien). Damit war die kategoriale Scheidung von Hard- und Software vollzogen. Erste technische Realisierungen gelangen um 1960 mit der Analog-Digital-Konversion von Tönen und Bildern beziehungsweise deren synthetischer Generierung. Ein weiteres Vierteljahrhundert jedoch verging, bis digitale Hard- und Software leistungsfähig genug war, dass sie vom experimentellen zum regulären Mittel audiovisueller Produktion werden konnte.
Praktiken digitaler Audiovisualität
Im Bereich der Bildherstellung schälten sich zwei grundlegende Verfahrensweisen heraus: einerseits die Konversion analoger Abbilder (scanning) beziehungsweise analoger Realität (capture) als Basis für die nachfolgende arbiträre Manipulation im Medium der Software; andererseits die komplette Neukonstruktion (Computer Aided Design – CAD) und Animation (Computer Generated Imaging – CGI). Diese Generierung knüpfte, wie William Mitchell beschreibt, an Verfahren der frühen Neuzeit an, Spuren des Realen aufzunehmen und Bilder gleich „ohne Kamera eingefangenen Fotografien” herzustellen. Die von Künstlern und Wissenschaftlern der Renaissance erprobten Verfahren gewannen nun neue Bedeutung: „Alberti etablierte eine Allianz zwischen Malerei und Wissenschaft, die bis zum Aufkommen der Fotografie währte; mit der Computergrafik wurde sie neu belebt. Anfang der 1960er Jahre hatten Pioniere der Computergrafik (insbesondere Steven A. Coons und Larry G. Roberts) eine Version des Algorithmus zur perspektivischen Konstruktion entwickelt, die vom Computer kalkuliert werden konnte ... ein Ereignis, das auf seine Art nicht weniger bedeutend war als Brunelleschis Demonstration der Perspektivtechnik.”
Die erste Variante digitaler Visualität dominierte, als sie aus den Forschungslaboren in die Filmstudios drang, zunächst in der Realfilm-Produktion. Die zweite Variante kam dagegen in der Herstellung von digitalen Spielen und Trickfilmen zum Einsatz, bis CAD und CGI sich um die Mitte der neunziger Jahre – nach Jurassic Park (1993) – fotorealistischer Qualität annäherten. Diese Spaltung und spätere Verschmelzung der Digitalisierung von Real- und Trickfilm wird besonders deutlich am Beispiel von Pixar. Mitte der achtziger Jahre von George Lucas an Steve Jobs verkauft, weil ILM wenig Interesse an der Entwicklung nicht-fotorealistischer Animation hatte, ermöglichte das von Pixar weiterentwickelte Programm Renderman dann Anfang der neunziger Jahre ILM die Erschaffung des Terminator 2 und der Jurassic-Park-Dinosaurier in fotorealistischer Qualität und wurde seitdem in der Produktion einer Vielzahl von Realfilmen eingesetzt. Seit der Wende zum 21. Jahrhundert finden denn auch generell beide Varianten digitaler Bildherstellung in allen Bereichen der A/V-Produktion Verwendung.
Mediale und kulturelle Konsequenzen
Deren Resultat sind so Szenen, die nicht länger Resultat analog-maschineller Reproduktion in Hardware-Medien sind, sondern sich arbiträrer Konstruktion im Medium digitaler Software verdanken. Wer in ihm heute arbeitet, dem stellt sich treuliche Reproduktion als lediglich eine Option unter anderen dar – im Falle der Konversion als eine von vielen Filterungen, im Falle der Generierung als eine unter unzähligen Gestaltungsmöglichkeiten. Digitale Audiovisionen entbehren so jenseits der Frage, wie im einzelnen Fall ge- und bearbeitet wurde, indexikalischer Authentizität prinzipiell. Solch Realismus, der die Anmutung fotografischer Reproduktion erzeugt, freilich nicht mehr das Ergebnis eines automatisierten Abdrucks von Realität ist, sondern subjektiver Schöpfung entspringt, heißt, seit er in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ästhetisch entworfen und zuerst mit malerischen Mitteln realisiert wurde, Hyperrealismus.
Das Verlangen nach ihm, nach Audiovisionen, die an die Speicherung realer Ereignisse und Handlungen nicht mehr gefesselt sind, lässt sich – nicht anders als der Übergang von der (audio-)visuellen Imitation mit handwerklichen Mitteln zur Reproduktion mit industriellen Mitteln – auf einen nachhaltigen Wandel ästhetischer Ansprüche und künstlerischer Ziele zurückführen. Der soziokulturellen Erfahrung der Industrialisierung begegnete die Kunstproduktion einst mit automatisierter Reproduktion von Bildern und Tönen, indem also die zentrale Innovation industrieller Technologie, die Möglichkeit zur von künstlicher Energie getriebenen Hardware-Automatisierung, ästhetischen Zwecken adaptiert wurde. Gegenwärtig nun vollzieht sich das digitale Komplement:
Mit der virtuellen Konstruktion von Bildern und Tönen adaptiert sich die audiovisuelle Produktion der zentralen Innovation digitaler Technologie: der Virtualisierung, das heißt der Ersetzung von Hard- durch Software. Auch diese Modernisierungsleistung wird wesentlich von einem Wandel ästhetischer Interessen getrieben. Hinter ihm steht die historisch neue Erfahrung der Befähigung zu virtuellem Handeln im Datenraum und speziell der wertschöpfenden Manipulation von Bits statt Atomen sowie des aus ihr folgenden Aufstiegs einer neuen sozialen Schicht digitaler Wissensarbeiter.
Mit der Digitalisierung entstand so in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neues A/V-Medium, vergleichbar dem mechanischen Medium Theater / Guckkastenbühne und dem industriellen Medium Kino / Film: digitale Software. Sie freilich ist ein universelles Medium, das eine Vielzahl analoger Künste in sich zu bergen vermag. Für die Spielarten analoger Visualität und Audiovisualität bedeutet Digitalisierung daher ihre transmediale Aufhebung unter dem Vorzeichen einer Ermächtigung zu arbiträrer Konstruktion, wie sie zuvor die Malerei kennzeichnete: „Film wird ein besonderer Zweig der Malerei – Malerei in der Zeit“, schreibt Lev Manovich (in The Language of New Media, 2000): „Nicht länger ein Kino-Auge, sondern ein Kino-Pinsel.“