Aufmerksamkeit, Krieg und Frieden

Notizen zu Terror und Terrorismus - Teil 1

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Seit dem 11. September ist viel passiert, das scheinbar zusammenhängt: die vermeintlich rasche Niederlage der Taliban und der Al Quaida in Afghanistan, neue Terrorakte in Pakistan, die mit Veränderungen der Loyalitäten dieser Regierung und erhöhten Spannungen an der Grenze zu Indien zusammenfielen, eine neue gemeinsame Ausrichtung Russlands und der USA, intensivierte Kämpfe zwischen Israel und Palästina. Diesen islamischen Terrorismus und die Reaktionen darauf durchzieht ein roter Faden. Ist schon genug Zeit vergangen, um über die allgemeinen Grundmechanismen nachdenken zu können? Ich habe die folgenden Notizen kurz nach den Angriffen begonnen, in dem Versuch sie zu verstehen, aber es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich in Richtung von etwas wie Klarheit bewegte.

Der Anfangspunkt ist nicht der Terrorismus, sondern ganz einfach Terror. Physische Gewalt gegenüber Personen kann auf zwei Arten angewendet werden. Im weniger häufigen Fall führt die direkte Anwendung von Gewalt zu einem physischen Endpunkt: jemanden aus dem Weg stoßen, einen feindlichen Bomber abschießen, bevor er einen selbst abschießen kann, jemanden erschießen, um sein Geld zu rauben, usw. Weit häufiger ist jedoch die Anwendung von Gewalt um andere einzuschüchtern und zum Nachgeben zu bewegen - in anderen Worten Terror.

Dieser psychologische Effekt ist wirksam, wenn man ein Kind schlägt, wenn man einen bewaffneten Sicherheitsbeamten vor einem Geschäft postiert, wenn ein Räuber Geld fordert während er dem Opfer ein Messer an die Kehle hält, wenn ein Ritter zu Pferd einen Feind mit erhobener Lanze angreift, wenn die USA die Atombombe über Hiroshima abwerfen, oder wenn tausende Raketen mit Nuklearsprengköpfen zum Abschuss bereit stehen - all das sind Möglichkeiten, den Gegner zu terrorisieren. Sie alle sind auf Waffen oder deren Gebrauch angewiesen, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und in den beiden letzten Fällen fließt die Aufmerksamkeit normalerweise durch Medien verschiedenster Art. Ebenso kann eine Partei, die an der Macht ist, die Opposition ruhig stellen, indem sie wissen lässt, dass sogar milde Gegner eingesperrt, gefoltert, getötet werden, so dass man auf der Hut sein muss, was man sagt oder sogar denkt. Das funktioniert allerdings nur, solange die Partei ihre Entschlossenheit zeigen kann, was oft durch öffentliche Zurschaustellung von Stärke geschieht, verbunden mit öffentlichen Anschuldigungen, Festnahmen und Schauprozessen.

Je größer die Aufmerksamkeit der Medien, desto effektiver ist in der Regel der Terror. Die meisten von uns haben nie militärische Waffen, schon gar nicht nukleare, in tatsächlichem Einsatz gesehen. Die Information über und die Angst vor ihnen entsteht zur Gänze durch die Medien. Da die Allgegenwart der Medien wächst, erhöht die clevere Nutzung solcher Waffen als Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen, ihre Effektivität, in manchen Fällen sogar obwohl nur eine Handvoll von Wissenschaftlern, oder nicht einmal sie, je Zeugen eines wirklichen Einsatzes dieser Waffe waren. Was Neutronenbomben anrichten, wissen wir nur aus den Beschreibungen der Medien, die wiederum auf erfinderischen Extrapolationen basieren, da sie nie in einer Situation getestet wurden, die auch nur annähernd ihrer intendierten Nutzung entspricht. Oder beispielsweise die Gefahr von Pocken als Waffe, die uns jetzt in den USA in Schrecken versetzt. Wir haben keine Beweise, dass sie je als Waffe eingesetzt wurden oder dass Virusbestände für diese Zwecke verfügbar wären. Trotzdem sind wir besorgt genug um darauf zu bestehen, dass im Voraus umfassende Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wie die Produktion und Lagerung eines entsprechenden Vorrats an Pockenimpfstoff für hunderte Millionen Menschen.

Wie der Fall der Pocken zeigt, können diejenigen, die an der Macht sind oder an die Macht wollen, die Angst vor dem destruktiven Potenzial anderer zu ihrem eigenen Vorteil nutzen, indem sie ganz einfach auf diese Gefahr hinweisen. Die implizite Bedrohung liegt darin, dass unser Leben in Gefahr ist, wenn wir die (angeblichen) Verteidigungsmaßnahmen, die sie unterstützen, nicht akzeptieren. Und natürlich kann Angst ein mächtiges Werkzeug sein, um Akzeptanz für die eigenen Ideen zu schaffen, sogar wenn es die Angst vor einem natürlichen Prozess ist, sei es Krebs oder ein Erdbeben. Wieder ist die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Gefahren durch die Medien entscheidend, um eine Wirkung zu erzielen.

Ein ganz spezieller, seltener Fall der Anwendung von Terror ist Terrorismus

Ein Überraschungsangriff, im allgemeinen auf Zivilisten, normalerweise im Dienste einer ausdrücklich politischen Sache, um so eine weit größere Gruppe zu terrorisieren. So funktionieren - neben vielen anderen - der separatistische Terrorismus der IRA in Nordirland oder Großbritannien, der separatistische Terrorismus der Tamilischen Tiger in Sri Lanka, der separatistische Terrorismus der Basken in Spanien, die Baader-Meinhof Gruppe im Deutschland der 70er, die Roten Brigaden zur selben Zeit in Italien, die Bombenanschläge auf Abtreibungskliniken hier in den USA, der zionistische Terrorismus gegen die britischen Besatzer in den 40ern. Heute wird gewöhnlich die Methode benutzt, Bomben im Vorhinein an öffentlichen Plätzen zu deponieren, aber ältere Varianten hielten sich eher an Geiselnahmen, einschließlich der Entführung auch von Flugzeugen, Bussen und Booten. Fast immer ist Publicity ein entscheidender Faktor.

Terrorismus stört bewusst die etablierte Ordnung, und je mehr er den ansonsten ausgeglichen, ruhigen Lebensablauf stört, desto erfolgreicher wird er Reporter und Menschen mit Videokameras etc anziehen. Diese Journalisten wiederum finden nur dann Beachtung, wenn sie nicht über das berichten und das zeigen, was erwartet wird, sondern was schockiert und verstört. Diejenigen, die sich des Terrorismus bedienen, müssen also jene sein, die in der vorherrschenden Ordnung keine Unterstützung für sich finden, und sich daher im allgemeinen nicht in der Lage sehen andere Formen der Macht oder auch andere Formen des Terrors, um an die Macht zu kommen, anzuwenden.

Terrorismus ist daher keine "normale" Kriegsführung. Hätte man die Organisationsstruktur und die militärische Stärke, um einen normalen Krieg zu führen, erschiene Terrorismus als eine relativ bedeutungslose Form des Terrors mit einer nicht annähernd so hohen Wahrscheinlichkeit von Effektivität, und tatsächlich braucht der Grossteil der Terroristen unglaublich lange, um ihre Ziele zu erreichen, wenn es ihnen überhaupt jemals gelingt. Aber man muss hinzufügen, dass heute in den meisten Situationen die Macht, einen normalen Krieg zu führen, normalerweise mit dem extremen Druck einhergeht, sie nicht zu nutzen. Zum Teil auf Grund der "Balance des Schreckens", und zum Teil (dieser Tage oft der weit größere Teil) wegen der Aufmerksamkeit, die ein kriegsähnlicher Akt heute auf die unvermeidlichen unschuldigen Opfer lenken kann - diesen Punkt werde ich später ausführlicher behandeln.

Kommen wir auf den Terrorismus zurück. Um bemerkbar und kontinuierlich zu sein, benötigt er eine recht anspruchsvolle Organisation und ist daher kaum ein Mittel für die völlig Machtlosen. Führer oder Organisatoren müssen über ein bedeutendes Maß an Aufmerksamkeit gebieten können, um Terroristen zu rekrutieren, obwohl diese nötige Aufmerksamkeit für die spezifische Rekrutierung vor der allgemeinen Öffentlichkeit geheim gehalten werden muss.

Wie neu das alles ist, hängt von der exakten Definition ab. Sollte das Gunpowder Komplott gegen das britische Parlament im 17. Jahrhundert Furcht auslösen oder wollte man das Parlament so nur loswerden? Waren die Anarchisten und die linksgerichteten Bombenattentäter im 19. Jahrhundert Terroristen oder Mörder? (Es ist nicht die empfundene Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Taten, die mich hier interessiert, sondern eher ein Weg darüber nachzudenken, was sie erreichen wollten). Vor allem nach dem 11. September ist es offensichtlich, dass die Mittel einen Terrorakt auszuführen, der gewaltige Aufmerksamkeit erregt, jetzt viel größer sind als je zuvor. Zum einen bieten moderne Technologien wie Flugreisen, obwohl für völlig andere Zwecke gedacht, Möglichkeiten für spektakuläre Taten. Zum anderen liefern die globalen Medien ein riesiges Publikum für die schrecklichen Ergebnisse.

Wenn der Terrorismus davon abhängig ist, Aufmerksamkeit zu erhalten, ist Al Quaida dann terroristisch? Vor dem 11. September zielten ihre erfolgreichen Unternehmungen, meist Bombenanschläge, hauptsächlich auf US Militäreinrichtungen oder US Botschaften, wenn auch mit umfassenden "Begleitschäden", als die US Botschaften in Kenia und Tansania getroffen wurden. Außerdem hat sich Al Quaida, anders als die meisten terroristischen Gruppen, nie zu den Anschlägen bekannt oder ihre Ziele direkt erkennen lassen.

Die Anschläge des 11. September sind also eine Abweichung von der Al Quaida-Norm, insofern als die überwiegende Mehrheit der Opfer vorhersehbar Zivilisten ohne Verbindung zur Regierung waren, die Zahl der Toten weit höher war als je zuvor, und weder Bomben noch Gewehre benutzt wurden. Anscheinend war es auch der erste erfolgreiche Anschlag innerhalb der USA. Das Ziel des Angriffes ist also völlig unklar. Wäre es sogar möglich, dass die Intention nicht Terror war sondern beispielsweise nur die physische Zerstörung von Wall Street? War es die Absicht, einen Ansturm auf die Banken auslösen oder sollte sich jemand bereichern können, der vorher Leerverkäufe tätigte? War es eine harte Form der Architekturkritik? (Mohammed Atta, der maßgebliche Entführer hat Stadtplanung studiert). Wären die Gebäude getroffen worden, hätten sie nicht den Namen "World Trade Center" getragen? (Tatsächlich waren sie natürlich nicht das Zentrum des Welthandels, sondern nur große, relativ günstige Büros für die Wall Street, die von Firmen aus verschiedenen Bereichen des Finanz- und Versicherungswesens genutzt wurden, die sich hauptsächlich auf die heimische US Ökonomie konzentrierten und nicht unbedingt auf den Welthandel oder das globale Finanzwesen).

Was auch immer die Absicht hinter den Angriffen war, sie haben eindeutig weit verbreitete Angst ausgelöst und das als Folge einer sogar noch umfassenderen Beachtung. Haben die Terroristen vorhergesehen, dass die Medienpräsenz in Manhattan sicherstellen würde, dass der Einschlag des zweiten Flugzeuges in den zweiten Turm live gesendet wird, dass wahrscheinlich Millionen Menschen vor ihren Fernsehmonitoren Zeugen der Zerstörung der Türme sein werden? War es das Ziel, so viele Menschen zu töten, um sicherzustellen, dass die Angst noch größer ist?

Ein Grund, warum dieser Angriff Al Quaida zugeschrieben wurde, war ironischerweise der, dass sich damals niemand dazu bekannte! Ist das der Beweis dafür, dass sie dahinter standen? Tatsächlich hat Al Quaida sich bis heute nicht dazu bekannt und sogar die Kassetten, die in Afghanistan gefunden wurden und auf denen Bin Laden anscheinend die Verantwortung übernimmt, liefern keine echte Begründung. Doch sogar ohne ein Kommentar von Al Quaida beschlossen die Medien und Regierungen weltweit rasch, wer der Urheber der Taten sei, was in manchen Kreisen die Verehrung, in anderen den Ekel noch steigerte, Bin Laden recht war und Al Quaida zweifellos neue Freiwillige und Geld für ihre Kasse brachte. (Man erinnere sich an den Verkauf von Bin Laden T-Shirts in Pakistan und anderswo).

Wenn es weiterhin Terrorismus einer bestimmten Größenordnung gibt, werden wir uns dann daran gewöhnen? Erscheinen die Toten, die in letzter Zeit bei Anschlägen in Israel jedes Mal ums Leben kamen, im Lichte der Tausenden, die am 11. September starben, als weniger wichtig? Oder ist unsere Aufmerksamkeit, zumindest hier in den USA, seit jenem Tag tatsächlich so auf den Terrorismus eingestimmt, dass diese kleine Zahl uns mehr erschüttert als früher?

Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Pichler

Teil 2: Selbstmordattentäter verschiedenster Gruppen

Teil 3: Konsequenzen