Ausstieg aus dem unechten Leben

Manchmal hilft nur eine Katastrophe - wie in Douglas Couplands neuem Roman "Miss Wyoming"

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Manchmal hilft nur eine Katastrophe, um endlich ein neues Leben beginnen zu können. Wie durch ein Wunder überlebt Susan Colgate, die Hauptfigur von Douglas Couplands neuem Roman "Miss Wyoming", als Einzige einen Flugzeugabsturz. Immer noch an ihren Sessel geschnallt, der sich plötzlich inmitten eines von Maschinen- und Körperteilen übersäten Feldes in Seneca, Ohio, befindet, macht sie sich wie eine Schlafwandlerin auf den Weg. Mit geschärften Sinnen, aber völlig unbeteiligt an der sie umgebenden Szenerie, wandelt sie durch das surreal anmutende Katastrophengebiet.

The bodies around her seemed as though they'd been flocked onto the plane's hull and onto the gashed sorghum field from a spray can. A clump of unheated foil-wrapped dinners covered a stewardess's legs. Luggage had burst like firecrackers and was mixed with dirt and roots and dandelion, while cans of pop and bottles of Courvoisier were sprinkled like dropped marbles.

Douglas Coupland: Miss Wyoming. London 2000, S. 17

Technische Katastrophen, insbesondere Flugzeugabstürze und Autounfälle, haben ihren festen Platz in der Kunst der angelsächsischen Post-/Moderne. Mit Vorliebe gestaltete Andy Warhol, dessen erklärter Fan Douglas Coupland ist, Fotoserien von Unfällen, J.G. Ballard schrieb mit Crash den definitiven Roman über die moderne Lust an splitterndem Glas und zerbeultem Metall. Das Geschehen von Don DeLillos Klassiker Weißes Rauschen steht ganz im Zeichen großer und kleiner Katastrophen, die von den Figuren allerdings erst im Moment ihrer sprachlichen oder televisuellen Medialisierung überhaupt wahrnehmbar werden. Und vor zwei Jahren beschrieb Bret Easton Ellis in Glamorama Bombenattentate und Flugzeugabstürze als reine Oberflächenphämonene.

Was alle diese Versuche über die Katastrophe eint, ist ihr Mangel an Emphase, ihre Konzentration aufs Visuelle und die Erkenntnis, dass die technischen Zusammenbrüche das System, das sie hervorbringt, längst nicht mehr in Frage stellen. Der Unfall erscheint nicht mehr als Einschnitt, sondern als besonders spektakulärer visueller Effekt. Auch in der Theorie hat sich der gewandelte Katastrophenbegriff der Moderne niedergeschlagen, am prägnantesten in einer der Zentralparkthesen Walter Benjamins:

Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es >so weiter< geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. [...] Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.

Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. I, 2. Frankfurt/M. 1980, S. 683

Benjamin versteht die Katastrophe nicht mehr als singuläres Ereignis mit utopischem Potenzial, sondern als einen permanenten Zustand, der fortlaufend Katastrophen hervorbringt, in ihnen fundiert ist. Auch die Schriften Jean Baudrillards gründen auf dieser Vorstellung einer Katastrophe in Permanenz:

Die Katastrophe ist die reinste Form von Ereignis und dabei aber ereignisreicher als das Ereignis. Sie ist das folgenlose Ereignis, das die Welt in der Schwebe hält.

Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien. München 1991, S. 19

Neben der an ihr offenbar werdenden Erkenntnis, dass in unserer von Medien umstellten Welt kaum noch ein Ereignis schockieren oder gar etwas bewegen kann, hat die Katastrophe auch eine ästhetische Funktion, bringt sie doch wie kaum ein anderes Ereignis disparate Objekte an einem Ort zusammen. Gegenstände und Bruchstücke, die aus einer verwüsteten Szenerie hervorragen, sind von einer Aura umgeben, wie sie in der heutigen Zeit vielleicht nur noch Tatorten von besonders spektakulären Morden innewohnt. Die moderne Lust am Unfallort als Collage von auratischen Objekten teilt "Miss Wyoming" mit seinen Vorläufern. Der leicht euphorische Kamerablick, mit dem Ballards Figuren über zerbeulte Karosserien und geborstene Windschutzscheiben gleiten, die halluzinatorische Genauigkeit, mit der Ellis' Erzähler abgesprengte Gliedmaßen von Leibern und Schaufensterpuppen verzeichnet, findet sich auch in der oben zitierten Passage aus "Miss Wyoming". Liebevoll gleitet das Auge des ausgebildeten Grafikdesigners Coupland über die aus ihren gewohnten Zusammenhängen gerissenen Objekte.

Douglas Coupland

Die Kritikerin Jenny Turner nennt in einer Rezension von "Miss Wyoming" Coupland einen "post-Pop visual artist", einen Autor, der vor allem in grafischen Zusammenhängen denkt. Seine Werke sind angefüllt mit Referenzen an die amerikanische Konsum- und Werbelandschaft, die ja vor allem visuell ausgerichtet ist. Couplands größte Kunst ist es Turner zufolge, Sprach-Bilder für seine Handlungsorte, Figuren und Ideen zu finden, die in großer Präzision und mit nur wenigen Worten repräsentieren, wofür andere Autoren ganze Bücher brauchen. Wie Warhol sehe Coupland die Welt als Pop, sei fasziniert von Gebrauchsobjekten, Verpackungen und Abfällen, die die Textur der Alltagswelt ausmachen, ohne von den meisten Menschen wirklich wahrgenommen zu werden. Coupland ist als Autor vor allem der Campbell's-Suppendose seines Vorbilds Warhol verpflichtet, der er in einer für ihn typischen Beschreibung einer Stadt irgendwo im Mittleren Westen seine Referenz erweist, "another American town that bouht Tide, ate Campbell's soup and generated at least one weird, senseless killing per decade".

Auch in dieser Passage offenbart sich wieder die postmoderne Haltung zur Gewalt, die als eng mit der amerikanischen Landschaft verwoben betrachtet wird, eine Touristenattraktion am Straßenrand, die kaum noch wahrgenommen wird. Was "Miss Wyoming" jedoch scheitern lässt, ist eine dieser postmodernen Betrachtungsweise gänzlich entgegenlaufende Handlung, die von einer Sehnsucht nach der "Wirklichkeit" jenseits der Abbilder bestimmt ist.

Was die Wirkung der Flugzeugkatastrophe betrifft, schlägt Coupland einen anderen Weg als seine Vorgänger ein, dient sie ihm doch ganz konventionell als Reinkarnationsmöglichkeit für seine Heldin. Dass Susan Colgate eine etwas abgehalfterte, aber immer noch schöne Fernsehdarstellerin ist, macht Couplands Anliegen noch offensichtlicher. Weg vom falschen Leben der Images und Rollen, hin zu einem ehrlicherem Dasein führt Susans Pfad fern der Öffentlichkeit. Hauptantriebsfeder für diese Flucht ist Susans Mutter, eine monströse Figur, die über den Erfolg der Tochter ihr eigenes Leben aus der völligen Bedeutungslosigkeit erlösen möchte. Ergo besteht Susans gesamte Jugend aus strengen Lektionen im Schminken, Lächeln, Auf-und-ab-gehen, eine nicht enden wollende Abfolge von Schönheitswettbewerben und öffentlichen Auftritten. Krönung dieses für einen anderen gelebten Lebens ist eine kleinere Hauptrolle in einer erfolgreichen TV-Show, die allerdings die fortgesetzten Identitätsprobleme Susan Colgates noch erschwert.

Klar, dass man aus einem solchen "unechten" Leben aussteigen möchte, und so nutzt Susan den Absturz in Ohio, um sich aus dem Staub vor ihrer öffentlichen Persona zu machen. Parallel zu ihren Abenteuern im kameralosen Niemandsland des Mittleren Westens folgt der Roman einer anderen Figur bei einer ähnlichen Reinkarnation. Der Filmproduzent John Johnston hat während einer fast tödlich ausgehenden Grippe eine Vision. Inmitten seiner Fieberhalluzinationen erblickt er Susans Gesicht auf einem Fernsehschirm und hält sie für seinen rettenden Engel. Auch er beschließt, fortan ein Leben fern der Images und Illusionen zu führen. Als mittelloser Tramp bricht er auf in Richtung Osten. Anders als Susan scheitert John aber kläglich auf seiner Suche nach wahren Gefühlen und echtem Leben, irgendwo in der Wüste bricht er krank und einsam zusammen. Doch "Miss Wyoming" wäre nicht von Douglas Coupland, wenn die beiden Aussteiger sich am Ende des Buches nicht in die Arme sinken würden.

Douglas Coupland reiht sich mit seinem modernen Märchen nahtlos in eine amerikanische Tradition ein, die besagt, dass der Einzelne sich jederzeit noch einmal komplett neu erfinden kann. Wie der Siedler im klassischen Western, auf die hinter der nächsten Bergkette ein neues Leben wartet, oder wie die 300 Pfund schwere Frau, die in der "Oprah Winfrey Show" den Entschluss fasst, ein gut bezahltes Model zu werden, sind auch Susan Colgate und John Johnston typische Vertreter des amerikanischen Traums. Dieser Glaube an einen ständig möglichen Neubeginn wurzelt im Gründungsmythos der Vereinigten Staaten als "Promised Land" unbegrenzter Möglichkeiten, in dem die sich langsam westwärts verschiebende Grenze eine wichtige Rolle spielt. Mit der Erreichung der Pazifikküste ist der amerikanische Traum längst nicht ausgeträumt, bieten doch der Cyberspace oder die unmarkierten Weiten des Mittleren Westens Raum für weitere Grenz-Fantasien.

Eine der berühmtesten dieser Fantasien ist die Verfilmung von Frank Baums Der Zauberer von Oz, die in den USA regelmäßig kurz vor Weihnachten wiederholt wird und dessen Motive in den unterschiedlichsten künstlerischen Kontexten auftauchen (so z. B. in Thomas Pynchons Gravity's Rainbow, David Lynchs Wild at Heart und in der Musik von De La Soul). Zentral für die andauernde Faszination an diesem Werk ist wohl die schöne Vorstellung, aus dem hintersten Kansas vermittels eines Wirbelsturms in ein Zauberreich gelangen zu können, dass unendliche Möglichkeiten der Selbstverwirklichung bietet. Nicht mehr im Westen liegt die Grenze, sondern im amerikanischen Herzland, dass von Tornados heimgesucht wird, die sowieso schon an trichterförmige Eingänge zu anderen Dimensionen denken lassen. Wenn die junge Dorothy bei ihrer Ankunft in Oz zu ihrem Hund sagt: "Toto, I have a feeling we're not in Kansas anymore...", scheint darin noch einmal eine gar nicht so lange zurückliegende amerikanische Vergangenheit auf, in der die Grenzziehungen der Western Territories eine Angelegenheit von Mutmaßungen war.

Doch es geht auch in die andere Richtung. Zwar liegt Ohio nicht ganz so zentral wie Kansas, aber Susans Absturz lässt sich durchaus als eine Umkehrung von Dorothys Himmelfahrt verstehen (worauf übrigens auch Douglas Couplands sehr schön gestaltete Homepage hinweist, wo der Autor in der "Miss Wyoming" gewidmeten Sektion neben einem vertikal ausgerichteten Flugzeug ein Motiv aus dem "Zauberer von Oz" platziert hat). Die gegenläufige Bewegung steht für eine Rückkehr aus dem illusorischen Wunderland der Medien auf den Boden der Realität. Zu ihrer Vollendung bedarf es allerdings einer alle medialen Schleier beiseite raffenden Erkennung durch einen anderen Menschen, also einer Romanze, die ganz konventionell am Ende auf John und Susan wartet.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, der Roman sei am Reißbrett entstanden, so statisch wirken trotz aller Hektik die Figuren und so vorhersehbar ist die auf ihr kitschiges Ende zustrebende Handlung. "Miss Wyoming" wirkt wie ein Produkt der Image-Industrie, der er doch eigentlich entkommen möchte, die Figuren wirken wie Soap-Opera-Charaktere, die sich trotz wildester Umschwünge und Verwicklungen nie wirklich zu verändern scheinen. In früheren Werken wie Generation X und Microsklaven zeigte Coupland noch die negative, zwanghafte Kehrseite des Traums ständiger Erneuerung, erwies er sich in diesen Romanen doch eher als Alptraum von kurzfristigen "McJobs". In "Miss Wyoming" hingegen ist von soziologischen oder historischen Reibungspunkten nichts mehr zu spüren.

Douglas Coupland: "Miss Wyoming", Flamingo, 311 Seiten, £ 5.99

Die deutsche Ausgabe erscheint am 16.3. bei Hoffmann und Campe, ca. 352 Seiten, ca. 39,90 Mark