"Befehl und Gehorsam sind keine demokratischen Werte"

Menschenpyramide

(Bild: Artology Namaha/Shutterstock.com )

Es braucht mehr funktionierende öffentliche Diskurse, meint die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja. Über Auswirkungen der Militarisierung. Ein Telepolis-Interview.

Deutschland wird seit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine 2022 verstärkt militarisiert. Bundeskanzler Scholz rief am 27. Februar 2022 eine "Zeitenwende" aus, der Bundestag beschloss ein 100 Milliarden-Euro-Sondervermögen Bundeswehr und die Erhöhung des Rüstungsetats auf mindestens zwei Prozent des BIP.

Dagegen regt sich Protest, wie am kommenden 3. Oktober bei der Friedensdemonstration "Nein zu Kriegen!" in Berlin. Zahlreiche Wissenschaftler unterstützen den Aufruf – ein Anlass, wissenschaftliche Perspektiven auf die Militarisierung zu beleuchten.

▶ Frau Mayer-Ahuja, was bewegt Sie dazu, sich am Aufruf am 3. Oktober zu beteiligen?

Nicole Mayer-Ahuja: Als politischer Mensch bin ich sehr besorgt, dass Krieg wieder als legitimes Mittel der Konfliktführung gilt. Nach zwei verheerenden Weltkriegen sollte man weiter sein. Derzeit fallen wir noch hinter Standards des Kalten Kriegs zurück: keine Gespräche, keine Abkommen. Ehemalige Generäle sagen, dass man keinen Krieg führen darf, ohne zu wissen, wie man ihn beendet. Momentan passiert genau das. Und als historisch arbeitende Soziologin weiß ich, dass Krieg niemals im Interesse von arbeitenden Menschen ist. Regierungen ringen um Macht und geopolitischen Einfluss. An der Front sterben die "kleinen Leute", auf beiden Seiten.

Rollback für die Anerkennung systemrelevanter Berufe

▶ Die Eskalation im russisch-ukrainischen Krieg 2022 brachte, so scheint es zumindest, Anläufe zur Aufwertung "systemrelevanter" Berufe zum Erliegen. Bringt die sogenannte "Zeitenwende" einen sozialpolitischen Rollback?

Portrait von Nicole Mayer-Ahuja
Unsere Gesprächspartnerin Nicole Mayer-Ahuja
(Bild: Klaus-Peter Wittemann)

Nicole Mayer-Ahuja: In und nach der Pandemie waren zwei Dinge unstrittig. Erstens: Man braucht funktionierende öffentliche Dienste, etwa ein gut ausgestattetes staatliches Gesundheitswesen. Dann kam der Krieg in der Ukraine. Jetzt soll die Schuldenbremse unbedingt bleiben – und die betrifft den regulären Bundeshaushalt, vor allem Arbeit und Soziales, während 100 Milliarden Sondervermögen in die Rüstung fließen. Zweitens war klar: Beschäftigte in Pflege, Gebäudereinigung, Einzelhandel sind systemrelevant, weil ohne sie weder Wirtschaft noch Gesellschaft funktionieren. Weil sie leider meist für wenig Geld, mit unsicheren Verträgen und wenig beruflichen Perspektiven arbeiten, hieß die Forderung: Aufwertung! Auch davon ist angesichts vermeintlich leerer öffentlicher Kassen kaum noch die Rede. Stattdessen gilt die Devise: Aufrüstung statt Aufwertung!

▶ Zurzeit wird über eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht debattiert. Könnte das negative Auswirkungen auf die Verhandlungsposition der Lohnabhängigen haben? Verschiebt sich durch eine Militarisierung nicht der gesellschaftliche Gütemaßstab für "Leistungsträger"?

Nicole Mayer-Ahuja: Die Wehrpflicht würde den "Fachkräftemangel" in vielen Branchen verschärfen. Die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft ist keine gute Nachricht für abhängig Beschäftigte. Wer seine Arbeitskraft verkaufen muss, um den Lebensunterhalt zu sichern, ist ohnehin in hohem Maße zu Freiheitsverzicht gezwungen: Ein Betrieb ist kein Parlament, da zählt bei Entscheidungen nicht die große Zahl, sondern das Direktionsrecht. Bei Arbeit im Militär ist dies besonders ausgeprägt: Befehl und Gehorsam sind keine demokratischen Werte – und je mehr Menschen, etwa per Wehrpflicht, durch diese Schule gehen, desto schwieriger wird Demokratisierung in anderen Teilen der Arbeitswelt. Schon die Diskussion über "systemrelevante" Berufe hatte problematische Züge: Die Aussetzung der Höchstarbeitszeit, vor allem aber Forderungen, das Kündigungs- und Streikrecht zu schleifen, erinnern stark an die "unfreie Arbeit", zu der Menschen im Krieg gezwungen werden.

Hindernis für Zusammenarbeit von Lohnabhängigen

▶ Kriege erschweren die transnationale Zusammenarbeit von Lohnabhängigen, beispielsweise in einer global verketteten Branche. Wo macht sich das bemerkbar? Und an welchen Stellen könnte friedenspolitisches Engagement Auftrieb für transnationale Solidarität geben?

Nicole Mayer-Ahuja: Mehr noch als "Standortkonkurrenz" im Rahmen transnationaler Produktion untergraben Kriege die Solidarität zwischen Arbeitenden. Schuld an der existentiellen Gefahr scheinen zunächst nicht Regierungen oder Unternehmen zu haben, sondern die, die einem an der Front oder am anderen Standort gegenüberstehen: die oder wir, lautet dann oft die Losung. Dringend notwendig wäre, dass Arbeitende und ihre Gewerkschaften die Beteiligung an kriegerischen Zeitenwenden verweigern – weil sie es sind, die in den Schlachten fallen und für deren Bildung, Wohnung oder soziale Absicherung kein Geld da ist, wenn Rüstungsprofite subventioniert werden. Außerdem untergräbt die Legitimierung von immer barbarischeren Formen der Kriegführung, die gerade auch die Zivilbevölkerung trifft, die Solidarität unter Arbeitenden noch weiter. Die Forderung nach internationaler Solidarität ist schwer zu erfüllen, aber ohne Alternative – in Wirtschaftskriegen wie militärischen Konflikten. Im Interesse der Arbeitenden muss es heißen: Die Waffen nieder!

▶ Der Aufruf für die Demonstration am 3. Oktober fordert mehr Investitionen in Infrastruktur und Sozialstaat. Welche arbeitspolitischen Maßnahmen könnten solche Investitionen flankieren, um die Verhandlungsposition der "wahren Leistungsträger" zu verbessern?

Nicole Mayer-Ahuja: Nehmen wir das Gesundheitswesen: Die Personalnot wird nicht enden, solange Löhne und vor allem Arbeitsbedingungen nicht verbessert werden. Selbst qualifizierte Fachkräfte fliehen, weil sie den Druck nicht mehr aushalten. Das Gesundheitswesen wurde jahrelang ausgehungert. Mobilisieren wir stattdessen jetzt Mittel für Gesundheit, die Sanierung einstürzender Brücken, die Unterstützung von Kindern und von Erwachsenen, die keine Arbeit haben oder von Niedriglöhnen kaum leben können! Geld ist offenkundig genug da. Friedenspolitik heißt: Nicht in Tod und Zerstörung investieren, sondern in das gute Leben, in gute Arbeit. "Nie wieder Krieg!" forderte das Plakat von Käthe Kollwitz 1924. Nie wieder ist jetzt!

Benjamin Roth sprach mit Nicole Mayer-Ahuja. Sie ist Professorin für Soziologie mit den Schwerpunkten Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Zuletzt erschien ihr Buch "Power at Work. A Global Perspective on Work and Resistance" mit Marcel van der Linden bei de Gruyter.