Besser erst nach der Bundestagswahl: Debatte um Rente ab 68
Neoliberale Ökonomen wollen "Rente mit 67" überwinden und eine längere Lebensarbeitszeit. Ansonsten stehe der Kollaps des Rentensystems bevor. Schlechtes Timing für die CDU
Das war Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) doch zu brenzlig: Wenige Monate vor der Bundestagswahl empfiehlt ein Expertengremium seinem Ministerium, die Menschen in Deutschland sollten länger arbeiten, bevor sie in Rente gehen können. Nach Bekanntwerden des Vorschlags wiegelte Altmaier schnell ab und betonte, es stehe nicht auf der Tagesordnung, das Renteneintrittsalter auf 68 Jahre anzuheben.
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hat in einem Gutachten vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter bis 2042 auf 68 anzuheben. Das 39-köpfige Beratergremium begründet das damit, es drohten "schockartig steigende Finanzierungsprobleme in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025". Die Wissenschaftler empfehlen nun eine "dynamische Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung". Das heißt: Steigt diese, so muss länger gearbeitet werden; sinkt sie stattdessen, so kann auch das Rentenalter sinken.
"Der asoziale Oberhammer"
Bei Sozialdemokraten, Linken und Gewerkschaften kam der Vorstoß gar nicht gut an. "Das ist der asoziale Oberhammer", schimpfte die Ko-Vorsitzende der Partei Die Linke, Susanne Henning-Wellsow. Altmaier müsse das Gutachten sofort kassieren. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) erklärte, er halte den Vorschlag der Experten für den falschen Weg. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich erklärte, seine Partei gehe bei dem Vorschlag nicht mit. Die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Elke Hannack, machte deutlich: Schon die Erhöhung des Eintrittsalters auf 67 Jahre habe sich als Rentenkürzungsprogramm erwiesen.
So kurz vor der Wahl will sich auch die Union nicht zu dem Vorschlag bekennen. "Wir arbeiten jetzt erst mal daran, dass die Rente mit 67 auch entsprechend umgesetzt wird", erklärte Ralph Brinkhaus, CDU-Fraktionschef. Man müsse sich darum bemühen, dass ältere Menschen überhaupt die Kraft haben, entsprechend arbeiten zu können. Und selbst CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt beteuerte, ein späteres Renteneintrittsalter abzulehnen.
Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hatte im Auftrag der neoliberalen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) die Entwicklung bei den Renten durchgerechnet. Die Studie wurde am Montag veröffentlicht. Darin warnt das Institut: "Die Babyboomer-Generation könnte die Rentenversicherung in die Knie zwingen: Bis 2060 steigt der Beitragssatz ohne Reform auf 23,6 Prozent". Und die Summe aller Steuerzuschüsse würde im selben Zeitraum um das Vierfache steigen.
In einer gesonderten Studie analysiert das IW die Wahlprogramme von Bündnis 90/ Die Grünen, SPD, Die Linke und der FDP. Weshalb die Programme von CDU/CSU und AfD nicht analysiert wurden, wird nicht dargelegt. Die erheblichen Schnittmengen zwischen den Rentenkonzepten von FDP und AfD lassen aber eine gesonderte Analyse der AfD-Positionen unnötig erscheinen. Das Urteil des IW war zu erwarten: Außer die FDP fielen alle Parteien in der Bewertung durch:
Die Grünen und die SPD wollen das Rentenniveau langfristig bei 48 Prozent sichern. Das käme Beitragszahler teuer zu stehen - der Beitragssatz müsste demnach auf mehr als 25 Prozent ansteigen. Die Linke fordert sogar ein Niveau von 53 Prozent, was die Beiträge noch weiter nach oben treiben würde.
Das IW spricht sich in der Studie dafür aus, die Menschen länger arbeiten zu lassen und den sogenannten Nachholfaktor wieder einzuführen. Dieser bewirkt, dass die Renten nicht so schnell steigen. Sinken zum Beispiel in einer Krise die Löhne, müssten entsprechend auch die Renten gekürzt werden. Durch die sogenannte Rentengarantie sinken die Renten aber nicht entsprechend mit. Steigen dann die Löhne nach der Krise wieder auf das alte Niveau, gilt das als Lohnerhöhung - und die Renten steigen. Der Nachholeffekt soll erst dafür sorgen, dass die nicht vorgenommene Rentensenkung ausgeglichen wird.
Handle die Bundesregierung nicht entsprechend, dann könne es für künftige Regierungen teuer werden, ist eine Kernaussage der IW-Studie. Im Jahr 2019 hätten sich alle Zuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung aus Steuermitteln auf 72,3 Milliarden Euro summiert. Ende des Jahrzehnts könnten es schon 104 Milliarden Euro pro Jahr sein, im Jahr 2060 sogar 310 Milliarden Euro.
Jeder fünfte Mensch stirbt in Deutschland vor dem 69. Geburtstag
Solche Drohszenarien seien unseriös, erklärte Matthias W. Birkwald, rentenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke im Bundestag. "Im neuen EU-Altersreport vom Mai 2021 steht klipp und klar: Die Rentenausgaben in Deutschland stiegen bis 2045 moderat von zehn auf zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und bis 2070 bleiben sie konstant", sagte er. Das sei EU-Durchschnitt und verkraftbar. Österreich gebe heute schon 13 Prozent für eine sehr gute Rente aus. "Die Rente erst ab 68 hieße für viele 'Arbeiten bis zum Umfallen'", so Birkwald.
Denn jeder fünfte Mensch sterbe hierzulande schon vor seinem 69. Geburtstag. Bei Geringverdienern sehe es noch schlimmer aus. Die Rückkehr zu Rente mit 65 sei möglich, und dadurch würde der steuerfinanzierte Bundeszuschuss um gut eine Milliarde Euro steigen. "Dazu müsste nur die für das kommende Jahr geplante Erhöhung des Verteidigungshaushalts um 2,4 Milliarden Euro gestrichen werden."