Trickle-Down-Effekt: Zombie der Wirtschaftspolitik

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Seit Jahrzehnten geistert die Idee durch die Politik: Steuergeschenke für Reiche sollen allen nutzen. Das belegen Fakten aber nicht. Warum hält sich dieser tote Glaube so hartnäckig?

Deutschland ist im Wahlkampf. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat in Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung die Wahlprogramme der größeren Parteien untersucht. Die Ergebnisse (siehe auch hier) wurden vor wenigen Tagen hier auf Telepolis kommentiert.

Die Programme von AfD, FDP und CDU führen zu einer Vergrößerung der Ungleichheit, indem sie insbesondere Vermögenden Steuererleichterungen verschaffen. Die unausgesprochene wirtschaftspolitische Überzeugung dahinter: der Trickle-Down-Effekt.

"Wachstum ist eine Flut, die alle Boote anhebt"

Das Geld, das durch die beschlossenen Steuererleichterungen eingespart würde, fände durch zusätzliche Investitionen seinen Weg in den Wirtschaftskreislauf und diese Investitionen führten zu einem Wirtschaftswachstum, schafften neue Arbeitsplätze, kämen also der Gemeinschaft und nicht zuletzt den arbeitslosen Menschen zu Gute.

"Wachstum ist eine Flut, die alle Boote anhebt", formulierte der Wirtschaftswissenschaftler Robert Solow 1956. Das ist ein durchaus poetisches Bild. Hat es aber etwas mit der Wirklichkeit zu tun oder ist es bloß graue Theorie?

Keine Flut. Nirgends.

Paul Krugman, Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften, nahm in dieser Frage eine klare Position ein:

Wir warten auf diesen Trickle-down-Effekt nun seit 30 Jahren – vergeblich.

Im Jahr 2012 bezweifelte er, dass "an der sogenannten Trickle-Down-Theorie (…) zumindest ein Quäntchen Wahrheit" dran wäre. Sein Kollege Joseph Stiglitz pflichtete ihm in seinem Buch "Der Preis der Ungleichheit" bei:

"Was Amerika in den letzten Jahren erlebte, ist genau das Gegenteil dessen, was die Trickle-down-Theorie behauptet: Die Vermögenszuwächse der Reichen gingen auf Kosten der Armen."

Und was sagen die Zahlen?

Der US-Präsident Ronald Reagan, der als Erster die Trickle-Down-Theorie in die Praxis einbrachte und seine Steuerpolitik entsprechend reichenfreundlich gestaltete, war überzeugt, die Anreizeffekte seiner Steuersenkungen würden sogar zu einer Steigerung der Steuereinnahmen führen.

Aber das Einzige, was stieg, war das Haushaltsdefizit. Im Hinblick auf die Effekte von Steuererleichterungen für Vermögende in Deutschland schrieb die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann:

"Zwischen 2000 und 2010 sind die Reallöhne im Mittel um 4,2 Prozent gefallen, obwohl die deutsche Wirtschaft zeitgleich um 14 Prozent gewachsen ist."

Ebenso wenig Erfolg hatte das Steuerspargeschenk von 1,5 Billionen US-Dollar, das US-Präsident Donald Trump im Jahr 2017 den reichsten Menschen machte.

Die Steuerreform führte keineswegs zu einer Zunahme der Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen. Oder aktuell in Griechenland. Die Wirtschaft boomt wieder, aber viele Menschen werden noch ärmer. Nein, es tropft nicht nach unten.

Studienlage

Bereits im Jahr 2012 stellte ein unabhängiger Bericht des US-Congressional Research Services, der auf Druck der Republikaner zurückgezogen wurde, den Trickle-down-Effekt in Frage.

Ein weiterer Beleg: Eine Studie von David Hope von der London School of Economics und Julian Limberg vom King’s College London, hat 18 Länder – von Australien bis zu den Vereinigten Staaten – über den Zeitraum von 1965 bis 2015 untersucht.

Das Ergebnis: Steuererleichterungen für Reiche, die ganz im Sinne der Trickle-Down-Theorie umgesetzt wurden, hatten keinen Einfluss auf das Bruttoinlandsprodukt und die Arbeitslosigkeit.

Der Mitautor Julian Limberg:

Auf Grundlage auf unserer Forschung würden wir argumentieren, dass die wirtschaftliche Begründung für niedrige Steuern auf Reichtum schwach ist. Wenn wir in der Geschichte zurückschauen, war tatsächlich die Zeit mit den höchsten Steuern für Reiche in der Nachkriegsperiode eine Zeit mit hohem wirtschaftlichem Wachstum und niedriger Arbeitslosigkeit.

Die Diskussion über Sinn und Unsinn für Steuergeschenke an die Reichsten der Gesellschaft dürfte mit "Das Kapital des 21. Jahrhunderts", dem Opus Magnum des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty endgültig beendet sein.

15 Jahre lang analysierte er das Datenmaterial aus 27 Ländern über einen Zeitraum von bis zu drei Jahrhunderten. Sein Ergebnis: Es gibt keinen Trickle-Down-Effekt.

Ebensowenig lässt sich auch ein struktureller Prozess des Kapitalismus nachweisen, der zu einer Verringerung der Ungleichheit führt. Pikettys Werk erschien vor mehr als zehn Jahren.

Abijit V. Banerjee und Esther Duflo, Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften, kommentieren in ihrem Buch "Good Economics for Hard Times":

"Reaganomics", wie die vorherrschende Wirtschaftslehre dieser Zeit genannt wurde, ging ganz offen mit der Tatsache um, dass die Vorteile des Wachstums auf Kosten einer gewissen Ungleichheit gehen würden.

Die Idee war, dass die Reichen zuerst profitieren würden, aber die Armen würden schließlich auch profitieren. Dies ist die berühmte Trickle-Down-Theorie, die nie besser beschrieben wurde als von dem Harvard-Professor John Kenneth Galbraith, der behauptete, dies sei das, was man in den 1890er-Jahren die "Pferd und Spatz"-Theorie nannte:

"Wenn man dem Pferd genug Hafer füttert, wird etwas davon auf die Straße zu den Spatzen gelangen."

Die Überzeugung eines Trickle-Down-Effekts ist auch alles andere als die Mehrheitsüberzeugung unter Wirtschaftswissenschaftlern. Bei einer Umfrage im Jahr 2017, ob die geplante Steuerreform von Donald Trump zu einem Wirtschaftswachstum führen würde, zeigt sich nur ein einziger Wirtschaftswissenschaftler.

Mehr als die Hälfte aller Experten widersprachen dieser Aussage.

Flankiert werden diese Aussagen auch von der Forschung des Internationalen Währungsfonds, dem man kaum marxistische Tendenzen vorwerfen kann. Eine Studie des IWF zeigte, dass ungleiches Einkommen zu einem geringerem Wachstum führt.

Damit korrespondiert ein Bericht der OECD. Das Ergebnis: eine gerechtere Sozialpolitik in Deutschland, die die Ungleichheit reduziert, hätte ein bis zu 6 Prozent höheres Wachstum ermöglicht.

Schöne Theorie ohne Wirklichkeitsbezug

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Zucman fasste den Stand der Forschung zusammen, indem er obigen Spruch von Robert Solow leicht abwandelte, dass die Flut alle Jachten anhebe.

Oder, um es mit den Worten von Elizabeth Warren zu sagen, eine demokratische Präsidentschaftskandidaten im Jahr 2020: "Der Reichtum sickert nicht nach unten. Er tröpfelt nach oben."

Scheinbar hat sich diese Erkenntnis aber noch nicht bei CDU/CSU, FDP und AfD herumgesprochen.

Literatur:

Ha-Joon, Chang: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen
Herrmann, Ulrike: Der Sieg des Kapitals
Stiglitz, Joseph: Der Preis der Ungleichheit
Ther, Philipp: Das andere Ende der Geschichte
Zucman, Gabriel: Der Triumpf der Ungerechtigkeit