Bleiernes Deutschland: Warum politische Illusionen unser Hauptproblem sind
- Bleiernes Deutschland: Warum politische Illusionen unser Hauptproblem sind
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Was treibt die Bundesrepublik an? Wo stehen wir heute? Wohin bewegen wir uns? Ein Realitätscheck, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Ein Leitartikel.
Deutschland galt lange als industrielles und politisches "Powerhouse" in Europa. Man feierte sich dafür, nach dem Nazi-Regime die Demokratie im Land neu erfunden und eine dynamische soziale Marktwirtschaft erschaffen zu haben. Man präsentierte sich zugleich als moderater Akteur auf der Weltbühne, der global für Werte eintritt und Diplomatie den Vorrang gibt.
Die unheilvolle Wendung
"Wohlstand für alle" und "Werte für alle" galten dem wiedervereinigten Deutschland als Leitprinzipien. Sicherlich waren sie niemals wirklich Realität. Weder in der DDR noch in der alten BRD, gegen die aufstrebende Generationen in den 1960er- und 1970er-Jahren bzw. Ende der 1980er-Jahre rebellierten und damit Deutschland zivilisierten.
Ungleichheit und Armut, Ausgrenzung von Minderheiten, Diffamierungen von Kritiker:innen und die Unterstützung von militärischer Gewalt hat es wie in anderen Staaten der Welt in Deutschland also immer gegeben, trotz aller Verbesserungen und positiven Entwicklungen, die von unten erkämpft wurden.
Doch in den letzten zwei, drei Jahrzehnten hat sich die deutsche Politik in eine unheilvolle Richtung gewendet. Damit einher ging ein schleichender gesellschaftlicher Erosionsprozess, während selbst der Anspruch auf sozialen Ausgleich, demokratische Stärkung der Öffentlichkeit und die Förderung einer globalen Frieden- und Wohlstandspolitik mehr und mehr hinter bloßer Rhetorik verschwand. Statt Fortschritt gab es Rückschritte.
Der Mythos vom Jobmotor durch Sozialabbau
Um die Abkehr von allgemeinem Wohlstand und Werten zu kaschieren, wurden dabei Illusionen erzeugt darüber, was die Politik tatsächlich antreibt. Sozialabbau und Austerität, also Sparpolitik (natürlich nicht für die Konzerne und Reichen), versteckte man zum Beispiel hinter wohlklingende Labels wie "Agenda 2010" oder "Reform".
Damit wurden jedoch nicht, wie versprochen, Millionen Jobs geschaffen und Deutschland wirtschaftlich nach vorn gebracht. Dass die deutsche Wirtschaft einigermaßen über Wasser gehalten werden konnte, lag nicht an Sozialabbau, Lohndruck und "Liberalisierungen". Es war am Ende die wieder anziehende Weltkonjunktur und die anwachsende deutsche Exportmaschine, die Deutschland, wenn auch moderat, wachsen ließen.
Mit den "Reformen" wurde aber durchaus etwas erzielt: Die soziale und ökonomische Ungleichheit im Land verschärfte sich. Es wurde der größte Niedriglohnsektor in Europa erschaffen, die Inlandsnachfrage gedämpft (und eine gefährliche Abhängigkeit von ausländischen Märkten geschaffen) und die Armut ausgeweitet. Die Einkommensschere ging auseinander.
Die Gewinner
Es gab auch Profiteure. Die Unternehmen, Investoren und Wohlhabenden im Land frohlockten. Heute sind in Deutschland die Vermögen so ungleich verteilt wie in fast keinem anderen Land in Europa. Über zwei Billionen Euro verfügt heute das reichste Hundertstel, das obere ein Prozent, nach offiziellen Statistiken.
Doch wahrscheinlich sind es viel mehr. Nach Angaben des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) sind es tatsächlich wohl dreieinhalbmal so viel. Reichtum lässt sich eben in Deutschland schwer erfassen – warum wohl?
Eigentlich sollten die Alarmglocken angehen, wenn die reichsten vier Familien Deutschlands ähnlich viel Vermögen wie die untere Einkommenshälfte besitzt. So entsprechen die 200 Milliarden Euro der unteren Hälfte ungefähr dem Vermögen der Familien Böhringer (70 Milliarden Euro), Schwarz (45 Milliarden), der Geschwister Quandt (50 Milliarden) und von Heister & Albrecht (33 Milliarden). Das höhlt die Demokratie aus und macht sie zur Farce. Denn Geld bedeutet natürlich auch Macht und Einfluss.
Heftpflaster für zerbröselnde Infrastruktur
Viele Bereiche, auf die sich die Menschen im Land verlassen müssen, um in Sicherheit zu leben, wurden kommerzialisiert und "effektiv" gemacht. Der Zustand der Deutschen Bahn, des Gesundheitssystems, der Rente, der Landwirtschaft, der Immobilienmärkte und der Bildungssysteme zeigt, wohin das geführt hat.
Doch Politik und Medien halten weiter den Mythos aufrecht, als ob im Prinzip alles okay ist, nur hier und da ein Heftpflaster aufgeklebt werden muss. Ein wenig mehr Bürgergeld, ein Euro mehr Mindestlohn, der ohnehin oft unterlaufen wird von Unternehmen.
Wer jedoch an die extremen Gehälter und Vermögen, an die Kapitalerträge von Investoren und Unternehmen, ran will (gerne geparkt in Steuersümpfen), wird entweder mit Ignoranz gestraft (siehe Linken-Forderungen im Bundestag) oder mit ökonomischen Untergangsszenarien überschüttet.
Wenn Steuerfahnder das Handtuch schmeißen
Die Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, Deutschlands wichtigste Cum-Ex-Ermittlerin – dem größten deutschen Steuerskandal mit 1.700 Beschuldigten und verbrannten zwölf Milliarden Euro an Steuergeldern –, hat vor Kurzem ihre Kündigung eingereicht und ist jetzt bei der NGO "Finanzwende".
Letztlich sei niemand von den Verantwortlichen interessiert, die Wirtschaftskriminalität der Mächtigen zu verfolgen und zu bestrafen, erklärt die nüchterne Ex-Oberstaatsanwältin. "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen", sagt sie. Die "Nachfolgemodelle" des Steuerdiebstahls seien bereits aktiv, da es keine staatliche Kontrolle gebe.
Die Legende vom Klimavorreiter
Nehmen wir ein weiteres Politikfeld, in dem Illusionen den Blick verstellen auf das, was getan werden müsste. Lange galt Deutschland als Klimavorreiter und Klimamusterland. Das hat nie gestimmt.
Das Land hat immer auf viel zu großem CO2-Fuß gelebt, ist einer der historisch größten Verschmutzer und hat ab 1990 durch den sogenannten "Wall-Fall-Profit" im Zuge der Wiedervereinigung viele Emissionen automatisch eingespart, da die Energiewirtschaft und Industrie in den neuen Bundesländern zusammenbrach und erneuert wurde.
Später kam es zu Minderungen aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise, der Coronakrise und der Energie- und Inflationskrise. Ein großer Teil der Reduktionen bei den Treibhausgasen in Deutschland geht also auf das Konto von externen Effekten, nicht auf aktiven Klimaschutz.
Gestern teilte der Expertenrat für Klimafragen in einem Gutachten nun mit, dass Deutschland selbst seine selbst gesteckten Ziel verfehlen wird. Sowohl für das Jahr 2030, als auch für die Klimaneutralität bis 2045. Man werde nicht einmal die Dekarbonisierung, also null Treibhausgase, bis 2050 schaffen.
Doch die Lage ist tatsächlich noch schlimmer. Denn die offiziellen "ambitionierten" Ziele Deutschlands sind viel zu schwach und nicht vereinbar mit dem 1,5- bis Zwei-Grad-Ziel, das im Pariser Klimavertrag von allen Vertragsstaaten, inklusive Deutschland, als Verpflichtung eingegangen wurde.
Niemand hat die Absicht, nachzurechnen
Denn seit 1990 sind die globalen Treibhausgase kontinuierlich weiter angestiegen. Das verbleibende CO2-Budget für eine Erderhitzung, die das Risiko von Kipppunkten im Erdsystem noch in Schach halten könnte, ist daher extrem geschrumpft. Über zwei Grad sollte die Temperaturerhöhung auf keinen Fall laut klimawissenschaftlichem Konsens ansteigen, manche halten zwei Grad schon für zu gefährlich.
Das Budget für diese Obergrenze beträgt jedoch heute weniger als 750 Milliarden Tonnen Kohlendioxid weltweit. Aber wir verbrauchen pro Jahr fast 40 Milliarden, also die CO2-Sanduhr rieselt schnell.
Bei einer einigermaßen fairen Aufteilung dieses Budgets verbleiben für die wohlhabenderen Industriestaaten nicht mehr viele Emissionen. Sie müssten um 2030 bis 2035 auf null kommen, wie Klimawissenschaftler betonen, nicht erst um die Jahrhundertwende.