Brasilien: Die Überzeugungskraft höllischer Fake News

Luiz Ignacio Lula da Silva (2015). Bild: Valter Campanato/ABr, CC-BY-3.0-BR / Jair Bolsonaro (2020). Bild: Palácio do Planalto, CC-BY-2.0

Brasiliens Präsidentschaftswahlkampf beginnt, der amtierende Präsident Bolsonaro tut alles, um an der Macht zu bleiben.

Der Präsidentschaftswahlkampf in Brasilien hat begonnen. Zwölf Kandidaten kämpfen nun um die Stimmen von über 154 Millionen Wählern. Obwohl die erste Runde der Wahlen erst am 2. Oktober stattfinden wird, deutet schon jetzt alles darauf hin, dass es zu einer Stichwahl zwischen dem derzeitigen Präsidenten und Amtsinhaber Jair Bolsonaro und seinem sozialistischen Vorvorgänger Luiz Ignacio Lula da Silva kommen wird.

"Nehmen Sie das Geld und wählen Sie Lula"

Kurz vor Beginn der Wahl deuteten die schlechten wirtschaftlichen Ergebnisse der Regierung Bolsonaro im Gegensatz zu den Erinnerungen an die goldenen Jahre zu Lulas Zeiten darauf hin, dass der Aktivist der Arbeiterpartei (PT) schon in der ersten Runde die absolute Mehrheit gewinnen könnte. Der Rechtsextremist im Präsidentenpalast hat jedoch eine Sozialhilfeprämie für die gesamte Bevölkerung eingeführt und damit seine Unterstützerbasis vergrößert.

Das CNN Poll "Aggregator", das sich auf Umfragen der Meinungsforschungsinstitute Datafolha, Ipec, Ipespe und Quaest stützt, gibt dem Sozialisten immer noch Lula 44 Prozent der Stimmen gegenüber 32 Prozent für Bolsonaro.

Sozialhilfegutscheine im Vorfeld einer Wahl sind populistische Aktionen, die nicht immer gut ankommen. Die Opposition hat einen amüsanten Wahlkampfslogan lanciert: "Nehmen Sie Ihr Geld und wählen Sie Lula." Aus diesem Grund musste der Bolsonarismo nun auf das Rezept zurückgreifen, das ihn beim ersten Mal an die Macht brachte: Fake News, Bosheit und Aggressivität.

Dämonen und Hexerei

Vor einigen Wochen eröffnete die First Lady Michelle Bolsonaro einen evangelikalen Gottesdienst, der die linksliberalen Vorgängerregierungen (Lula und Dilma Rousseff) beschuldigte, mit Dämonen in Verbindung zu stehen und den Regierungspalast "verhext" zu haben. Dann zeigte sie ein Video von Lula (der praktizierender Christ ist), der an einem Umbanda-Ritual teilnimmt, einer synkretistischen brasilianischen Religion mit afrikanischen und indigenen Wurzeln.

Die typische Reaktion des bürgerlichen, kosmopolitischen Intellektuellen angesichts solcher Botschaften ist die Frage: Wie können die Leute nur so einen Blödsinn glauben? Leider sind die rechtsextremen Spin-Doktoren der Welt oft viel bessere Soziologen, als man denkt.

Daher greift der Bolsonarismo (der bekanntlich mit Trumps Grille Steve Bannon in Verbindung steht) auf die Dämonisierung Lulas zurück, um die evangelikalen Wähler zu gewinnen, von denen Experten sagen, dass sie die Wahl bestimmen werden.

Die Hölle der Militärdiktaturen

Lula reagierte schnell auf die Anschuldigungen: "Wenn es jemanden gibt, der vom Teufel besessen ist, dann ist es Bolsonaro", sagte er. Wenn man das öffentliche Bild des einen mit dem des anderen vergleicht, muss man nicht lange überlegen, um zu erkennen, wer der Bösewicht ist.

Während Lula von Barack Obama als "der charmanteste Mann der Welt" bezeichnet wurde, kam Bolsonaro durch die Verbreitung von Hassreden an die Macht und zeichnet sich bis heute durch einen aggressiven, "trumpistischen" Stil aus.

Eines der Probleme der zeitgenössischen politischen Analyse besteht jedoch darin, Bedeutung auf die Ebene der Körpersprache zu reduzieren, auf der dann Marketingkategorien die Oberhand gewinnen. Zugleich werden substanziellere Erklärungen beiseite geschoben. In diesem Fall ist es angebracht, einmal nach der historischen Tradition des Teufelsbildes in den lateinamerikanischen Gesellschaften zu fragen.

Wenn es etwas gibt, das man auf dem Kontinent mit der höllischen Unterwelt verbindet, dann ist es der Terror der Militärdiktaturen des letzten Jahrhunderts. Bolsonaro, ein ehemaliger Hauptmann der Armee, ist wahrscheinlich der im Augenblick wichtigste Verteidiger des blutigen Erbes der Diktatoren der Region.

Stephen King: "Faktoren des sozialphobischen Ausdrucks"

Die Beziehung zwischen Staatsterrorismus und dem Horrorgenre wurde von der argentinischen Schriftstellerin Mariana Enríquez meisterhaft dargestellt. Die junge, aufstrebende lateinamerikanische Schriftstellerin gewann den Herralde-Preis mit ihrem Buch Nuestra parte de la noche (ins Deutsche übersetzt Unser Teil der Nacht).

Fast an der Grenze zu Brasilien überqueren ein Vater und sein Sohn mitten in der Militärdiktatur die argentinischen Straßen, um Treffen einer religiösen Sekte zu besuchen, die durch grausame Rituale Kontakt mit den Mächten der Finsternis aufnimmt. So überschneiden sich der übernatürliche Terror mit den realen Gräueln, die von den Agenten des Staates verübt werden.

Eine der schaurigsten Szenen dieses Buches spielt sich in einem alten Herrenhaus im Norden Argentiniens ab. Im Kerker werden arme Kinder aus den Slums von ihren Entführern gequält: ein satanischer Kult von Aristokraten, die sie als Opfergaben für die Dunkelheit foltern. Das Bild erinnert an den systematischen Raub von Kindern während der Videla-Diktatur, die von der "Vereinigung der Großmütter des Plaza de Mayo" auf 500 Fälle geschätzt wird.

Die Dinge, die die Gesellschaft ängstigen, oder wie Stephen King es nannte: "Faktoren des sozialphobischen Ausdrucks", sind nicht überall dieselben.

Der Grund, warum Mariana Enríquez zu einer der meistgelesenen Schriftstellerinnen Lateinamerikas geworden ist, liegt darin, dass sie genau die Tonart des Horrorgenres in der Region getroffen hat: Wahrscheinlich ist das, was Lateinamerikanern am meisten Angst macht, alles, was mit dem Schrecken der rechtskonservativen Diktaturen im 20. Jahrhunderts zusammenhängt.

Das Problem, über die Ultrarechten zu reden

Was die gegenwärtigen Taktiken des Rechtsextremismus in der ganzen Welt betrifft, so ist demgegenüber ein Kontrapunkt angebracht.

Bei dem Versuch, die Ursachen für den Anstieg von Fake News in der zeitgenössischen Politik zu verstehen, stellt der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde fest, dass auch die Gegner von Fake News auf ihre Weise der Verbreitung von Verschwörungsmythen zuspielen, indem sie obsessiv über sie sprechen und der Öffentlichkeit ihre Details erklären. Er konstatiert, dass vor dreißig Jahren alle von der Bedrohung durch die Rechtsextremen sprachen, aber niemand öffentlich mit ihnen sprach, weil sie keine institutionelle Vertretung hatten.

Heute hat sich diese Debatte verändert. Ihre Befürworter sind in einflussreichen Positionen und werden in Fernsehdebatten einbezogen. Was ist dazwischen passiert? Unzählige öffentliche Beiträge, in denen versucht wird, diese "Theorien" zu erklären und ihre "Vorzüge" zu diskutieren.

Der "Theorie"-Charakter, der der Verschwörung verliehen wird, verleiht ihr in den Augen des Laienpublikums Gültigkeit, auch wenn ihre Kritiker darauf hinweisen, dass sie nicht "bewiesen" ist (schon die Verwendung dieses Wortes weckt Zweifel: Kann sie bewiesen werden?).

Die Gefahren und das Verführungs-Potential durch solche "rechtsextremen Pornos" werden deutlich, wenn ein kritischer Kommentar zu den skandalösen Äußerungen von Jair Bolsonaro zum meistgelesenen Artikel der Woche auf den brasilianischen Mainstream-Nachrichtenportalen wird.

Gleichzeitig sagt Mudde, dass die Experten die Fantasievorstellung beenden sollten, selber so klug zu sein, dass sie erkennen können, wie schlecht die extreme Rechte für die Menschheit ist, oder dass es genüge, die Überzeugten zu überzeugen – während ein Teil der Öffentlichkeit neugierig bleibt, mehr zu erfahren. Ein Weckruf für uns alle.