Brexit: War da was?

Statt Horrorszenarien, vor denen gewarnt wurde, ist Business as usual angesagt, die Verhandlungen mit dem "engen Partner der EU" laufen längst. Fürchten muss der aber den Austritt von Schottland

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein "Brexit-Schock" wurde vor der Entscheidung vor gut einem Monat für den Fall heraufbeschworen, dass die Bevölkerung in Großbritannien für den EU-Austritt stimmen würde. Nun ist mehr als ein Monat seit der historischen Entscheidung (Brexit!) vergangen, doch keines der Horrorszenarien ist eingetroffen oder wäre auch nur absehbar. Es gibt nicht einmal Indizien dafür, dass ein solcher Fall eintreten könnte. Der "negative Schock" für die Weltwirtschaft, der vorhergesagt worden war, bleibt aus. Die einzige wirkliche Gefahr für das Königreich ist der mögliche Abgang Schottlands, auf den sich die Regierung in Edinburgh nun schon konkret und klug vorbereitet.

Es war der Internationale Währungsfonds (IWF), der mit besonders abstruse Prognosen abgab. Doch war auch durchsichtig, dass er mit den Horrorszenarien nur versuchte, auf das Abstimmungsergebnis gegen den Brexit einzuwirken. So ist es auch kein Wunder, wenn letztlich nun auch der IWF seine Prognosen wieder einmal kassiert hat: Vor dem Treffen der G20-Finanzminister im chinesischen Chengdu, die dort am vergangenen Wochenende den nächsten G20-Gipfel vorbereitet haben, senkte der IWF lediglich seine Wachstumsprognose für die Weltwirtschaft um jeweils 0,1 Prozentpunkte. 2016 sollen es nun noch 3,1 und im kommenden Jahr noch 3,4% sein. Ein Schock sieht anders aus.

Deshalb drückte die IWF-Chefin Christine Lagarde auch ihre Sorgen über den Brexit nur verhohlen aus. Aus China erklärte sie, das schwache Wachstum der Weltwirtschaft sei "von politischen Ereignissen bedroht". Das Wort Brexit kam dabei aber nicht über ihre Lippen. Sie meinte aber, man habe die Wachstumsprognose wegen des Brexits nach unten korrigieren müssen. Sie forderte insgesamt, dass die Ungewissheit über das Ausscheiden nun so schnell wie möglich beseitigt werden müsse.

Doch letztlich wollten auch die Finanzminister und auch die Notenbankchefs ihr dabei nicht folgen. Sie zeichneten vielmehr ein zuversichtliches Bild in Bezug auf den Brexit. "Die Länder der G20 sind gut aufgestellt, um proaktiv potenzielle wirtschaftliche und finanzielle Auswirkungen anzugehen, die sich aus dem Votum im Vereinigten Königreich ergeben", hieß es in der Abschlusserklärung. Es wird unterstrichen, der Brexit könne die Ungewissheiten für die globale Wirtschaft lediglich verstärken. Aufgeführt werden auch anderen Gefahren, wie Terrorismus, geopolitische Konflikte, Flüchtlingsströme, niedrige Rohstoffpreise und eine niedrige Inflation in vielen Ländern.

Vergessen wird dabei aber geflissentlich, dass in großen Schwellenländern wie Brasilien oder Russland weiter Rezession herrscht sowie die Tatsache, dass es um die Konjunktur beim Gastgeber China weiterhin nicht sonderlich gut bestellt ist. Das wurde ebenfalls ausgeklammert. In China lassen sinkende Exporte und Importe weiter auf eine deutliche Wachstumsschwäche schließen, die die offiziellen Wachstumszahlen in Zweifel ziehen. In Dollar gerechnet gingen die Exporte im Juni erneut um 4,8% zurück und das war noch stärker als im Mai, als sie um 4.1% fielen. Die Importe brachen sogar erneut um 8,4% ein.

Die chinesischen Probleme sorgen nun schon seit Monaten weltweit für Wirbel - gegen die Probleme in den Schwellenländern ist der Brexit eher unbedeutend.

Brexit: Es leidet eher der Euroraum

So war es nicht schwer zu analysieren, dass Horror-Prognosen zum Brexit kaum eintreten würden. Entsprechend verhielten sich auch die Kapitalmärkte. Es kam zwar direkt nach der Abstimmung, auch von Prognosen wie vom IWF befördert, zu einem kurzen heftigen Einbruch europäischer Börsen. Doch dabei blieb es dann auch. Ohnehin wurde schon dabei sehr deutlich, dass man das an den Kapitalmärkten auf der Insel, obwohl die angeblich besonders unter dem Brexit zu leiden habe, sehr gelassen sah. Abstürze waren vor allem in Kontinentaleuropa zu sehen.

Doch auch dort wurde der Brexit schnell wieder abgehakt. Aber es zeigt sich deutlich, dass die Schere zwischen der Londoner Börse und zum Beispiel der Börse in Frankfurt weiter auseinandergeht. Schaut man sich den Leitindex FTSE 100 an, dann hat er in den drei zurückliegenden Monaten deutliche Gewinne verzeichnen können. Konkret sind es bisher knapp 8%. Der deutsche Leitindex Dax hat dagegen in Frankfurt in dieser Zeit mit 3% nicht einmal um die Hälfte zugelegt. Einige Börsen im Euroland verzeichnen sogar deutliche Verluste.

Bevor jetzt der Einspruch kommt, dass der FTSE vor allem international agierende Firmen ausweist und deshalb gar nicht die Erwartungen für das Königreich abbildet, sei auf den FTSE All Share verwiesen. Der hat ebenfalls in den letzten drei Monaten mehr als 6,8% zugelegt.

Es ist also längst klar, dass viele in London nicht davon ausgehen, dass der Brexit dem Königreich größeren Schaden zufügen könnte. Die Börsenentwicklung verweist sogar darauf, dass viele annehmen, dass das Königreich eher sogar vom Brexit profitieren dürfte. Die Gewinne dort sind natürlich auch darüber begründet, dass das Pfund deutlich abgewertet hat. Das verbilligt Dienstleistungen und Waren. Zu beobachten ist aber auch, dass sich das Pfund wieder stabilisiert hat. Lag die Abwertung zeitweise über der Schwelle von 10%, sind es nun noch 7,2%. Da etwa 45% der britischen Exporte in die EU gehen, rechnet man mit steigenden Exporten in den Euroraum.

Waren und Dienstleistungen aus dem Euroraum verteuern sich dagegen und dürften daher abnehmen. Insgesamt etwa 15% der EU-Exporte gehen ins Königreich. So ist auch verständlich, warum wohl eher der Euroraum unter dem Brexit zu leiden haben dürfte und das spiegelt sich eben auch an den Börsen wieder. Mittelfristig dürfte der Brexit vor allem Urlaubsländer wie Spanien treffen, die stark vom Tourismus abhängig sind.

Dort wird längst damit gerechnet, dass bald weniger Touristen aus dem Königreich das Land besuchen werden. Das hat eine große Bedeutung, denn im vergangenen Jahr kamen fast 16 Millionen aus dem Königreich nach Spanien. Die gaben dort etwa 14 Milliarden Euro aus und es ist die größte Gruppe: Jeder vierte Urlauber in Spanien kam 2015 von den Inseln.

Damit ist dann auch kaum noch verwunderlich, wenn der spanische Leitindex Ibex in den letzten drei Monaten sogar mehr als 6% verloren hat. Hier wird eine Veränderung vorweggenommen, die vermutlich erst 2017 bedeutsam wird. Denn in diesem Jahr wird sich die Zahl der britischen Touristen vermutlich nicht verringern. Branchenverbände erwarten sogar eine weitere Zunahme gegenüber dem Vorjahr, der nun vermutlich aber nicht so stark wie erwartet ausfallen wird. Der Zusammenschluss von Hotels und Tourismusunterkünften (Cehat) verweist darauf, dass Briten am stärksten auf Komplettangebote von Reiseveranstaltern zurückgreifen und sie mit langer Vorlaufzeit kaufen.

50% griffen zu dieser Urlaubsart, weshalb dieser Sommer für Spanien gerettet sein dürfte. Doch dass die britischen Touristen erneut mehr Geld ausgeben, davon geht nun niemand mehr aus. Eher wird damit gerechnet, da sich Spanien für sie verteuert hat, dass sie schon in diesem Sommer angesichts des nachteiligen Wechselkurses weniger Geld ausgeben. Langfristig wird erwartet, dass viele Briten dem nun vergleichsweise teurem Land mittelfristig den Rücken kehren.

"Brexit means Brexit"

Wichtig ist mit Blick auf den Brexit und die Auswirkungen sicher auch, dass die neue Premierministerin Theresa May derweil klargestellt hat, dass daran kein Weg vorbeiführen wird. "Brexit means Brexit", sagte sie kürzlich in ihrer Antrittsrede. Sie setzte damit Spekulationen ein starkes Zeichen entgegen, dass es vielleicht nie zu einem Ausstieg kommen werde.

Entsprechend dazu wurde dann auch aus Chengdu von den Finanzministern der G20-Staaten eine zentrale Losung gegenüber denen ausgegeben, die nun angeblich hart mit den Briten umspringen wollen. "Die Verhandlungen werden nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel populistisch. Es müsse und es werde einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der EU sein möchte oder nicht.

Papier ist aber geduldig. Angesichts der wirtschaftlichen Verflechtungen spricht alles weiter dafür, dass Großbritannien sogar eine ganz besondere Vorzugsbehandlung erhalten wird. Denn es ist klar, dass es beiden Seiten schaden würde, wenn man nun die Briten quasi für eine demokratische Entscheidung bestrafen würde und darunter würde die EU vermutlich sogar stärker zu leiden haben. Und entsprechend hieß es dann auch in der Erklärung der Finanzminister aus Chengdu, die auch Deutschland und das Königreich mitgetragen hat:

Für die Zukunft hoffen wir, dass das Vereinigte Königreich ein enger Partner der EU ist.

Damit ist also längst vorgegeben, wohin die Reise geht. Dass nun sogar von Strafen wegen der Defizitverstöße von Spanien und Portugal abgesehen wird (Nicht einmal eine symbolische Strafe für Defizitverstöße Spaniens und Portugals), zeigt an, dass man Streit und Unruhe, alles, was negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in der EU haben könnte, vermeiden will. Dabei musste die Bundesrepublik sogar von ihrer Strafhaltung abrücken. Vom Peitschenschwinger wandelte sich Finanzminister Schäuble in diesem Fall zu dem Mann, der dann die von ihm geforderte Bestrafung wieder vom Tisch wischte.

Wirtschaftlichen Beziehungen zu Großbritannien "weiter eng"

Längst zeichnen sich auch die Verhandlungslinien mit Großbritannien ab, obwohl ja angeblich noch über gar nichts verhandelt wird. Denn das soll ja angeblich erst geschehen, wenn die Briten den Artikel 50 aktivieren, wird gerne erklärt. Doch May lässt sich Zeit, lehnt sich zurück. Sie hat schon angekündigt, dass dies dieses Jahr nicht mehr geschehen wird. Und was die G-20-Finanzminister gerade in Chengdu bekräftigten, hatte die Premierministerin schon beim Antrittsbesuch in Berlin im Gepäck. "Natürlich werden sich unser Beziehungen ändern, aber die wirtschaftlichen Beziehungen sollen weiter eng bleiben", kündigte sie an.

Hatte Merkel zunächst auch gedrängelt, wurde sie plötzlich verständnisvoll. Sie will nun den Briten die nötige Zeit geben:

Es ist für alle von Interesse, wenn Großbritannien mit einer sehr gut definierten Verhandlungsposition diesen Austritt beantragt.

Schon das hörte sich nicht mehr nach harten Verhandlungen an. Auch Merkel unterstrich die enge Partnerschaft und hofft auf Verhandlungen in einer "freundschaftlichen Atmosphäre und auf der Grundlage vieler gemeinsamer Überzeugungen". Beiden ist längst klar, dass das Königreich und die EU auch nach dem Brexit eng miteinander verbunden sein werden. Doch May steckte auch schon eine klare Grenze in der Frage der Zuwanderung ab. Ein Knackpunkt sei, ob die Briten auch ohne Freizügigkeit für EU-Bürger Teil der Freihandelszone bleiben dürfen. "Das wird Teil unserer Gespräche sein."

Neue Extrawürste

Zu dieser Frage laufen längst Gespräche, um praktikable Lösungen zu finden. Das hat der Observer, die Sonntagszeitung des Guardian, unter Berufung auf britische und europäische Diplomaten berichtet. So soll es einerseits zeitlich limitierte Beschränkungen für EU-Ausländer geben und Großbritannien soll weiter vollem Zugang zum Binnenmarkt haben.

Gesprochen wird von der "emergency brake" - diese Notbremse soll für sieben Jahre gelten. Man stünde noch am Anfang, räumten die Quellen ein, aber das sei "eine der Ideen, die auf dem Verhandlungstisch liegen", der offiziell noch gar nicht aufgestellt sein soll. Also dürfte genau das eintreten, was Merkel zuvor noch als "Rosinenklauberei" abgelehnt hatte. Die gab für die Briten in der EU stets und für sie gibt es keinen realen Grund, nach dem Brexit das "Cherry-Picking" aufzugeben. (Warum der Brexit gut für Europa wäre...)

So wie die EU verfasst ist, wird man dem Königreich neue Extrawürste braten. Das zeigt sich etwa daran, dass der französische Präsident François Hollande, der zunächst sogar noch härtere Positionen vertreten hatte, schon einlenkt. Das verwundert nicht, da er bisher praktisch in allen Fragen umgefallen ist, außer in der undemokratisch durchgepeitschten Arbeitsmarktreform. Dazu kommt: Die britische Premierministerin hat gegenüber den Franzosen natürlich einen wertvollen Trumpf in der Hand.

Denn May hat mit dem Bau der beiden Meiler im Atomkraftwerk Hinkley Point den Schlüssel. Das Projekt wird in Frankreich als Rettung des staatlichen Pleite-Kraftwerksbauers Areva verstanden. Es lässt auf eine teilweisen Sanierung des hoch verschuldeten Energiekonzerns EDF hoffen. Die britischen Verbraucher leisten via hohe Strompreise eine massive Subventionierung. Es ist sicher kein Zufall, dass May gerade am Freitag die Unterschrift unter die Verträge verweigert hat. Die gewiefte Politikerin will ihre Verhandlungsmasse nicht verkleinern.

Aber sie hat ein Problem am Bein, das könnte für das Königreich tatsächlich zu einem schmerzlichen Verlust führen: Schottland. Denn dort ist man über den Brexit alles andere als erfreut. Wie erwartet, haben die Schotten sich sehr deutlich mit 62% für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Ohne sie hätte eine deutliche größere Mehrheit als 52% im Rest-Königreich für den Brexit gestimmt. Und es war auch zu erwarten, dass es in dieser Konstellation neue starke Bestrebungen in Schottland geben würde - in Richtung Unabhängigkeit, auch um in der EU bleiben zu können (Angst um die Weltwirtschaft durch den Brexit-Schock).