Bringt die Finanzkrise einen Fortschritt in der Aufklärung mit sich?

Beruhigende Worte und Milliarden an Geldern schaffen kein Vertrauen mehr in den Wirtschaftsliberalismus, der zur scheinbar alternativenlosen Heilsideologie nach dem Zerfall des Kommunismus wurde

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Ein Gespenst geht um die Welt: fehlendes Vertrauen. Die Psychologie hilft ebenso wenig wie das Ausschütten von Milliarden. Einmal angesteckt verharren die Börsen in der Panik. Keiner weiß, wie schlimm es noch werden könnte, da niemand weiß, auf wie vielen faulen Krediten und wertlosen Derivaten die Banken noch sitzen, während gleichzeitig die schon länger drohende Rezession auf der Schwelle steht und große Konzerne der Realwirtschaft mit sich reißen kann. Alles ist möglich. Rette sich, wer kann.

Um Vertrauen zu schaffen, das sich selbst auf die Spieler und Gauner der Finanzwelt und auf die Regierungen erstreckt, denen man sowieso nicht zutraut, die unverblümte Wahrheit zu sagen, da sie immer mehr auf Spindoktoren setzen, reichen Zusagen und Milliarden nicht aus, auch nicht gute Worte. Die Panik wird enden, wahrscheinlich bevor die großen Rettungsmaßnahmen überhaupt greifen, aber dann könnten viele Werte zerstört und kleine und große Vermögen vernichtet sein. Eigentlich könnte man sich beruhigt setzen und einfach abwarten, bis diejenigen, deren für die Gesellschaft rücksichtsloses Handeln die Krise erst hervorgebracht hat, ihre Panik vor dem sozialen Untergang ausgespielt haben.

Jetzt aber scheint man überall erst einmal darauf zu hoffen, dass irgendwo eine starke Hand mit einem überzeugenden Lösungsvorschlag auftritt, mit dem der Knoten der Panik durchschlagen werden kann. Auf Panik hat man zwar Jahre lang, vor allem in den USA, gesetzt und sie genährt, um den Krieg gegen den Terrorismus im In- und Ausland mit Militär und Überwachung durchsetzen und finanzieren zu können. Möglicherweise grassiert die Angst vor der Finanzkrise, die allerdings auch tiefer in das Leben eines jeden einschneiden kann als Terroranschläge, welche nur wenige treffen, gerade auf der Grundlage der lange gepflegten diffusen Angst so gut.

Fast 7 Prozent hat der Dax zum Wochenende verloren und ist auf 4549 Punkte zurückgefallen. Der Dow Jones hat sich nach einer Berg- und Talfahrt ein wenig von den Tiefen erholt, bleibt aber weit unter 9000 Punkten. Auch wenn die Finanzminister und Notenbankchefs der G7 sich auf schnelle Maßnahmen einigen können, werden alle gebannt auf den Montag starren, ob der Weg nach unten weiter geht.

Die Hilf- und Ratlosigkeit ist groß, der Zwang zum Handeln für die Regierungen auch. Kein Wunder, dass sich nun die Information verbreitet, auch die Bundesregierung würde ein gewaltiges Paket mit Hunderten von Milliarden Euro nach dem Vorbild der USA und von Großbritannien schnüren wollen und dabei auch an die bislang verpönte Verstaatlichung von Banken denken. Bis kurz vor der Panik und dem Sturz der Hypo Real Estate war ja allgemein im Lande selbstgefällig von Wirtschaftsliberalen und Bankern zu hören, dass überall dort, wo der Staat bzw. die Politiker die Hand drauf haben, nur Schlechtes zu erwarten sei. Die Landesbanken dienten als Exempel. Ähnliches hört man gegenwärtig nicht mehr, die Religion, die auf die Erlösung durch das freie Spiel der Markt- und Kapitalkräfte setzt, hat einen schweren Dämpfer erlitten.

Damit ist die nach dem Zusammenbruch dominant gewordene neoliberale Ideologie fürs erste gebrochen. Und das ist gut, denn sie war mindestens so verklärend, wirklichkeitsverleugnend und menschenverachtend wie der reale Kommunismus. Jetzt sollte mit dem immer schon billigen Argument Schluss sein, dass Regulierung und Begrenzung der Marktkräfte und ein Staat, der auf Solidarität und Ausgleich setzt, von vorneherein des Teufels sind. Regierungen in demokratischen Ländern sind keineswegs mehr zu trauen als Managern und Bankern, aber im Gegensatz zu letzteren können sie immerhin durch die Stimme des Volkes ersetzt werden.

Selbst in der FAZ findet eine Morgendämmerung statt. Frank Schirrmacher beschwört mit gewohnten Zuspitzungen – "weltbürgerkriegsähnlicher Zustand" - eine grundlegende Änderung des Denkens – und er hat sicherlich Recht, dass es nach dem "Bankrott der Metaphysik des Marktes" – zumindest in den nächsten Jahren, sollte man einschränken – nie mehr so sein wird wie gerade noch, was die Wirtschaft, aber vor allem die politische Landschaft umpflügen wird.

Allerdings könnte die Lage auch dazu dienen, dass nun das Messianisch-Apokalyptische im Niedergang hervorgezaubert wird, das Intellektuelle gerne verkünden, aber in den letzten Jahren nicht mehr konnten. Die theoretisch bescheidene, religiös aufgeladene Religion der Marktwirtschaft gab philosophisch und argumentativ nicht viel her. Es gab nur Gläubige und Skeptiker, die es immer mit guten Gründen gab, die sich aber nicht gegen die scheinbaren Realos durchsetzen konnten, die mit populistischen Versprechungen wie der Rattenfänger von Hameln lockten.

Wer meint, dass die aktuelle Vernichtung der Grundvertrauens in die Rationalität ökonomischen Handelns ohne Folgen bleibt, wird sich spätestens bei den nächsten Wahlen getäuscht sehen. Über Nacht ist die Welt des Geldes fiktionalisiert worden. Die Flucht in die Verstaatlichung, die von den Banken selbst angeführt wird, ist der Bankrott der Metaphysik des Marktes. Jetzt, da völlige Unklarheit darüber herrscht, was ist und was nicht ist, kann nur der Staat noch dezionistisch verfügen, dass etwas und nicht vielmehr nichts existiert. Wenn je, dann gilt heute der Satz von Friedrich Engels: „Das Wesen des Staates ist die Angst der Menschheit vor sich selbst."

Frank Schirrmacher

Wie auch immer interpretiert: Einige wenige haben sich, gedeckt von den meisten Regierungen, durch das Spiel im globalen Finanzkasino ein Vermögen angeeignet, während die meisten zurückstecken mussten und die Kluft zwischen Reich und Arm weiter auseinander ging. Jetzt aber sitzen zwangsweise alle im selben Boot, allerdings mit unterschiedlicher Fallhöhe

Von den Begünstigten des langen Booms hört man freilich nicht viel. Sie versuchen, ihre Schäfchen in Panik ins Trockene zu bringen, während es viele derjenigen, die schon vom Boom nicht profitierten, jetzt noch einmal mit dem Gang in die Rezession stärker treffen wird: Die Arbeitslosigkeit wird wachsen, die Staaten werden weniger Geld haben, die Sozialsysteme aufrecht zu halten, die Inflation frisst das Einkommen weg, die Zukunft wird unsicherer. Und noch schlimmer: Keiner weiß wirklich einen Weg aus der fundamentalen Krise, da nach der Utopie des Sozialismus auch die des freien Marktes zusammen gebrochen ist. Jetzt muss man sich auch geistig mit Brot und Wasser durchwursteln, aber vielleicht wächst ja daran der Realitätssinn, keinem der ideologischen Verführer mit ihren einfachen Formeln für eine komplizierte, vernetzte Welt mehr zu glauben.

Politisch wird das bedeuten, dass die so genannten Volksparteien weiter erodieren werden und eine multipolare, schwierig zu steuernde und konfliktreiche Vielfalt entsteht. Ein Spiegel dessen, was nach dem Ende des Kalten Kriegs und jetzt nach dem Einbruch der Supermacht USA global in die Wirklichkeit tritt und was der an allen Fronten gescheiterte US-Präsident Bush mit seinem Slogan an dualer Einfachheit noch als Weltbild retten wollte: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.