Bürgereinkommen in Italien - eine repressive Armenfürsorge

Seite 3: Eine Nötigung zur Zwangsarbeit?

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Ist das italienische Modell nicht eine Art Nötigung zur Zwangsarbeit? Und wäre es nicht damit sogar, wie möglicherweise Harz IV auch, "völkerrechtswidrig"?

Ronald Blaschke: Jegliche Form von Zwangsarbeit ist völkerrechtwidrig, auch die, die mittels der Existenznotpeitsche Menschen zu Wohlverhalten prügelt. Die Definition von Zwangsarbeit der International Labor Organisation im Übereinkommen zum Verbot von Zwangsarbeit von 1930 lautet: "Als 'Zwangs- oder Pflichtarbeit' im Sinne dieses Übereinkommens gilt jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat."

Max Kern, der ehemalige Leiter der Sektion Zwangsarbeit der ILO, erstellte für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung eine Studie zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV) in Deutschland. Diese Grundsicherung droht Menschen Leistungskürzungen bzw. den Totalentzug der sozialen Leistung an, wenn sie keine angebotene Erwerbsarbeit oder andere Tätigkeiten annehmen.

Die Kernaussage der Studie ist: Soziale Transfersysteme, die soziale Leistungen unter den Vorbehalt einer Arbeitsverpflichtung stellen, bei Arbeitsverweigerung Kürzungen bis zum Totalentzug der Leistungen androhen, stehen dem völkerrechtlich anerkannten Verbot von Zwangsarbeit entgegen: denn die mögliche Leistungskürzungen bzw. der mögliche Totalentzug der sozialen Leistungen sind eine "Androhung von Strafe".

Italien als Mitglied der ILO ist an das Verbot von Zwangsarbeit gebunden. Das heißt, die folgende Bestimmung im Regierungsvertrag der Fünf-Sterne-Bewegung und Liga Nord ist völkerrechtswidrig: "Zur Vereinfachung einer Wiedereingliederung des Bürgers in die Arbeitswelt und als Bedingung für die Auszahlung des (Mindest-)Einkommens für Bürgerinnen und Bürger wird ein aktives Engagement des Begünstigten gefordert, der Stellenangebote vonseiten der Arbeitsämter wahrnehmen muss (maximal drei Angebote über einen Zeitraum von zwei Jahren), das Recht auf Unterstützung allerdings verwirkt, sollte er sich weigern, die angeforderte Arbeitstätigkeit durchzuführen."

Welche Sozialleistungen würde das Grundeinkommen ersetzen?

Ronald Blaschke: Dazu gibt es in der internationalen, auch in der deutschen Grundeinkommensbewegung keine einheitliche Auffassung: Grundkonsens in Deutschland ist, dass die verschiedenen bedürftigkeitsgeprüften Grundsicherungen und das Kindergeld, auch das BAföG (Ausbildungsförderungsgeld) durch das Grundeinkommen obsolet werden.

Gibt es rechte und linke Grundeinkommensmodelle? Wie unterscheiden sie sich?

Ronald Blaschke: Schon in der Geschichte der Idee des Grundeinkommens kann man zwei grundlegende Strömungen bezüglich der politischen Absicht, die mit dem Grundeinkommen verfolgt wird, beobachten: Exemplarisch kann man das anhand der Vorstellung des Monetaristen Milton Friedman und des sozialistischen Humanisten Erich Fromm verdeutlichen. Friedman propagierte ein partielles Grundeinkommen.

Das ist ein Grundeinkommen, das nicht die Existenz und Teilhabe sichert, also nicht den autonomiestiftenden Charakter hat. Darüber hinaus sollten fast alle anderen sozialen Leistungen und Sozialpolitiken gestrichen werden, ebenso Mindest- und Tariflöhne. Ihm ging es letztlich um einen sogenannten freien Markt, auf der jeder, der nicht über Vermögen und Kapital verfügt, seine Arbeitskraft verkaufen muss, um die Existenz und Teilhabe zu sichern.

Seine Form des Grundeinkommens sollte zudem Niedrigstlöhne staatlich subventionieren. Erich Fromm ging es um eine Befreiung menschlicher Produktivität und Fähigkeiten aus dem Zwangskorsett der Lohnarbeit und um eine humanistische, demokratische Gesellschaft.

Das Grundeinkommen ist dabei ein Mittel auf dem Weg in diese Gesellschaft, das mit weiteren emanzipatorischen Veränderungen verbunden ist. Neoliberale und emanzipatorische Grundeinkommenskonzepte unterscheiden sich wesentlich in Höhe und Ausgestaltung der Rahmenbedingungen, letztlich aber in der politischen Absicht.

Warum ist das Grundeinkommen kein Geldprinzip?

Ronald Blaschke: Weil das Prinzip die bedingungslose Sicherung der Existenz und Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe ist. Wenn die Mittel dazu über Geld erworben werden müssen, ist ein Grund"einkommen" nötig. Wenn die Mittel dazu ohne Geld erworben werden können bzw. nutzbar sind, braucht es kein Geld für die Individuen dazu.

In Deutschland wird derzeit ein für alle gebührenfreier öffentlicher Nahverkehr diskutiert, freier WLan-Zugang flächendeckend, gebührenfreie Zugänge zu Kultur und Bildung etc. Sowohl in der kommunistischen als auch in der anarchokommunistischen Tradition stehen Ansätze, die auf eine grundlegende Überwindung des Geldes und grundsätzlich bedingungslose Zugänge zu Mitteln der Existenz- und Teilhabesicherung setzen.

Im Kern ist das Grundeinkommensprinzip ein solidarisches Reziprozitätsprinzip - die Menschen anerkennen sich wechselseitig als voneinander abhängige und zugleich autonome Wesen, denen unter keinen Umständen das Recht auf Existenz und Teilhabe entzogen werden darf.

Ist das italienische Modell der "reddito di cittadinanza" eine sinnvolle Maßnahme zur Armutsbekämpfung?

Ronald Blaschke: Das sogenannte Bürgereinkommen im italienischen Regierungsvertrag zwischen Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Nord steht in der Tradition der Armenfürsorge - es stigmatisiert, weil es bedürftigkeitsgeprüft ist, es ist repressiv, weil es Zwangsarbeit impliziert, es grenzt Nichtstaatsbürger aus.

Es schafft nicht Armut ab, weil es zu niedrig ist. Es kann gegenüber der bisherigen Situation eine Verbesserung für betroffene Menschen bedeuten. Um dies zu beurteilen, müsste das italienische Sozialleistungssystem unter die Lupe genommen und die konkrete Umsetzung des sogenannten Bürgereinkommens betrachtet werden. Mit einem Grundeinkommen hat es definitiv nichts zu tun, sondern es verbleibt in der Logik der repressiven Armenfürsorge.