Bundesregierung beschließt: Vorhandene Stammzelllinien "ausreichend geeignet"

Die Forschungs- und Gesundheitsministerinnen loben sich in ihrem ersten Stammzellbericht selbst - und ignorieren aufkeimende Kritik am Stammzellgesetz

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Der bemerkenswerteste Satz des Ersten Stammzellberichts der Bundesregierung, der Ende vergangener Woche von den Bundesministerien für Gesundheit und Soziales sowie Bildung und Forschung vorgelegt wurde, steht ganz hinten, in der Mitte des letzten Absatzes des inklusive Glossar sechzehnseitigen Dokuments:

"Die aufgrund des Stammzellgesetzes verfügbaren humanen embryonalen Stammzellen, die vor dem Stichtag 1. Januar 2002 gewonnen worden sein müssen, sind für die derzeitige Grundlagenforschung ausreichend geeignet."

Mal abgesehen davon, dass der Satz so klingt, als sei das Stammzellgesetz irgendwie eine Voraussetzung für die Existenz humaner, embryonaler Stammzellen, muss sich der Leser dieses Satzes doch vor allem fragen, woher die beiden Ministerinnen ihre tiefe Überzeugung nehmen.

Doch der Reihe nach. Der Stammzellbericht unterrichtet die Öffentlichkeit programmgemäß über den aktuellen Stand der Arbeiten mit menschlichen, embryonalen Stammzellen in Deutschland. Er deckt den Zeitraum vom Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Juli 2002 bis zum 31. Dezember 2003 ab. In dieser Zeit hat die zuständige Aufsichtsbehörde, das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin, insgesamt fünf Genehmigungen für die Forschung mit humanen, embryonalen Stammzellen erteilt. Die Zahl ist auch im Sommer 2004 noch aktuell, wie sich jeder überzeugen kann, der die entsprechende Webseite des RKI besucht.

Der erste Antragsteller war bekanntlich Oliver Brüstle vom Institut für Rekonstruktive Neurobiologie an der Universität Bonn. Er versucht, Vorläuferzellen von Nervenzellen aus embryonalen Stammzellen zu gewinnen und diese gegebenenfalls zu transplantieren (Weihnachtsgeschenk für Bonner Stammzellforscher). Es folgten der Kölner Jürgen Hescheler und der Münchener Wolfgang-Michael Franz, die beide mit jeweils unterschiedlichem Blickwinkel an der Erzeugung von Herzmuskelzellen interessiert sind. Die Mainzer Firma ProteoSys möchte Stammzellen zu Nervenzellen ausdifferenzieren und die molekularen Mechanismen untersuchen, mit denen diese Zellen auf unterschiedliche Zellgifte reagieren. Und am Max Planck Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen schließlich sollen ebenfalls Nervenzellen gewonnen werden, die in diesem Fall den Transmitter Dopamin produzieren, und die demnach einen möglichen neuen Therapieansatz für Patienten mit der Parkinson-Erkrankung bieten.

Die deutschen Stammzellforscher lehnen das Stammzellgesetz mehrheitlich ab

Zurück zur Frage, wen die Verfasser des Stammzellberichts wohl gefragt haben, als sie den Satz mit der "ausreichenden Eignung" der verfügbaren Stammzelllinien in ihr Dokument einfügten.

Die deutschen Stammzellforscher sicher nicht. Denn was die in ihrer Mehrheit vom Stammzellgesetz halten, daran kann seit der Delphi-Erhebung, die das Max Delbrück-Zentrum zusammen mit dem Forschungszentrum Jülich durchführte, kein Zweifel mehr bestehen. Die repräsentative Erhebung, an der sich in einem zweistufigen Befragungsverfahren 49 der rund 120 deutschen Stammzellforscher beteiligten, zeigte, dass zwar mittelfristig der Arbeit mit adulten Stammzellen die größere Bedeutung beigemessen wird. Zunächst einmal allerdings wird erwartet, dass die entscheidenden Impulse für die Stammzellforschung aus dem Ausland kommen, also aus Israel, Großbritannien, Fernost oder vielleicht auch aus Schweden und Kanada, zwei Ländern, in denen die ehemals restriktive Gesetzgebung in den letzten Monaten liberalisiert wurde.

Gefürchtet wird von einer Mehrheit der Befragten auch eine Abwanderung deutscher Stammzellforscher in Länder, in denen weniger legislative Schranken errichtet werden. Kurz: Das deutsche Stammzellgesetz wird in Forscherkreisen zunehmend als hinderlich für die Forschung.

Wie bei der PID so bei den ESZ?

Die zweite Quelle, bei der sich die Autoren des Stammzellberichts erkundigt haben könnten, ist die deutsche Bevölkerung. Wie die zur Forschung mit embryonalen Stammzellen steht, ist leider nicht so gut bekannt wie die Position der Mehrheit der Forschergemeinde. Im Rahmen des schon erwähnten Forschungsprojekts wurde Anfang des Jahres auch eine so genannte Bürgerkonferenz abgehalten, die mit einem Patt endete: Die aus 500 Bewerbungen ausgelosten Teilnehmer sprachen sich mehrheitlich für eine vorsichtige Lockerung der Gesetze aus, waren allerdings klar gegen eine Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken. Immerhin die Hälfte konnte sich aber die Gewinnung von Stammzellen aus Embryonen vorstellen, die bei der künstlichen Befruchtung übrig bleiben.

Es spricht einiges dafür, dass die Deutschen in einer tatsächlich repräsentativen Befragung weit weniger skeptisch gegenüber der Embryonenforschung wären, wenn jemand nur mutig genug wäre, diese Befragung einmal durchzuführen. Indirekte Hinweise gibt die repräsentative Befragung von 2.100 Deutschen zum Thema Präimplantationsdiagnostik, die kürzlich von einer Wissenschaftlergruppe um die Psychologin Ada Borkenhagen von der Charité Berlin veröffentlicht wurde und deren Ergebnisse eine etwas kleiner Erhebung der Universität Leipzig von Anfang 2004 bestätigten.

In Borkenhagens Studie sprachen sich unerwartete achtzig Prozent der Befragten dafür aus, die PID zuzulassen, und zwar eng kontrolliert für genau definierte Szenarien. Nun ist die PID nicht die embryonale Stammzellforschung, aber doch ähnlich kontrovers. Es ist durchaus denkbar, dass die Bevölkerung beim Thema Stammzellforschung ähnlich differenzierte Ansichten hat wie beim Thema PID, die, wenn man die Menschen ließe, in einer Lockerung des Stammzellgesetzes, nicht aber in einer totalen Freigabe der Stammzellforschung münden würden.

Die deutsche Politik geht hinter ihren Ethikräten in Deckung

Genauso wie die PID wird die menschliche, embryonale Stammzellforschung von der Politik wie ein rohes Ei behandelt. Voten von Ethikkommissionen mit zweifelhafter demokratischer Legitimation werden als Feigenblätter benutzt, um keine Entscheidungen treffen beziehungsweise Entscheidungen vergangener Tage nicht revidieren zu müssen. Damit soll weder für noch gegen eine Liberalisierung der Stammzellforschung in Deutschland argumentiert werden. Es soll lediglich die Frage gestellt werden, wie ein Satz wie der eingangs erwähnte in den offiziellen "Erfahrungsbericht" - so der Titel - zweier demokratischer Institution gelangen kann, wenn er doch weder mit den Erfahrungen derer, die auf dem Gebiet arbeiten übereinstimmt, noch (wahrscheinlich) mit den Ansichten derer, die von den beiden demokratischen Institutionen repräsentiert werden.

Am ehesten d'accord geht die These von der angeblich ausreichenden Eignung der verfügbaren Stammzelllinien tatsächlich mit der vermutlichen Mehrheitsmeinung im Nationalen Ethikrat, auch wenn dessen letzte Stellungsnahme zum Thema mittlerweile gut zweieinhalb Jahre alt ist und damit ein halbes Jahr älter als das Stammzellgesetz.

Auch in den USA mehren sich die Stimmen, die die Stammzellpolitik der Regierung Bush kritisieren. Der amerikanische Präsident hatte am 9. August 2001 verfügt, dass Forscher, die mit embryonalen Stammzelllinien neueren Datums arbeiten, künftig nicht mehr mit einer Förderung durch die öffentliche Hand, sprich vor allem durch die National Institutes of Health rechnen können (Bush hat eine Entscheidung zur Forschung mit embryonalen Stammzellen getroffen). Die Kritik in den USA wird in letzter Zeit zunehmend mit einer Kritik an der Zusammensetzung des dortigen Ethikrats verbunden, des vom Präsidenten berufenen Council on Bioethics.

Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen hatte der Rat hatte im Januar 2004 seinen ersten Stammzellbericht veröffentlicht, der vor allem dadurch auffiel, dass er es vorsichtig vermied, überhaupt irgendeine Position zu beziehen. Zum anderen hatte Bush kurz danach im März zwei Wissenschaftler aus dem Ethikrat entlassen, die dafür bekannt waren, dass sie der embryonalen Stammzellforschung gegenüber positiv gestimmt waren. Darunter war die Biochemikerin Elizabeth Blackburn von der Universität Kalifornien, die dem Vernehmen nach am 28. Februar, einem Freitagnachmittag, vom Weißen Haus angerufen und darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass sie ab März durch einen stammzellkritische Geist ersetzt werde. Eine offensichtlich immer noch weitgehend regierungshörige Wissenschaftlergemeinde hielt sich mit offener Kritik zurück. Lediglich in den Leserbriefspalten zahlreicher Forschungszeitschriften hagelte es Proteste. Von einer Politisierung des Ethikrats war die Rede.

Mittlerweile trauen sich amerikanische Stammzellanhänger allerdings zunehmend aus der Deckung. Zuletzt veröffentlichte das angesehene New England Journal of Medicine gleich drei Plädoyers für eine Liberalisierung des US-amerikanischen Status quo auf einmal. Darunter befand sich der Artikel eines Ökonomen der Harvard Business School, der sich um die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der Weltmacht sorgte, sollte die Stammzellforschung auch künftig vor allem außerhalb der USA stattfinden. Wir reden, wohlgemerkt, von einem Land, das die Stammzellforschung prinzipiell erlaubt, sie nur nicht in größerem Umfang finanziell fördert.

Ein bisschen mehr Debatte zum Thema Stammzellen täte auch Deutschland ganz gut. Ein Gesetz, dass einmal richtig war, muss es nicht bis in alle Ewigkeit bleiben. Am Ende einer solchen erneuten Debatte könnte auch der Status quo stehen. So zu tun allerdings als sei in den zweieinhalb Jahren seit Implementierung des Gesetzes nichts passiert, als hätte es beispielsweise die Erfolge der Koreaner bei der Erzeugung menschlicher ESZ-Linien via Kerntransfer im Februar gar nicht gegeben, riecht ein wenig nach Kopf in den Sand.