Chaos bei Zeit Online: Mal gilt der Ethik-Kodex, mal gilt er nicht

Seite 3: "Wofür genau entschuldigt sich Zeit Online?"

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Der Journalist und Medienkritiker Stefan Niggemeier hatte sich auf seinem Blog ebenfalls kritisch zum Vorgehen von Wegner geäußert und hakte nach:

"Testfrage: Wofür genau entschuldigt sich Zeit Online?"

Chefredakteur Wegner, der mitlas, kommentierte unter Niggemeiers Blog-Beitrag vorsichtig:

Ich bedauere sehr, dass wir den Interessenkonflikt nicht früher erkannt haben, sondern von außen darauf hingewiesen werden mussten. (…) Wir lernen daraus für die Zukunft, dass wir unsere neu gewonnenen Autorinnen und Autoren vor Beginn der Zusammenarbeit deutlich auf unsere Standards hinweisen müssen. (…) Ich persönlich glaube, dass es genau solche Prinzipien sind, die journalistische Medien ausmachen.

Wegner

Und David Schraven, der den Stein ins Rollen gebracht hatte, sekundierte andernorts:

Es geht nicht um freie Journalisten oder freie Arbeit an sich. Es geht darum, dass man nicht in Zeiten eines Konfliktes für den Propagandaapparat eines aggressiven Staates und als unabhängiger Journalist arbeiten kann, ohne auf den Umstand hinzuweisen, dass man für ein Propagandaorgan schafft.

Schraven

Doch abgesehen von der Frage, warum solches wohl nur "in Zeiten eines Konfliktes" gelte und nicht zu jeder Zeit, schließt sich natürlich ein viel gravierenderes Definitionsproblem an. Denn nach welchen sachlichen und objektiven Kriterien wird eigentlich entschieden, ob es sich beim jeweiligen Arbeitgeber um "den Propagandaapparat eines aggressiven Staates" handelt?

Propaganda machen immer die Anderen

Hier landet bekanntlich mancher mit fataler Lichtgeschwindigkeit beim Zirkelschluss: "Der Feind ist schlecht, weil er der Feind ist." Propaganda machen immer nur die Anderen, die Unfreien, die Autokraten. Der ganzen Argumentation liegt, so darf man es sehen, eine Entdifferenzierung der Realität zugrunde. Einer komplexen Welt, in der viele Seiten geostrategische Schachzüge vollziehen, Tiefenpolitik veranschlagen und Nebelkerzen aus allen möglichen Richtungen geworfen werden, kommt man natürlich bequemer bei, indem man Komplexität reduziert.

Die Pointe dazu ist Schravens Hintergrund als Vorstandsmitglied im renommierten Journalistenverband "Netzwerk Recherche", auf deren Webseite es heißt, man setze sich "für eine Verbesserung der Recherchekultur in Deutschland ein" Denn: "Recherche ist das Qualitätsscharnier für einen soliden Hintergrundjournalismus. Ohne kritische Analyse und unbequeme Wahrheiten erstickt die Demokratie im Allgemeinen und Ungefähren."

Noch verblüffender ist Schravens persönliches Motto: "Journalismus ist, wenn man etwas druckt, was ein anderer lieber nicht gedruckt sehen will." Und auch Chefredakteur Wegner, der Schravens Twittermahnung Gewehr bei Fuß Folge leistete, hat klare Grundsätze, wenn auch anderer Art. "Journalisten müssen Unternehmer werden", lautet zum Beispiel einer, formuliert im Jahr 2010, nach 12 Jahren beim Focus, im Rahmen seiner "23 Thesen zur Zukunft der Medien".

Wenig überraschend, dass Wegner bei der Beobachtung von Kollegen wie Glenn Greenwald Verständnisprobleme bekommt. Dieser sei aber eigentlich auch gar kein Journalist, ließ Wegner seine Leser im Januar dieses Jahres wissen, sondern lediglich ein "Aktivist".

Doch das Problem bei Zeit und Zeit Online geht über die beiden bis jetzt angesprochenen Fälle hinaus, wie Uwe Krüger ausführt. So fallen immer wieder Zeit-Autoren auf, die sich in Elitenkreisen bewegen und dann zu Themen publizieren, die mit den Inhalten, wie sie in den entsprechenden Think Tanks, Stiftungen und Organisationen auf der Agenda stehen, korrelieren - Artikel, die dann auch auf Zeit Online erscheinen.

Bilderberg und Atlantik-Brücke

Matthias Naß, Co-Autor des besagten Artikels zur neuen deutschen Außenpolitik von Jochen Bittner, war beispielsweise einflussreiches Mitglied einer aus demokratietheoretischer Sicht höchst fragwürdigen Organisation: der Bilderberg-Gruppe, die vermeintlich politisch neutral und rein privat zu einem jährlichen "Erfahrungsaustausch" zusammenkommt.

Naß, internationaler Korrespondent der Zeit und bis 2010 ihr Vize-Chefredakteur, "nahm von 1997 bis 2012 an den Bilderberg-Konferenzen teil", erläutert Uwe Krüger. "Außerdem war er Mitglied des Inner Circle von Bilderberg, dem so genannten Lenkungsausschuss. Dort hat er - zusammen mit Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann als zweitem Deutschen in diesem Kreis - regelmäßig mitentschieden, welche Teilnehmer eingeladen und welche Themen diskutiert werden", erklärt Krüger weiter.

Hintergrund: Die Bilderberg-Konferenz ("Einen 'Schweigepakt' kann ich mir nur schwer vorstellen") existiert seit 1954. Zu der diskreten Konferenz kommen einmal im Jahr gut 140 führende Persönlichkeiten aus zentralen gesellschaftlichen Bereichen zusammen, aus Politik, Wirtschaft, Militär, Forschung und Geheimdiensten.

Gegenüber Telepolis führt Uwe Krüger noch weitere Zeit-Autoren mit persönlichen Verbindungen in Elite-Kreise und den sich daraus ergebenden Implikationen an.

Marc Brost etwa, Leiter des Hauptstadtbüros der Zeit, ist der Atlantik-Brücke verbunden. Er war 2004 Young Leader und war auch als Alumni unterwegs auf Veranstaltungen des Vereins. Wenn transatlantisch orientierte Eliten aus diesen Zusammenhängen auch in seinen Artikeln auftauchten, hätte das Zeit Online laut Kodex seit dem Sommer 2012 transparent machen müssen.

Krüger

Schließlich Josef Joffe, Mit-Herausgeber der Zeit, der sich häufig zu Themen mit US-Bezug äußert:

Er kann auf eine beeindruckende Liste an Vereinsmitgliedschaften und Beirats- und Kuratoriumsmandaten schauen, mit denen er sich in der Nähe von Entscheidern aus den USA befindet. Zu nennen wären hier etwa das Aspen Institute Deutschland, das American Institute for Contemporary German Studies oder die American Academy in Berlin.

Krüger

Einen Eindruck über die Artikel der Zeit-Autoren Naß, Brost und Joffe erhält der Leser, wenn er der Verlinkung folgt.

Doch, auch das soll angesprochen werden, bei aller hier geäußerten Kritik: Der Chefredakteur von Zeit Online vertritt, wie an anderer Stelle deutlich wird, eine Sicht, die so in jedem Seminar vor angehenden Journalisten diskutiert werden sollte. In einem Artikel auf Zeit Online schrieb er:

Es ist für mich deshalb schwer vorstellbar, dass Journalisten Akteure eines Themas sind, dem sie sich professionell widmen. Sie können am Abend nicht Wahlkampf für eine Partei machen, deren Innenleben sie tagsüber im Fernsehen kommentieren. Sie können nicht aktives Mitglied eines Verbandes sein, über dessen Aktionsgebiet sie berichten - und sei es noch so verdienstvoll. Sie können keine Aktien empfehlen, die sie selbst besitzen. Sie können nicht Freunde oder Geldgeber zum Gegenstand ihrer Berichterstattung machen.

Wegner

In der Tat. Doch hat der Chefredakteur nun auch die Nerven, bei seinen gut vernetzten Kollegen mit gleichem Maß zu messen? Es ist wohl kaum anzunehmen, dass zukünftig, analog zum Fall Gathmann, unter den Berichten von Bittner, Naß oder Joffe, auch wenn sie keine direkten Autoren für Zeit Online sind und ihre Beiträge "nur" dort veröffentlicht werden, vermerkt wird:

Offenlegung: Der Autor unterhält enge Verbindungen zu einer vom amerikanischen Staat mitfinanzierten Organisation bzw. einem transatlantischen Think Tank. Dies entspricht nicht unseren Grundsätzen. Wir entschuldigen uns dafür.