Chomsky: US-Außenpolitik angetrieben von Angst vor Chinas Aufstieg
Seite 3: Was macht Indien, wie entwickeln sich die USA im Inneren?
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- Ohne eurasische Integration werden Europa und Russland geschwächt
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Indien wird von China, Russland und den USA umworben. Hat Indien bei einer starken chinesisch-russischen Partnerschaft etwas zu befürchten? Kann sich die Quad (Quartett aus den USA, Australien, Indien, Japan) auf die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit Indien im Kontext ihrer Aufgaben und Zielen im indopazifischen Raum verlassen?
Noam Chomsky: Bevor wir Indiens außenpolitische Bedenken erörtern, sollten wir einige schlichte Tatsachen nicht vergessen. Südasien steht vor einer großen Katastrophe. Die Sommerhitze hat bereits ein Ausmaß erreicht, das für die große Mehrheit der Armen kaum noch zu ertragen ist, und es wird noch viel schlimmer werden. Indien und Pakistan müssen bei dieser und ähnlichen Krisen, wie der Bewirtschaftung der schwindenden Wasserressourcen, zusammenarbeiten. Stattdessen verwenden beide Länder ihre knappen Ressourcen für nicht zu gewinnende Kriege, was für Pakistan eine unerträgliche Belastung darstellt.
Beide Staaten haben schwere innere Probleme. In Indien ist Premierminister Modi bestrebt, Indiens säkulare Demokratie zu zerstören, die mit all ihren Mängeln immer noch eine der großen Errungenschaften der postkolonialen Ära ist. Sein Programm zielt darauf ab, eine rassistische hinduistische Ethnokratie zu schaffen.
Er ist ein natürlicher Verbündeter in der wachsenden Allianz von Staaten mit ähnlichen Merkmalen: Ungarn zusammen mit Israel und seinen Partnern des Abraham-Abkommens (Abkommen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Marokko und dem Sudan), die eng mit der Führung der republikanischen Partei verbunden sind.
Dazu kommt die brutale Unterdrückung Kaschmirs, dem wohl am stärksten militarisierten Gebiet der Welt, das Schauplatz von heftigen Repressionen ist. Die Besetzung fremden Territoriums wiederum qualifiziert Modi für die Anbindung ans Abraham-Abkommen, welches Israel und Marokko vereint, die beiden anderen Fälle krimineller Annexion und Besatzung,
All das ist Teil des Hintergrunds, vor dem sich die ernsten Fragen zu Indiens internationalen Beziehungen stellen.
Indien befindet sich in einem schwierigen Balanceakt. Russland ist nach wie vor die bei Weitem wichtigste Waffenquelle des Landes. Es ist in einen langen und sich verschärfenden Grenzstreit mit China verwickelt. Das Land wird daher das sich vertiefende russisch-chinesische Bündnis mit Sorge beobachten. Die von den USA geführte Quad ist eigentlich als zentraler Bestandteil der Einkreisung Chinas gedacht, aber Indien ist zögerlich und nicht bereit, die subimperiale Rolle vollständig zu übernehmen.
Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Quad weigert sich Indien wie der Rest des Globalen Südens, in einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland in der Ukraine verwickelt zu werden. Indien darf sich jedoch nicht zu weit von den USA entfernen. Die Vereinigten Staaten sind ja ein enger Verbündeter, insbesondere in Bezug auf die von den Republikanern forcierte Allianz reaktionärer Staaten.
Alles in allem eine komplexe Situation, selbst wenn man die enormen internen Probleme Südasiens außer Acht lässt.
Die USA sind ein Land in politischem und sozialem Aufruhr und befinden sich möglicherweise inmitten eines historischen Wandels. Ihr Einfluss in der Welt ist in den letzten Jahren geschwächt worden, und ihre staatlichen Institutionen werden von reaktionären Kräften heftig attackiert. Angesichts des starken Rückgangs der US-Demokratie ist sogar von einem radikalen Plan zur Umstrukturierung der nationalen Regierung die Rede, falls Donald Trump im Jahr 2024 an die Macht zurückkehrt. Inwieweit hat die imperiale Überdehnung zum Niedergang der heimischen Gesellschaft beigetragen, und inwieweit kann sich die Innenpolitik auf die außenpolitischen Entscheidungen auswirken? Ist es wahrscheinlicher, dass eine schrumpfende USA eine Bedrohung für den globalen Frieden und die Sicherheit darstellt?
Noam Chomsky: Seit Jahrzehnten ist viel vom Niedergang der USA die Rede. Da ist etwas Wahres dran. Der Höhepunkt der Macht der USA, für den es keine historische Parallele gibt, war 1945. Das war offensichtlich nicht von Dauer und ist seither rückläufig, obwohl die Macht der USA nach einigen Maßstäben ungefähr so groß ist wie damals, wie Sean Kenji Starrs in seinen wichtigen Studien über die Kontrolle des Reichtums durch transnationale Unternehmen zeigt.
Zu diesem allgemeinen Thema gäbe es viel zu sagen. Aber um bei der engeren Fragestellung zu bleiben: Der jüngste Niedergang der USA ist vor allem auf interne Schläge zurückzuführen. Und er ist schwerwiegend. Ein entscheidender Maßstab ist die Sterblichkeit. Die Überschrift einer aktuellen Studie lautet: "Amerika befand sich schon vor Covid in einer Frühsterblichkeitskrise".
Weiter heißt es in der Studie: "Schon bevor die Pandemie begann, starben hier mehr Menschen in jüngerem Alter als in vergleichsweise wohlhabenden Ländern." Die Daten sind erschreckend und gehen weit über das Phänomen des "Verzweiflungtods" unter weißen Amerikanern im erwerbsfähigen Alter hinaus, das zu einer steigenden Sterblichkeit geführt hat, wie man es sonst nur von Kriegen und Seuchen kennt. Das ist nur ein, wenn auch ein deutlicher Hinweis darauf, wie das Land sozioökonomisch und politisch auseinanderfällt, seit der neoliberale Angriff mit Reagan, Bush, Clinton und ihren Nachfolgern ausgeführt wurde.
Der "radikale Plan" zur Aushöhlung der Überreste der amerikanischen Demokratie wurde wenige Tage vor den Wahlen zur US-Präsidentschaft im November letzten Jahres angekündigt und geriet in den darauffolgenden Turbulenzen in Vergessenheit. Erst vor kurzem wurde er durch eine Untersuchung von Axios aufgedeckt. Die Grundidee besteht darin, die seit dem 19. Jahrhundert durchgeführten Programme zur Schaffung eines unpolitischen öffentlichen Dienstes, einer wesentlichen Grundlage für eine funktionierende Demokratie, rückgängig zu machen.
Trump erließ eine Durchführungsverordnung, die dem Präsidenten (der natürlich Trump sein sollte, also letztlich ihm) die Befugnis geben sollte, die obersten Ränge des öffentlichen Dienstes mit Loyalisten zu besetzen – ein Schritt in Richtung des faschistischen Ideals einer mächtigen Partei mit einem Maximalführer, der die Gesellschaft kontrolliert. Biden hat die Anordnung rückgängig gemacht.
Die Demokraten im Kongress versuchen, ein Gesetz zu verabschieden, um einen solchen direkten Angriff auf die Demokratie zu verhindern, aber die Republikaner werden wahrscheinlich nicht mitmachen. Sie gehen davon aus, dass ihre zahlreichen Initiativen zur Etablierung einer dauerhaften Herrschaft als Minderheitspartei Früchte tragen werden. Der reaktionäre Oberste Gerichtshof unter Führung von Bundesrichter John Roberts könnte die Versuche gutheißen.
Noch mehr könnte auf uns zukommen. Der Supreme Court hat beschlossen, sich mit einem haarsträubenden Fall zu befassen, nämlich Moore gegen Harper. Wenn das angenommen würde, erlaubte es den meist republikanischen Gesetzgebern der Bundesstaaten aufgrund der bekannten strukturellen Vorteile der republikanischen Partei, Wahlpersonen zu bestimmen, die die Mehrheitsentscheidung der Wähler:innen zurückweisen und sich gemäß Parteibuch verhalten.
Die "Theorie der unabhängigen staatlichen Gesetzgeber" hat zwar eine gewisse verfassungsrechtliche Grundlage, wurde aber als so ungeheuerlich angesehen, dass sie abgewiesen wurde – bis jetzt, da die Republikaner ihre Kampagne zum Machterhalt vorantreiben, egal, was die zur Passivität verdammte Bevölkerung dazu zu sagen hat.
Ich habe nicht den Eindruck, dass die Kampagne der Republikaner zur Aushöhlung der Demokratie auf eine imperiale Überdehnung zurückzuführen ist. Es gibt eine ganze Reihe wertvoller wissenschaftlicher Erkenntnisse über ihr Wesen und ihre Wurzeln, die anderswo zu liegen scheinen, vor allem im Streben nach Macht.
Es ist nicht klar, wie sich das auf die Außenpolitik auswirken würde. Trump selbst ist eine tickende Zeitbombe. Er hat keine klare Idee im Kopf, außer sich selbst! Er hat auch eine Vorliebe dafür, alles zu zerstören, was andere mit aufgebaut haben – wobei er sich immer sehr eng an das oberste Prinzip hält: die Superreichen und die Macht der Konzerne zu bereichern, zumindest den Teil, der seine Majestät nicht ankratzt. Seine Konkurrenten in der Partei haben so viel Ehrfurcht und Angst vor seiner Macht über die Massen, dass sie kaum etwas sagen.
Die allgemeinen Auswirkungen auf den Weltfrieden und die Sicherheit scheinen klar genug zu sein. Trumps Triumphe in der Außenpolitik haben die beiden größten Bedrohungen für das Überleben der organisierten menschlichen Gesellschaft erheblich verstärkt: Umweltzerstörung und Atomkrieg. Beide wurden von seiner Abrissbirne nicht verschont. Er stieg aus dem Pariser Abkommen über die drohende Klimakatastrophe aus und tat, was er konnte, um Vorschriften zu beseitigen, die die Klimawandel-Auswirkungen auf die Amerikaner etwas abschwächen.
Er setzte das (von G.W. Bush begonnene) Programm der Republikaner zur Demontage des Rüstungskontrollsystems fort, das mühsam aufgebaut wurde, um die Bedrohung durch einen Atomkrieg zu verringern. Er hat auch das gemeinsame Abkommen mit dem Iran über die Atompolitik (JCPOA) zunichtegemacht und damit gegen die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats zu diesem Abkommen verstoßen, was wiederum die globalen Bedrohungen erhöht hat.
Was er in bestimmten Fragen als neuer Präsident genau tun würde, kann man nur vermuten. Vielleicht das, was er gerade auf Fox News gehört hat.
Die Vorstellung, dass die Zukunft der Welt bald wieder in solchen Händen liegen könnte, übersteigt fast die Vorstellungskraft.
An wichtigen Aufgaben für die Zukunft mangelt es also nicht.
Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".