Chomsky: "Wird Putin einfach die Koffer packen und sich davonschleichen?"

Seite 3: Gefährliche Annahme: Putin wird bei Niederlage nicht militärischen Trumpf ziehen

Zu den Aussichten auf eine Friedensregelung wird so wenig berichtet oder diskutiert, dass es wenig zu sagen gibt. Wenig, aber nicht nichts. In der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs, der wichtigsten Zeitschrift des Establishments, berichten Fiona Hill und Angela Stent – hoch angesehene politische Analysten mit engen Verbindungen zur Regierung – Folgendes:

Nach Angaben mehrerer ehemaliger hochrangiger US-Beamter, mit denen wir gesprochen haben, scheinen sich russische und ukrainische Unterhändler im April 2022 vorläufig auf die Umrisse einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben. Die Bedingungen dieser Einigung hätten darin bestanden, dass sich Russland auf die Positionen zurückzieht, die es vor dem Beginn der Invasion am 24. Februar innehatte. Im Gegenzug würde sich die Ukraine verpflichten, keine Nato-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern zu erhalten.

Auf der Grundlage problematischer Beweise geben Hill und Stent den Russen die Schuld für das Scheitern dieser Bemühungen, erwähnen aber nicht, dass der britische Premierminister Boris Johnson sofort nach Kiew flog und die Botschaft überbrachte, dass die westlichen Unterstützer der Ukraine die diplomatische Initiative nicht unterstützen würden, gefolgt von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, der die offizielle US-Position bekräftigte, dass Washingtons Ziel in diesem Krieg die "Schwächung" Russlands sei, was bedeute, dass Verhandlungen vom Tisch seien.

Ob solche Initiativen weiter unternommen werden, wissen wir nicht. Wenn ja, würde es ihnen nicht an Unterstützung in der Bevölkerung mangeln, nicht nur im Globalen Süden, sondern sogar in Europa, wo "77 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass der Westen Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges aufnehmen sollte." Überraschenderweise soll mehr als die Hälfte der Slowaken einen russischen Sieg befürworten.

Angenommen, die Verhandlungen scheitern oder werden gar nicht erst in Erwägung gezogen. Was dann? Der allgemeine Expertenkonsens scheint zu sein, dass es zu einem langwierigen Krieg kommen wird, mit all seinen tragischen Folgen. General Austin und andere US-Beamte haben die Ansicht vertreten, dass die Ukraine Russland aus der gesamten Ukraine vertreiben kann, vermutlich einschließlich der Krim. Nehmen wir an, dass dieses Szenario eintritt.

Dann stellt sich die entscheidende Frage: Wird Putin seine Koffer packen und sich stillschweigend in die Dunkelheit davonschleichen? Oder wird er die konventionellen Waffen einsetzen, über die er nach einhelliger Meinung verfügt, um den Angriff auf die Ukraine zu eskalieren? Die USA setzen auf Ersteres, sind sich aber durchaus im Klaren darüber, dass sie dabei das Leben der Ukrainer und weit mehr dafür aufs Spiel setzen.

Das berichtet die New York Times:

Einige US-Beamte äußern die Befürchtung, dass die gefährlichsten Momente noch bevorstehen, auch wenn Putin bisher eine Eskalation des Krieges vermieden hat, die westliche Beamte zuweilen verblüfft. Er hat nur begrenzt versucht, kritische Infrastrukturen zu zerstören oder ukrainische Regierungsgebäude anzugreifen. Er hat die Versorgungszentren außerhalb der Ukraine nicht angegriffen. Zwar hat er jede Woche niedrigschwellige Cyberangriffe gegen ukrainische Ziele durchgeführt, doch waren sie relativ simpel, vor allem im Vergleich zu den Fähigkeiten, die Russland nachweislich besitzt, wie man z. B. beim SolarWinds-Angriff auf amerikanische Regierungs- und Geschäftssysteme sehen konnte, der kurz vor dem Amtsantritt von Biden entdeckt wurde.

Im selben Bericht wird Putins Warnung zitiert:

Wenn sich die Situation weiterhin so entwickelt – und damit ist die Beteiligung der USA an der jüngsten ukrainischen Gegenoffensive gemeint – wird die Antwort ernster ausfallen.

Zur Veranschaulichung: Putin "bezeichnete die jüngsten russischen Angriffe mit Marschflugkörpern auf die ukrainische Infrastruktur als 'Warnangriffe'."

Das ukrainische Militär versteht diese Warnung sehr gut. Der ukrainische Oberbefehlshaber, General Valery Zaluzhny, schreibt, dass russische Marschflugkörper im ganzen Land zuschlagen könnten, ohne Chance auf Vergeltung, und fügt hinzu, dass "ein begrenzter Atomkrieg nicht ausgeschlossen werden kann."

Wie wir alle wissen, ist die Eskalationsleiter vom begrenzten zum totalen Atomkrieg nur allzu leicht zu erklimmen.

Vereinfacht ausgedrückt, beruht die Position der USA, dass der Krieg fortgesetzt werden muss, um Russland ernsthaft zu schwächen und Verhandlungen zu blockieren, auf einer recht bemerkenswerten Annahme: dass Putin angesichts seiner Niederlage seine Sachen packen und sich in ein bitteres Schicksal davonschleichen wird.

Er wird nach dieser Theorie gerade das nicht tun, was er leicht tun könnte: mit konventionellen Waffen, die Russland straffrei einsetzen könnte, in der gesamten Ukraine zuschlagen, kritische Infrastrukturen und ukrainische Regierungsgebäude zerstören, Nachschubknotenpunkte außerhalb der Ukraine angreifen und zu ausgeklügelten Cyberangriffen auf ukrainische Ziele übergehen. Wie die US-Regierung und die ukrainische Militärführung einräumen, liegt all das problemlos im Rahmen der konventionellen Kapazitäten Russlands – mit der Möglichkeit einer Eskalation bis hin zu einem nicht mehr weit entfernten Atomkrieg.

Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Diese Schlüsse werden aber allzu schnell verdrängt.

Nachdenkenswert ist auch die Tatsache, dass "Herr Putin eine Eskalation des Krieges auf eine Weise bisher vermieden hat, die westliche Beamte bisweilen verblüfft hat." Die gleiche Verwunderung wurde schon früher geäußert. Die USA und Großbritannien waren ja auch von der russischen Invasion am Anfang überrascht worden und überschätzten das Ausmaß bei Weitem. "Wir sind davon ausgegangen, dass die Russen wie wir in ein Land einmarschieren würden", so ein britischer Beamter.

Wenn die USA zusammen mit den Briten in ein Land einmarschieren, gehen sie sofort zur Sache und zerstören die zentralen Kommunikations-, Transport- und Energiesysteme, also alles, was das Land am Laufen hält. Zur Überraschung der Kriegsplaner in den USA und Uk hat Putin das nicht getan. Die Presse berichtet:

In Kiew und einem Großteil des westlichen Teils des Landes ist das Vorkriegsleben für die Zivilbevölkerung weitgehend zurückgekehrt. Die Menschen essen in Restaurants, trinken in Bars, tanzen und genießen entspannte Sommertage in Parks.

Alles andere als ein Krieg im Stil der USA und Großbritanniens.

Westliche Militäranalysten nennen einige Gründe, warum "Putins Bomber zwar die Ukraine verwüsten könnten, sie sich aber zurückhalten". Was auch immer die wirklichen Gründe sein mögen, die Tatsache der Zurückhaltung bleibt bestehen.

Das Spiel mit dem Leben von Ukrainern und weit darüber hinaus ist ebenfalls eine Tatsache, aber findet wenig Beachtung. Das ist ein weiterer Punkt, über den man nachdenken sollte.

Schließlich ist es auch sinnvoll, eine Warnung zu wiederholen. Propaganda hört nie auf und erreicht in Krisenmomenten einen Höhepunkt an Intensität. Triumphale Bekundungen sollten überprüft werden. So wurde beispielsweise viel über den angeblichen Bruch Indiens mit Russland wegen des Krieges berichtet, der sich auf einige Worte von Premierminister Modi bei einem Treffen mit Putin in Samarkand stützt. Die zitierten Worte lauten:

Unsere Zeit ist nicht eine, die von Krieg geprägt ist.

Ausgelassen wird, dass Modi weiter betonte:

Die Beziehungen zwischen Indien und Russland haben sich um ein Vielfaches intensiviert. Wir schätzen die Beziehung auch deshalb, weil wir in den letzten Jahrzehnten immer befreundet waren. Die ganze Welt weiß, wie das Verhältnis zwischen Russland und Indien und anders herum ist. Jeder weiß, dass es eine unzerstörbare Freundschaft ist.

Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".

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