Cognitive Warfare – die Nato und das "gehackte" Individuum
Seite 3: Hard Power und Soft Power
Es mag ungewöhnlich erscheinen, dass sich ein Militärbündnis so für ein Thema interessiert, das zunächst nichts mit herkömmlichen Waffen wie Panzern oder Flugzeugen zu tun hat. Üblicherweise hat jede Armee als eine Kernaufgabe das Ausüben von sogenannter "Hard Power", also militärischer Gewalt. Die Kriegsschauplätze sind daher dort zu finden, wo Kampfjets fliegen, wo Panzer und Schiffe fahren und seit Neuestem auch dort, wo Satelliten oder Raketen fliegen.
Auch das Internet ist wichtig, denn der Cyberspace verbindet all diese Kriegsschauplätze miteinander, wie bereits auf Seite 1 des "Cognitive Warfare Concept" des Innovation Hub festgestellt wird.
Die Nato hat folglich für sich fünf Kriegsschauplätze festgelegt, auf denen gekämpft wird: zu Wasser, zu Lande und in der Luft sowie im Internet oder "Cyberspace" (offiziell seit 2016) und im Weltraum (seit 2019).
Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was mit Wasser oder Land gemeint ist, und wie eine Armee auf diesen Kriegsschauplätzen kämpft. Soldaten fahren einen Panzer, lenken ein Flugzeug oder steuern ein Schiff. Dabei kann man leicht vergessen, dass es neben dem Ausüben von "Hard Power" noch ein zweites, mindestens genauso wichtiges Aufgabenfeld jedes Militärs gibt, nämlich den Bereich der "Soft Power".
Anders als bei Hard Power geht es hier nicht um direkte Gewalt, sondern um oft unbemerkte Manipulation. "Soft Power ist die Fähigkeit, andere zu überzeugen, das zu tun, was du willst, ohne dass du Gewalt oder Zwang anwendest", erklärte bereits 2004 der US-Politikprofessor Joseph Nye in seinem Buch "Soft Power: The means to success in world politics" (S. 11).
Zu einem Krieg mit Waffen gehört daher immer auch ein Informationskrieg. Es ist nicht neu, dass auch die Bevölkerung und ihre Meinung Ziel des Militärs sind. "Dass wir die Schwächen der menschlichen Natur ausnützen, um den Verstand von Einzelnen besser erreichen zu können, ist keine neue Idee", gibt der französische General André Lanata offen zu.
Damit beschreibt er nicht nur, wie der Gedankenkrieg funktioniert, sondern wie Kriegspropaganda schon immer funktioniert hat. Ein Beispiel für klassische Kriegspropaganda ist der amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der im Jahr 1979 die afghanischen Mujaheddin in ihrem Kampf gegen die Sowjetunion anstachelte: "Euer Kampf ist gerecht und Gott ist auf eurer Seite!" verkündete er einer Gruppe afghanischer Kämpfer, und forderte sie auf, sich ihr Land und ihre Moscheen zurückzuholen.
Je größer das Wissen um Soft Power wurde, zum Beispiel durch psychologische Forschung, desto ausgefeilter wurden die Methoden der Kriegspropaganda. Noch vor der Jahrtausendwende verstand das US-Militär als erstes die Bedeutung des sogenannten "Informationskrieges", und schon im Jahr 1996 warnten US-Strategen vor der großen Bedeutung, die dem Informationskrieg und der Kontrolle von Wissen in den folgenden Jahrzehnten zukommen sollte.
Im Jahr 2000 veröffentlichte das Joint Chiefs of Staff, ein Zusammenschluss der höchsten Generäle des Verteidigungsministeriums im Pentagon, die "Joint Vision 2020".
In diesem Strategiepapier wurden die grundlegenden Themen und Ziele für das Pentagon in den kommenden Jahren besprochen und die Autoren forderten eine "Full Spectrum Dominance" des U.S. Militärs, also eine möglichst totale Vorherrschaft auf allen Kriegsschauplätzen. Dabei stellen sie fest, dass neben der Dominanz zu Wasser, zu Land, in der Luft und, schon damals aufgeführt, im Weltall, auch die Vorherrschaft im Bereich der Informationen wichtig ist.
Das bedeutet auch, dass das Militär darüber bestimmen kann, welche Informationen der Bevölkerung zugänglich gemacht werden und welche nicht.
Die Weiterentwicklung des Informationskrieges
Seit dem Jahr 2000, als die Joint Vision 2020 herausgegeben wurde, haben sich nicht nur die konventionellen Waffen weiterentwickelt, sondern auch die Kriegspropaganda und die Waffen im "Informationskrieg" sind immer weiter verbessert worden.
Im Kampf um die "Hearts and Minds", also die Herzen und Köpfe der Bevölkerung machte die Nato nun den nächsten großen Schritt.
Obschon der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg noch im Jahr 2020 vor einer "Militarisierung des Weltraums" warnte angesichts der Aufnahme des "Weltraums" als fünfter Kriegsschauplatz, beschäftigte sich die Nato fast gleichzeitig schon mit einem weiteren neuen Kriegsschauplatz: den Gedanken und Gefühlen jedes einzelnen Menschen.
Sie spricht dabei von "kognitiver Kriegsführung", stellt diese zunächst als reinen Abwehrkampf dar und überlegt nun, ob dieser neue Kriegsschauplatz, die "menschliche Sphäre", zum sechsten Schlachtfeld der Nato erklärt werden soll.
Wieso die Nato neben dem "Cyberspace", den sie schon als Kriegsschauplatz ausgerufen hat, auch noch Cognitive Warfare braucht, was ebenfalls unter anderem auf dem Internet basiert, wird allerdings in den Ausführungen der Strategen nicht ganz klar.
Cognitive Warfare als "fortschrittlichste Form der Manipulation"
Der Gedankenkrieg der Nato ist dabei eine konsequente und sehr extreme Weiterentwicklung des Informationskriegs und damit "die fortschrittlichste Form der Manipulation, die es heute gibt", wie Marie-Pierre Raymond, eine Verteidigungsexpertin, in einem Webinar der Nato schwärmt.
"Die Zeiten sind lange vorbei, an dem Kriege geführt wurden, um mehr Land zu gewinnen. Heute ist das neue Ziel, die Ideologien des Gegners zu verändern, was das Gehirn zum Dreh- und Angelpunkt des Menschen macht.“ Damit wird "der Verstand [...] zum Schlachtfeld", erklärt Raymond.
Um auf diesem Schlachtfeld zu kämpfen, schlagen die Strategen vor, die Bedeutung der zwei "Texte", die wir im Internet hinterlassen, auszunutzen. Wie man mit Hilfe der Informationsrevolution den Menschen auf bisher nie dagewesene, höchst aufwändige Weise manipulieren möchte, wird ausführlich in den Dossiers erklärt:
All die Informationen, die wir unbewusst hinterlassen, kann man sammeln und auswerten. "Man kann Big Data gut als Hebel nutzen, um die Art und Weise, wie du denkst, zu verändern", stellt du Cluzel, der die Arbeit von Shoshana Zuboff gut kennt, fest.
Wie eingangs schon festgestellt wurde, hat die Informationsrevolution zwei Seiten. Auf der einen Seite ermöglicht sie es den Menschen, sich frei und unabhängig zu informieren. Auf der anderen Seite werden wir durch die vielen Informationen, die wir unbewusst über uns preisgeben, immer gläserner und durchschaubarer.
Mit all den Daten über uns kann man mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein Persönlichkeitsprofil von uns erstellen. "Das Smartphone, ist ein gewaltiger psychologischer Fragebogen, den wir konstant bewusst und unbewusst ausfüllen", erklärt der Psychologe Michael Kosinski.
Jede Information über uns wird so zu einem weiteren möglichen Faden, den man mit geschickter Propaganda greifen und an dem man ziehen kann, um uns zu lenken. Am Ende hängt man an so vielen Fäden, dass das Denken, Fühlen und Handeln wie bei einer Marionette von außen gesteuert werden kann.
Das gelingt nicht immer, aber die kognitive Kriegsführung kann im Idealfall den Menschen wie einen Computer "hacken", wie es auf Seite 7 der Innovation-Hub-Broschüre "Cognitive Warfare" unter der Überschrift "Hacking the individual" heißt.
Besonders schockierend ist, dass die kognitive Kriegsführung in diesem Kampf nicht bei den Gedanken und Gefühlen der Menschen haltmacht. Man möchte so weit kommen, dass man bei den Mensch Krankheit, Behinderung oder Leid hervorrufen und potentielle Gegner "neutralisieren" und deren Tod herbeiführen kann – was natürlich zunächst vor allem dem Gegner unterstellt, aber eben auch zum Anlass genommen wird, entsprechende Kenntnisse weiterzuentwickeln.
Die Waffen dazu kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Nicht nur psychologische Forschung, sondern auch die Neurowissenschaften werden immer stärker mit einbezogen.
Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Kognitionswissenschaften, kurz NBIC, sind die Wissenschaften, die im Gedankenkrieg die Waffen bereitstellen und gemeinsam einen "sehr gefährlichen Cocktail" ergeben, "der das Gehirn noch mehr manipulieren kann".
Damit ergibt sich nicht nur ein neues Schlachtfeld, sondern die Militarisierung hält auch in der Gehirnforschung Einzug. Das ist bedenklich, denn so werden auch Wissenschaften, die mit dem Militär eigentlich gar nichts zu tun haben, in die kognitive Kriegsführung der Nato einbezogen.
All das findet du Cluzel jedoch nicht bedenklich, sondern er empfiehlt ausdrücklich den Gedankenkrieg als "eines der heißesten Themen für die Nato im Moment".
Im Fokus des Nato-Innovationswettbewerbs
Eine konkrete Vorstellung davon, wie und mit welchen Technologien im Gedankenkrieg gearbeitet wird, gaben die zehn Kandidaten im Finale des Nato-Innovationswettbewerbs 2021, der in Kanada gehostet wurde. Acht der zehn Kandidaten haben ein ähnliches Konzept: Sie haben Computerprogramme entwickelt, die mit Hilfe von künstlicher Intelligenz große Datenmengen im Internet scannen und analysieren können, um so die Meinungen, Gedanken und den Informationsaustausch der Menschen besser überwachen und vorhersagen zu können.
Das beliebteste Ziel der Computerprogramme sind immer die sozialen Medien: Facebook oder Meta, Twitter, Tik-Tok, und seit kurzem auch Telegram stehen im Fokus.
Das Team, das den zweiten Platz belegt, hat verstanden, um was es geht: Vertrauen steht im Zentrum, betonen die Entwickler, die mit Hilfe von Big Data Analysen und Maschinenlernen das Internet überwachen wollen.
Der Gewinner ist das Unternehmen Veriphix, dessen Gründer John Fuisz ihr Konzept vorstellt. Sie haben ein Frühwarnsystem entwickelt, das "nudges", also kleine psychologische "Schubser", sammelt, erkennt und auswertet. Genau wie bei Propaganda geht es bei diesen kleinen Schubsern um ständige Wiederholung.
Nur, was immer wiederholt wird, das hat Einfluss darauf, was Menschen am Ende glauben. Das System verfolgt auch, wie sich die Gedanken und das, was Menschen über ein bestimmtes Thema glauben, verändern. Das können ganz unterschiedliche Themen sein wie Klimasicherheit oder Covid-19, erklärt Fuisz.
Am besten passiert diese Analyse so schnell, dass ihr System Alarm geben kann, noch bevor sich diese Gedanken in konkreten Handlungen, wie beispielsweise Demonstration oder Protesten auf der Straße für alle sichtbar zeigen.
Auch wenn solche Beschreibungen für viele Menschen unrealistisch klingen oder schwer vorstellbar sind, ist es wichtig zu verstehen, wie aktuell das Thema ist: Das Programm sei "jetzt schon im kommerziellen Einsatz", freut sich John Fuisz und fügt hinzu, dass Verifix seit 2016 schon in acht Fällen, die mit der Regierung in Bezug standen, getestet worden sei.
Darunter sind beispielsweise Wahlen in den USA sowie Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Eine Liste seiner Partner zeigt das Unternehmen Nike sowie die US Air Force, aber Fuisz möchte in der Öffentlichkeit lieber nicht näher über seine Kunden sprechen.
Bemerkenswert ist auch der Gewinner des dritten Platzes. Das Team stellt ein System vor, bei dem es nicht um Maschinenlernen oder Big Data geht, sondern das im Kriegsfall eingesetzt werden soll.
Für seine Präsentation wählt das Team ein interessantes Szenario: Man geht von einem Einmarsch Russlands in der Ukraine aus, und erklärt ein System, mit dem man die russische Kommunikation hacken könnte, "wenn man in solch einem Fall arbeiten würde". Damit könnte man die russische Artillerie bekämpfen und die russischen Systeme stören.
Der Wettbewerb war am 30. November 2021, die Invasion Russlands in der Ukraine erfolgte erst am 24. Februar 2022.
Beispiellose Gewaltspirale
Zur Erinnerung: eigentlich behauptet die Nato ein "Verteidigungsbündnis" zu sein, das "keine Konfrontation sucht". Zwei Jahre bevor sie 1949 gegründet wurde, verkündete der damalige US-Präsident Harry S. Truman: "Ich glaube, dass wir den freien Völkern dabei helfen müssen, ihr eigenes Schicksal auf ihre eigene Weise zu gestalten."
Doch die Nato-Länder haben sich nicht daran gehalten und immer wieder Kriege gegen andere Länder geführt, wie beispielsweise in Jugoslawien, dem Irak, Syrien oder Libyen. All diese Kriege haben zu vielen Toten und Leid geführt, trotzdem ist die Nato bis heute darum bemüht, als "Verteidigungsbündnis" angesehen zu werden und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.
Immer größere Zweifel der Bevölkerung an der Nato, die von US-Präsident Donald Trump als "obsolet" und von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als "hirntot" bezeichnet wurde, haben diese nun veranlasst, auf drastische Weise zu reagieren.
Zum ersten Mal in ihrer Geschichte plant die Nato, nicht nur ihre Gegner, sondern jeden Menschen und damit möglicherweise auch die eigene Bevölkerung ins Visier zu nehmen.
Der von ihr ausgerufene "Cognitive Warfare" benutzt neueste Techniken der Soft Power und Manipulation zur Bevölkerungskontrolle – damit nimmt das Militärbündnis auch jeden Einzelnen von uns als potentielles Ziel an.
Die Nato konnte durch ihre bisherigen Kriege keinen Frieden schaffen, und sie wird auch durch die Ausweitung ihres Kampfeinsatzes auf ein mögliches sechstes Schlachtfeld, unseren Verstand, keine friedlichere Welt hinterlassen.
Wir brauchen heute nicht noch mehr Manipulation und nicht noch mehr Kriege auf allen möglichen Kriegsschauplätzen. Wir brauchen vielmehr Aufklärung, einen offenen Umgang miteinander und ein echtes Bemühen um Frieden, zu Wasser, zu Land und in der Luft genauso wie in den Herzen und Köpfen jedes Einzelnen.