Corona: Unerklärliche Effekte bei der Übersterblichkeit
- Corona: Unerklärliche Effekte bei der Übersterblichkeit
- Verlauf der Übersterblichkeit im Jahr 2020
- Verlauf der Übersterblichkeit im Jahr 2022
- Schlussbemerkungen
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2022 war ein Großteil der Bevölkerung geimpft. Dennoch weisen die zuständigen Stellen eine massive Übersterblichkeit aus. Wie kann das sein?
Am 26. Mai 2023 ist eine Studie von mir auf Telepolis erschienen, in der ich anhand von Jahreswerten der Frage nachgegangen bin, wie sich das Sterbegeschehen während der Coronapandemie in Deutschland entwickelt hat.1 Da Jahreswerte relativ grobe Kenngrößen sind, die keine Rückschlüsse auf zeitliche Abläufe innerhalb des Jahres erlauben, konnten etliche Fragen nicht vertiefend untersucht werden. Um diese Lücke zu schließen, werden im Weiteren die Verläufe der Wochenwerte genauer betrachtet.
Mit der Analyse der Wochenwerte verbindet sich die Hoffnung, dass so unter Umständen statistische Zusammenhänge sichtbar werden, die aus den hoch aggregierten Jahreswerten nicht abzulesen sind. Die Auswertung basiert wiederum auf den offiziellen Sterbefalldaten des Statistischen Bundesamtes sowie den Corona-Sterbezahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI).2
Im nachfolgenden Kapitel wird das Prognosemodell zur Ermittlung der wöchentlichen Übersterblichkeit in seinen Grundzügen vorgestellt. Für das Verständnis der Resultate der Auswertung ist das theoretische Hintergrundwissen nicht unbedingt erforderlich.
Modellansatz zur Abschätzung der wöchentlichen Übersterblichkeit
Analog zum Vorgehen bei der Ermittlung der jährlichen Übersterblichkeit muss auch für die wöchentlichen Sterbezahlen ein Referenzmaß gefunden werden, das es erlaubt, die Höhe der Übersterblichkeit verlässlich abzuschätzen.
Lesen Sie hier ausgewählte Leserreaktionen zu dem Beitrag von Günter Eder.
Das Statistische Bundesamt empfiehlt, hierfür den mittleren Verlauf der Sterbedaten der vorausgegangenen vier Jahre zu verwenden. Das ist im Prinzip ein durchaus sinnvolles und praktikables Verfahren, verträgt sich jedoch nicht mit dem Modellansatz, der für die Ermittlung der jährlichen Übersterblichkeit gewählt worden ist.
Hier ist die zu erwartende Zahl an Sterbefällen aus der Gesamtzahl der Sterbefälle ohne die Grippetoten abgeleitet worden (vgl. Ausführungen in "Corona und kein Ende: Rätselhafte Übersterblichkeit im Jahr 2022"). Dadurch erhält man tendenziell höhere Übersterblichkeitswerte, als es sonst der Fall wäre.
Aus Gründen der Konsistenz muss bei der wöchentlichen Übersterblichkeit genauso vorgegangen werden. Das bedeutet, dass möglichst nur Sterbedaten in die Berechnung der Basislinie (=Referenzmaßstab) einfließen, die keine oder nur wenig Grippetote enthalten.
Das kann man recht einfach gewährleisten, wenn man die Basislinie ausschließlich aus grippefreien bzw. grippearmen Jahren ableitet. Von den vier Jahren vor Corona trifft das auf die Jahre 2016 und 2019 zu. Man erhält dann die in Abbildung 1 dargestellte Saisonfigur.
Die Basislinie ist das Resultat der regressionsanalytischen Einpassung eines trigonometrischen Polynoms dritter Ordnung in die Wochendaten der Jahre 2016 und 2019. Zum Vergleich ist die Verlaufskurve eingezeichnet, die man erhält, wenn man dem Statistischen Bundesamt folgt und das arithmetische Mittel aus den Einzelwerten der Jahre 2016 bis 2019 berechnet.
Die Kurven stimmen über weite Strecken recht gut überein, auch wenn die auf den Mittelwerten beruhende Variante stärkeren zufälligen Schwankungen unterliegt. Größere Verlaufsunterschiede sind nur im Winter zu verzeichnen. Dadurch, dass in die regressionsanalytisch ermittelte Basislinie nur grippefreie Jahre eingegangen sind, steigt die Kurve im Winter nicht so stark an wie bei dem Mittelwertverfahren, das neben den grippefreien Jahren auch zwei Jahre mit Grippewellen umfasst.
Damit die Basislinie keine zu hohen Schätzwerte für die Übersterblichkeit liefert, muss das Verlaufsniveau noch an die demographische Entwicklung angepasst werden. Da in den nächsten Jahren mit steigenden Sterbezahlen gerechnet wird, bedeutet das, dass die Basislinie so weit angehoben werden muss, dass sie mit der für das Prognosejahr erwarteten Zahl an Sterbefällen übereinstimmt. Das Verfahren führt zu dem in Abbildung 2 dargestellten Übersterblichkeitsverlauf. Aufgetragen ist die prozentuale Abweichung der tatsächlichen Zahl an Sterbefällen von der erwarteten Anzahl.
Der Kurvenverlauf ist gleichermaßen geprägt von zufallsbedingten wie systematischen Effekten. Die meisten der vielen abrupten Ausschläge dürften dem Zufall geschuldet sein und werden hier nicht näher betrachtet. Hinter Ausschlägen, die länger anhalten, verbergen sich hingegen meist konkrete, im Idealfall auch benennbare Ursachen.
Als Beispiel für einen systematischen Effekt können die hohen Übersterblichkeitswerte am Jahresende, also in der kalten Jahreszeit, angesehen werden. Der Effekt ist von Grippewellen her bekannt. Warum das Maximum der Übersterblichkeit in den Coronajahren allerdings durchweg bereits im Dezember des Vorjahres zu beobachten ist und nicht, wie man es von der Grippe gewohnt ist, erst im Februar/März des Folgejahres (vgl. Abb. 1), kann nicht gesagt werden.
Der höchste wöchentliche Übersterblichkeitswert mit 40,2 Prozent ist erstaunlicherweise nicht in den Jahren 2020 oder 2021 zu verzeichnen, als die Coronapandemie ihren Höhepunkt hatte, sondern erst Ende 2022. Und wie der Zufall es will, ruft Christian Drosten ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt das Ende der Pandemie aus. "Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei", sagte er am 26. Dezember 2022 in einem Interview mit dem Tagesspiegel.3 Er hätte kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt für diese Aussage wählen können.
Im Weiteren wird der Frage nachgegangen, ob bzw. welche Einflussgrößen die Übersterblichkeit geprägt haben könnten. Hierfür werden die Verlaufskurven jahresweise betrachtet. Die Corona-Sterbekurve ist in den Graphiken jeweils mit dargestellt.