Cyberkultur

Seite 3: Der Cyberspace ist das Produkt einer sozialen Bewegung

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Es mag seltsam erscheinen, wenn man von einer "sozialen Bewegung" anläßlich eines technischen Phänomens spricht. Hier ist dennoch die These, die wir begründen wollen: Die Entstehung des Cyberspace verdankt sich einer wirklichen sozialen Bewegung - mit ihren Anführern, ihren Schlüsselworten und ihren kohärenten Zielen.

Technik und kollektives Begehren - das Auto als Beispiel

Selbst ohne den Begriff einer sozialen Bewegung kann man in vorläufiger Weise die Existenz von manchmal sehr engen Zusammenhängen zwischen technisch-industriellen Entwicklungen und starken kulturellen Strömungen oder Phänomenen der kollektiven Mentalität erkennen. Das Auto ist in dieser Hinsicht besonders erhellend. Man muß nur die Automobilindustrie und die multinationalen Ölkonzerne anschauen, um die beeindruckende Entwicklung des PKWs während eines Jahrhunderts mit allen ihren Folgen für die Struktur des Landes, der Stadt, der Demographie, der Lärmbelastung und Luftverschmutzung etc. zu erkennen.

Das Auto war die Antwort auf ein tiefes Begehren nach Autonomie und nach individueller Macht. Es hat Phantasien, Gefühle, Freuden und Frustrationen ausgelöst. Das dichte Netz an Werkstätten und Tankstellen, die Clubs, die verbundenen Industrien, die Zeitschriften, die Wettkämpfe, die Mythologie der Straße stellen ein praktisches und mentales Universum dar, das leidenschaftlich von Abermillionen Menschen errichtet wurde. Wenn die Automobilindustrie nicht auf die Wünsche getroffen wäre, auf die sie geantwortet hat und durch die sie ins Leben gerufen wurde, hätte sie dieses Universum niemals aus eigenen Kräften aufbauen können. Der Wunsch ist der Motor und die wirtschaftlichen und institutionellen Formen gestalten, kanalisieren, verbessern und transformieren ihn unweigerlich.

Die Infrastruktur ist nicht beherrschend - das Beispiel der Post

Aber wenn der Anstieg des Automobilmeeres, der das 20. Jahrhundert charakterisiert, primär mit einem Wunsch nach individueller Macht zusammenhängt, dann korrespondiert das Wachstum des Cyberspace noch weitaus stärker mit einem Wunsch nach reziproker Kommunikation und einer kollektiver Intelligenz. Aus dieser Perspektive ist ein Fehler, wenn man die Datenautobahn mit dem Cyberspace verwechselt.

Der Cyberspace ist nicht nur die technische Infrastruktur einer bestimmten Telekommunikation, sondern eine Weise, bestehende Infrastrukturen zu nutzen, wie immer mangelhaft und disparat sie auch sein mögen. Die Datenautobahn verweist auf eine Einheit von logistischen Normen, Kupfer- oder Glasfaserkabeln, Satellitenverbindungen etc. Der Cyberspace hingegen zielt, mit welchen technischen Mitteln auch immer, auf eine bestimmte Beziehungsform zwischen Menschen. Der Cyberspace ist, mit anderen Worten, keine bestimmte Infrastruktur, sondern eine gewisse Weise, die bestehenden Infrastrukturen zu nutzen. Eine historische Analogie kann diesen wichtigen Punkt erhellen.

Die materiellen und organisatorischen Techniken von Poststationen gab es in China bereits seit der frühen Antike. Obgleich sie auch vom Römischen Reich eingesetzt wurden, gerieten sie in Europa während des Mittelalters in Vergessenheit. Poststationen wurden in China wegen des riesigen mongolischen Reichs im 13. Jahrhundert notwendig. Die Menschen der Steppe haben das Beispiel und die Prinzipen einem Okzident überliefert, der das jahrhundertelang vergessen hatte. Seit dem 15. Jahrhundert richteten einige Staaten Europas Systeme von Poststationen im Dienst der zentralen Regierung ein. Diese Kommunikationsnetze sollten neue Nachrichten aus allen Orten des Königreiches empfangen und Befehle so schnell wie möglich weiterleiten. Genauso wie im Römischen Reich und in China war das Postsystem auf diese Aufgabe beschränkt.

Die wirkliche gesellschaftliche Erneuerung, die die Beziehungen der Menschen untereinander betraf, ereignete sich erst im 17. Jahrhundert mit dem Einsatz der Technik zugunsten der Postverteilung von Station zu Station und zwischen weit voneinander entfernten Individuen, nicht nur vom Zentrum zur Peripherie und umgekehrt.

Diese Entwicklung war die Folge eines gesellschaftlichen Drucks, der zunehmend die ursprüngliche Struktur Zentrum/Peripherie hinter sich ließ, zuerst durch illegitime Umleitungen (eine Unrechtmäßigkeit, die vom Staat toleriert, ja sogar unterstützt wurde) und später immer offener und offizieller. Dadurch blühten die wirtschaftlichen und administrativen Korrespondenzen, die Briefliteratur, die europäische Republik des Geistes (Netzwerke der Weisen, der Philosophen) und Liebesbriefe auf .... Die Post ist als gesellschaftliches Kommunikationssystem eng mit den stärker werdenden Ideen und der Praxis verbunden, die in der Meinungsfreiheit und dem Begriff eines freien Vertrags zwischen einzelnen einen großen Wert sehen.

An diesem Beispiel sieht man sehr gut, wie eine bestimmte Infrastruktur der Kommunikation eine kulturelle Strömung fördern kann, die beginnt, ihre gesellschaftliche Bedeutung zu ändern und ihre technische und organisatorische Evolution zu stimulieren.

Nebenbei sei bemerkt, daß das System der Poststationen, seit es von der Monopolisierung seitens des Staates zu einer allgemeinen Dienstleistung überging, mehr und mehr zu einer rentablen wirtschaftlichen Aktivität wurde, die von Privatunternehmern betrieben wurde. Erst im 19. Jahrhundert war die Post für die Gesamtheit der europäischen Bevölkerung, insbesondere für die ländliche, überall verbreitet. Das System der Poststationen existierte als technische Infrastruktur bereits Hunderte von Jahren, aber erst die Europäer des klassischen Zeitalters haben es zu einem Gut der Zivilisation gemacht und ihm eine tiefe menschliche Bedeutung gegeben, indem sie die neue Praxis der häufigen und normalen Korrespondenz zwischen einzelnen erfanden.

Der PC und die soziale Bewegung

Mit denselben Ideen wollte die soziale kalifornische Bewegung "Computers for the people" die rechnerische Macht des Computers in die Hände der einzelnen geben, um sie ganz aus der Vormundschaft der Techniker zu befreien. Als Folge dieser "utopischen" Bewegung fielen die Preise am Ende der sechziger Jahre so, daß sich auch Privatleute Computer kaufen konnten, und die neu Eingeweihten konnten seine Bedienung ohne technische Spezialisierung erlernen.

Die gesellschaftliche Bedeutung der Computertechnik wurde vom Kopf auf die Füße gestellt. Was zunächst die soziale Bewegung beabsichtigte, hat sich die Industrie zweifellos angeeignet und für sich instrumentalisiert. Aber man muß auch sehen, daß die Industrie auf ihre Weise die Ziele der Bewegung verwirklicht hat. Man muß hervorheben, daß die Computertechnik für Privatpersonen von keiner Regierung und auch von keiner der mächtigen multinationalen Firmen beschlossen oder gar vorhergesehen wurde. Erfunden und vorangetrieben wurde sie von einer sozialen Bewegung, deren Ziel die Aneignung der technischen Macht zugunsten der Menschen war, die bislang in den Händen von großen bürokratischen Institutionen lag.

Der Cyberspace und die soziale Bewegung

Das Anwachsen der computervermittelten Kommunikation wurde durch eine internationale Bewegung junger und gebildeter Menschen eingeleitet, die in den Städten lebten. Am Ende der achtziger Jahre hatte diese Bewegung ihre große Zeit. Ihre Mitglieder erforschten und konstruierten einen Raum der Begegnung, der Gemeinsamkeit und der kollektiven Erfindung. Obgleich das Internet den großen Ozean auf dem neuen Planeten der Information darstellt, sollte man aber nicht die zahlreichen Flüsse vergessen, die ihn speisten: unabhängige Netze von Firmen, Organisationen oder Universitäten, aber auch die traditionellen Medien wie Bibliotheken, Museen, Zeitungen, Fernsehen etc. Der Cyberspace - nicht nur das Internet - basiert auf der Grundlage dieses "hydrographischen Netzwerks", zu dem zumindest die Bulletin Board Systeme gehören.

Ausgebaut haben den Cyberspace überwiegend anonyme, unentgeltlich arbeitende Menschen, die beständig die Kommunikationsmittel verbesserten, und nicht die großen Namen, die Regierungen oder Firmenchefs, von denen uns in den Medien bis zum Überfluß erzählt wird. Man muß von den Visionären der ersten Stunde sprechen, beispielsweise von Engelbart und Licklider, die am Anfang der sechziger Jahre dachten, daß man die Computernetze zugunsten einer kollektiven Intelligenz einsetzen sollte. Man muß an die Techniker denken, die zum Funktionieren der ersten elektronischen Briefe und Foren beitrugen, an die Studenten, die die Kommunikationssoftware für die Computer unentgeltlich entwickelten, verteilten und verbesserten, an die Millionen Nutzer und Verwalter von Bulletin Board Systemen ...

Das Internet, das Symbol und der wertvollste Bestandteil des Cyberspace, ist eines der phantastischsten Beispiele für eine internationale und kooperative Entwicklung. Es ist der technische Ausdruck einer von unten ausgehenden Bewegung, die kontinuierlich aus vielen lokalen Initiativen unterhalten wurde.

Wie die Korrespondenz zwischen einzelnen erst den "wirklichen" Gebrauch der Post entstehen ließ, erfand die beschriebene soziale Bewegung wahrscheinlich erst den "wirklichen" Gebrauch des Telefonnetzes und des PC: der Cyberspace als Praxis einer interaktiven, reziproken Kommunikation in und zwischen Gemeinschaften, als Horizont einer lebendigen, heterogenen und nicht zu totalisierenden virtuellen Welt, an der jeder Mensch teilnehmen und zu der jeder etwas beitragen kann. Jeder Versuch, die neue Kommunikationsstruktur wider in alte mediale Formen zurückzuführen (mit dem Verteilerschema "zentraler Sender für periphere Empfänger"), kann nur den Beitrag des Cyberspace für die Evolution der Zivilisation schmälern, selbst wenn man - leider! - die auf dem Spiel stehenden wirtschaftlichen und politischen Interessen gut versteht.

Die exponentielle Zunahme der Teilnehmer am Internet geht den industriellen Multimedia-Projekten und auch den politischen Losungen der "Datenautobahnen" vorher, die seit Beginn der achtziger Jahre im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Diese offiziellen Projekte stellen den Versuch seitens der Regierungen, der großen Firmen und Medienunternehmen dar, die Macht über einen sich entwickelnden Cyberspace zu erlangen, dessen wirkliche Erbauer - oft ganz bewußt - eine fragile und bedrohte Zivilisation erfanden, die sie neu schaffen wollten und deren Programm wir im Folgenden genauer darstellen werden.