Cyberkultur

Seite 5: Wie die Cyberkultur das kritische Denken bedroht

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Welche Rolle spielt das kritische Denken?

Die Cyberkultur wird von einer breiten sozialen Bewegung getragen, die eine Evolution der Zivilisationsgrundlagen ankündigt und einleitet. Die Rolle des kritischen Denkens besteht darin, auf ihre Ausrichtung und ihre Realisierungsweisen einzuwirken. Besonders die progressive Kritik kann sich darum bemühen, die positivsten und originellsten Aspekte der Entwicklungen so zu verstärken, daß die Höhen des Cyberspace nicht grau werden, was durch die Fortsetzung des "Mediatisierten" in großem Maßstab und durch den Beginn des planetaren Supermarkts geschehen würde.

Aber der Großteil des Diskurses, der sich als "Kritik" gibt, ist ganz einfach nur blind und konservativ. Da man die ablaufenden Veränderungen mißversteht. entstehen daraus keine neuen Konzepte, die dem Cyberspace angemessen wären. Man kritisiert die "Ideologie der Kommunikation", ohne zwischen Fernsehen und Internet zu unterscheiden. Man ruft die Angst vor einer entmenschlichenden Technik herbei, während es um die Entscheidung zwischen Techniken und zwischen verschiedenen Gebrauchsweisen dieser Techniken geht. Die Abwesenheit einer Zukunftsvision, die Aufgabe der Imagination und die Antizipation des Denkens entmutigen die Menschen einzugreifen und lassen das Feld frei für kommerzielle Propaganda.

Die Machtlosigkeit der "mediatisierten" Akteure

In den modischen Prophezeiungen einer virtuellen Apokalypse geben sich berufsmäßige "Kritiker" alle Mühe, die Rolle von Marionetten zu spielen, die traditionell in den alten Schauspielen im Vordergrund standen. Angesichts der Ausgeschlossenen und der Menschen aus der Dritten Welt sind die Bösen stets die Technik, das Kapital, die Finanzwelt, die großen multinationalen Unternehmen oder die Staaten.

Die mächtigsten Staaten können sicherlich am Rande die wünschenswerten oder abzulehnenden Bedingungen beim Ausbau des Cyberspace beeinflussen. Doch sie sind notorisch ohnmächtig, die Entwicklung eines jetzt irreversibel mit der Wirtschaft und der planetarischen Technowissenschaft verbundenen Kommunikationsraumes zu steuern.

Die meisten großen technischen Veränderungen der letzten Jahre wurde nicht von großen Unternehmen bewirkt, die allgemein die bevorzugten Zielscheiben der anklagenden "Kritiker" darstellen. Die Kreativität ist auf diesem Gebiet unvorhersehbar und verteilt. Das beste Beispiel dafür ist der historisch einmalige Erfolg des World Wide Web. Seitdem zu Beginn der 90er Jahre in der Presse und im Fernsehen von Multimedia und Datenautobahnen gesprochen wurde, stellte man große Akteure wie die Regierung der Vereinigten Staaten, die Vorstände der großen Software- oder Hardwarefirmen, die Kabel- oder Telekommunikationsgesellschaften in den Vordergrund. Einige Jahre später - es ist 1996 -, ist man zur Feststellung gezwungen, daß die "mediatisierten" Akteure zwar einige Fusionen und industrielle Investitionen geleistet, aber daß sie den Aufbauprozeß des Cyberspace nicht nennenswert beeinflußt haben.

Zwischen 1990 und 1996 entstand die wichtigste Revolution in der digitalen planetarischen Kommunikation aus einer kleinen Wissenschaftlergruppe am CERN in Genf, die das World Wide Web entwickelt hat. Die soziale Bewegung des Cyberspace hat dem Web den Erfolg verschafft, indem sie eine Kommunikations- und Repräsentationsstruktur propagierte, die ihren Idealen und Handlungsweisen entsprach. Die "Kritiker" schauen auf das Fernsehen, in dem man nur Hauptdarsteller sieht, während die wichtigen Ereignisse in den weit verteilten und "unsichtbaren" Prozessen der kollektiven Intelligenz geschehen, die von den traditionellen Medien notwendigerweise nicht erfaßt werden können. Das World Wide Web wurde von den großen Medienakteuren wie Microsoft, IBM, ATT oder dem amerikanischen Militär weder erfunden noch verbreitet oder unterstützt, sondern von den Cybernauten selbst.

Solange die "Kritik" nur die immer gleichen demoralisierenden Vogelscheuchen in den Vordergrund stellen kann und die soziale Bewegung mit Schweigen übergeht, die sie ignoriert oder verleumdet, kann man ihrer progressiven Charakter in Zweifel zeihen.

Kritik des Totalitarismus oder Angst vor der Detotalisierung?

Der Cyberspace bedroht die Zivilisation und die humanistischen Werte vorwiegend wegen der Vermischung der Universalität mit der Totalität. Wir sind mißtrauisch gegenüber dem geworden, was sich als Universelles ausgibt, weil der Universalismus fast immer durch kriegerische Reiche, durch Bewerber um die Macht zur Geltung gebracht wurde, auch wenn die Herrschaft nur vorübergehend oder geistig war. Der Cyberspace hingegen nimmt, zumindest bis zum heutigen Tag, viel stärker auf, als daß er als Macht funktioniert. Er ist keine Mittel der Verteilung ausgehend von Zentren (wie die Presse, das Radio und das Fernsehen), sondern eine interaktive Kommunikationstruktur von Gruppen und für Gruppen und für die Herstellung eines Kontaktes zwischen den unterschiedlichen Gruppenmitglieder. Wer im Cyberspace die Gefahr eines "Totalitarismus" sieht, der begeht einfach einen dramatischen Fehler in der Diagnose.

Es stimmt, daß Staaten und wirtschaftliche Kräfte sich vor allem mit virtuellen Vergewaltigungen, Datendiebstahl, Manipulationen oder Desinformationsstrategien im Cyberspace beschäftigen. Das ist nichts ganz Neues. Das hat man zuvor und auch mit anderen Mitteln gemacht: mit Einbruch, mit der Post, dem Telefon oder den klassischen Medien. Die digitalen Kommunikationsmittel sind viel mächtiger. Mit ihnen kann man das Böse in größerem Ausmaß ausführen. Aber man muß auch festhalten, daß die mächtigen Mittel der Verschlüsselung und Entschlüsselung, die bislang nur wenigen zur Verfügung standen, eine teilweise Antwort auf diese Bedrohungen darstellen. Andererseits sind Fernsehen und Presse viel wirksamere Instrumente der Information und Desinformation als das Internet, da sie eine Sicht der Realität durchsetzen und die Reaktion, die Kritik und die Konfrontation mit abweichenden Positionen verhindern können. Das hat man während des Golfkrieges gesehen. Im Gegenzug sind die Vielheit der Quellen und die offene Diskussion dem in seinem Wesen "unkontrollierbaren" Cyberspace inhärent.

Mit der Cyberkultur eine "totalitäre" Bedrohung zu verbinden, offenbart, um es noch einmal zu sagen, ein tiefes Mißverständnis ihres Wesens und des Prozesses, der ihre Ausbreitung steuert. Es stimmt, daß der Cyberspace einen universellen Raum schafft, aber dabei geht es, wie ich weiter oben zu zeigen versuchte, um ein Universelles ohne Totalität. Macht den professionellen "Kritikern" in Wirklichkeit nicht genau die stattfindende Detotalisierung Angst. Ist die Verdammung der neuen interaktiven und transversalen Kommunikationsmittel nicht das Echo des guten alten Wunsches nach Ordnung und Autorität? Verteufelt man nicht das "VIrtuelle", um ein fest institutionalisierte "Wirklichkeit" zu erhalten, die vom besten "guten Verstand" des Staates und der Medien legitimiert wird?

Diejenigen, deren Rolle in der Verwaltung von Grenzen und Territorien besteht, werden durch eine Abgrenzungen auflösende, transversale und multipolare Kommunikation bedroht. Die Wächter des guten Geschmacks, die Garanten der Qualität, die Vermittler und Wortführer sehen ihre Position durch die Einrichtung von immer direkteren Beziehungen zwischen Informationsproduzenten und -benutzern bedroht.

Texte zirkulieren über den Cyberspace weltweit, ohne jemals durch die Hände irgendeines Verlegers oder Chefredakteurs gegangen zu sein. Das wird auch für die Musik, für Filme, Hyperdokumente, interaktive Spiele und virtuellen Welten nicht anders sein.

So wie es möglich ist, neue Ideen und Erfahrungen zu veröffentlichen, ohne diese von einem Prüfungsgremium einer Fachzeitung billigen zu lassen, so steht das ganz Regulierungssystem der Wissenschaft schon jetzt zur Frage.

Die Aneignung von Erkenntnissen befreit sich mehr und mehr von Zwängen der Institutionen, weil die lebendigen Quellen des Wissens direkt zugänglich sind und die Individuen die Möglichkeit besitzen, zu Mitglieder von virtuellen Gemeinschaften zu werden, die dem kooperativen Lernen verpflichtet sind.

Die Mediziner müssen sich mit der Konkurrenz von medizinischen Datenbanken, Diskussionsforen oder virtuellen Selbsthilfegruppen von Menschen mit derselben Krankheit auseinandersetzen.

Viele Machtpositionen und Berufe sind bedroht. Aber wenn sie ihre Funktion verändern und sich in Animateure von Prozessen der kollektiven Intelligenz verwandeln, können die Individuen und Gruppen, die als Vermittler auftraten, ihre Rolle in einer neuen Zivilisation noch wichtiger werden sehen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Wenn sie sich hingegen an ihren alten Identitäten festklammern, dann kann man darauf wetten, daß ihre Position immer schwächer werden wird.

Der Cyberspace ändert nichts daran, daß es zwischen Menschen Machtverhältnisse und wirtschaftliche Ungleichheiten gibt. Aber, um ein leicht verständliches Beispiel zu nehmen, Macht und Reichtum werden in einer Kastengesellschaft, durch vererbte Privilegien, wirtschaftlich blockiert durch Monopole und in einer Gesellschaft, deren Bürger dem Recht nach gleich sind, das freie Unternehmertum befürworten und gegen die Monopole kämpfen, nicht auf dieselbe Weise verteilt und realisiert. Indem der Cyberspace die Transparenz des Marktes vergrößert und die direkten Transaktionen zwischen Anbietern und Nachfragenden fördert, unterstützt und begünstigt er eine "liberale" Evolution in der Informations- und Wissensökonomie und wahrscheinlich auch in der allgemeinen Struktur der Wirtschaft.

Soll dieser Liberalismus im edelsten Sinn verstanden werden: Abwesenheit von willkürlichen gesetzlichen Beschränkungen, Chancen, die den Begabungen offenstehen, freie Konkurrenz zwischen einer großen Menge von kleinen Produzenten auf dem Markt, der so transparent wie möglich ist? Oder wird er die Maske, der ideologische Vorwand für die Herrschaft großer Kommunikationsgruppen sein, die den kleinen Produzenten und dem Wachstum der Vielheit das Leben schwer machen? Die zwei Wege dieser Alternative schließen sich nicht gegenseitig aus. Die Zukunft wird uns vermutlich eine Mischung aus beiden bringen, deren Verhältnis von der Kraft und der Ausrichtung der sozialen Bewegung abhängt.

Die "Kritik" glaubt, daß sie begründet einen drohenden "Totalitarismus" denunzieren und sich zum Wortführer der "Ausgeschlossenen" machen kann, die sie niemals um ihre Meinung gebeten hat. Die "Kritik" der Pseudoelite steht im Dienst der Nostalgie einer Totalität, deren Herrschaft sie innehatte. Doch dieses uneingestandene Gefühl wird geleugnet, verdreht und auf das Andere projiziert.

Die Klagen über den Niedergang der semantischen Schließungen und über die Auflösung von beherrschbaren Massen (erlebt als Vergehen gegen die "Kultur") verbergen hinter sich die Verteidigung der Macht. All das hindert uns daran, die neue Zivilisation des Universellen durch Kontakt zu schaffen, und hilft uns in keiner Weise, menschlicher zu werden. Versuchen wir vielmehr, die Cyberkultur von innen heraus aufzunehmen, ausgehend von den vielgestaltigen sozialen Bewegung, die sie erzeugt, und gemäß den ursprünglichen Kommunikationsstrukturen, indem wir die neuen Formen des sozialen Bandes ausfindig machen, die uns in die reich bevölkerte Stille des Cyberspace, fern des monotonen Gebrülls der Medien, einweben.

Aus dem Französischen übersetzt von Florian Rötzer