Cyberkultur

Seite 4: Das Programm der Cyberkultur

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Das anfängliche Wachstum des Cyberspace ist an drei Prinzipien orientiert gewesen: die Verbindung aller mit allen, die Schaffung virtueller Gemeinschaften und die kollektive Intelligenz.

Die Verbindung von allem mit allem

Am Beginn des Cyberspace ist eine der wichtigsten Ideen, oder vielleicht sollte man besser sagen, einer er stärksten Antriebe die Verbindung von allem mit allem gewesen. Für die Cyberkultur ist die Verbindung stets besser als die Isolation. Die Verbindung ist ein Gut an sich. Wie dies Christian Huitema in seinem Buch "Et Dieu crea l'internet" treffend formuliert hat, ist der technische Horizont der Cyberkultur die universelle Kommunikation: jeder Computer auf der Erde, jeder Apparat, jede Maschine vom Auto bis zum Toaster sollte gemäß dem kategorischen Imperativ der Cyberkultur eine Internetadresse haben. Wenn man dieses Programm verwirklichen würde, könnte das kleinste Produkt, möglichst ohne Kabel, Informationen von allen anderen empfangen und zu diesen senden.

Verbunden mit der Zunahme der Übertragungskapazitäten leitet der Trend zur Verbindung von allem mit allem eine Mutation in der Physik der Kommunikation ein: Man geht von den Begriffen des Kanals und des Netzes zur Erfahrung eines weltweiten Raumes über. Die Informationsträger wären nicht mehr im Raum, sondern der ganze Raum würde durch eine Art topologischer Umkehrung zu einem interaktiven Kanal. Die Cyberkultur verweist auf eine Zivilisation allgemeiner Telepräsenz.

Jenseits einer Physik der Kommunikation begründet die Verbindung aller mit allen eine Menschheit ohne Grenzen, die sich in einer ozeanischen Informationsumgebung befindet und in dem die Lebewesen und die Dinge sich im selben Becken einer interaktiven Kommunikation eingetaucht sind. Die Verbindung von allem mit allem webt ein Universum ohne Totalität, ein Universum des Kontaktes.

Die virtuellen Gemeinschaften

Das zweite Prinzip der Cyberkultur baut offensichtlich auf dem ersten auf, da die Entwicklung von virtuellen Gemeinschaften sich auf die Verbindung von allem mit allem stützt. Eine virtuelle Gemeinschaft verwirklicht sich durch gemeinsame Interessen, Kenntnisse und Projekte in einem Prozeß der Kooperation oder des Austauschs und unabhängig von geographischen Nähen und institutionellen Zugehörigkeiten.

Ich will für diejenigen, die nicht Angehörige einer virtuellen Gemeinschaft sind, deutlich machen, daß die Netzbeziehungen keineswegs kalt sind und starke Gefühle nicht ausschließen. Andererseits verschwinden weder individuelle Verantwortlichkeit noch öffentliche Meinung und öffentliches Urteil im Cyberspace. Überdies ersetzt die Netzkommunikation nur selten einfach die körperlichen Begegnungen, meistens ist sie deren ergänzung oder Hilfsmittel.

Das Leben einer virtuellen Gemeinschaft geht nur selten ohne Konflikte ab, die sich auf ziemliche brutale Weise in Wortgefechten zwischen Mitgliedern oder "flames" zum Ausdruck bringen, in denen mehrere Mitglieder denjenigen oder diejenigen anrüffeln, die die moralischen Gesetze der Gruppe verletzt haben. Umgekehrt können sich Nähen, intellektuelle Verbindungen und sogar Freundschaften in Diskussionsgruppen genauso entwickeln wie zwischen Personen, die sich häufig zum Gespräch treffen. Für die daran Partizipierenden sind die anderen Mitglieder der virtuellen Gemeinschaften nichtsdestoweniger "menschliche Wesen", denn ihr Schreibstil, ihre Kompetenzen, ihre möglichen Stellungnahmen lassen ihre Persönlichkeiten duchscheinen.

Manipulationen und Täuschungen sind in virtuellen Gemeinschaften immer möglich, aber das ist überall der Fall: im Fernsehen, in gedruckten Zeitungen, am Telefon und in Briefen ebenso wie bei einer Begegnung "in Fleisch und Blut".

Die Mehrzahl der virtuellen Gemeinschaften organisieren die von ihren Mitgliedern unterzeichneten Äußerungen vor aufmerksamen Lesern, die darauf auch antworten können. Aufgrund dieses Sachverhalts erkunden die virtuellen Gemeinschaften neue Formen der öffentlichen Meinungsäußerung und verstärken nicht die Unverantwortlichkeit, die mit der Anonymität verbunden ist. Man sagt, daß das Schicksal der öffentlichen Meinung eng mit dem der modernen Demokratie verknüpft sei. Die Sphäre der öffentlichen Diskussion entstand in Europa dank der technischen Mittel des Drucks und der Zeitungen im 18. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert haben das Radio (vor allem in den 20er und 30er Jahren) und das Fernsehen (seit den 60er Jahren) die Möglichkeiten der öffentlichen Meinungsäußerung sowohl verschoben als auch erweitert und sich einverleibt. Kann man heute nicht eine neue Metamorphose beobachten, eine Steigerung der Komplexität im Begriff des "Öffentlichen", da die virtuellen Gemeinschaften der kollektiven Diskussion ein Feld anbieten, das offener, partizipativer und verteilter als das der klassischen Medien ist?

Die "virtuellen" Beziehungen ersetzen nicht nur einfach körperliche Begegnungen oder Reisen, sie unterstützen vielmehr deren Vorbereitung. Es ist ein allgemeiner Irrtum, wenn man das Verhältnis zwischen alten und neuen Kommunikationsstrukturen als einer Ersetzung begreift. Das Kino hat das Theater nicht aussterben lassen, es hat es nur verlagert. Man spricht genauso viel, seit man zu schreiben gelernt hat, aber anders. Die Liebesbriefe hindern die Liebenden nicht daran, sich zu umarmen. Diejenigen, die am meisten telefonieren, treffen sich auch am meisten. Die Entwicklung der virtuellen Gemeinschaften begleitet die allgemeine Entwicklung der Kontakte und Interaktionen auf allen Ebenen.

Das Bild des vereinsamten Menschen, der vor seinem Bildschirm sitzt, gibt eher ein Phantasma als eine soziologische Tatsache wieder. Wer einen Zugang zum Internet besitzt (Studenten, Wissenschaftler, Universitätsangehörige, ständig reisende Geschäftsleute, selbständig arbeitende Intellektuelle etc.) reist wahrscheinlich mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung. Der einzige Rückgang bei der Benutzung von Flughäfen, der sich in den letzten Jahren registrieren ließ, war zur Zeit des Golfkrieges: die Ausweitung des Cyberspace hatte daran keinen Anteil. In diesem Jahrhundert nahmen, ganz im Gegenteil, die Kommunikation und der Verkehr im selben Maße weltweit zu. Lassen wir uns nicht von Worten täuschen. Eine virtuelle Gemeinschaft ist nicht irreal, imaginär oder illusorisch, sie ist einfach eine mehr oder weniger dauerhafte Gruppe, die sich durch die Mittel der neuen globalen elektronischen Post organisiert.

Mit der Cyberkultur kommt der Wunsch nach der Schaffung eines sozialen Bandes zum Ausdruck, das sich nicht auf territorialen Zugehörigkeiten, institutionelle Beziehungen oder Machtbeziehungen gründet, sondern auf die Vereinigung durch gemeinsame Interessen, auf einen spielerischen Umgang, auf Mitteilung des Wissens, auf einen kooperativen Lernprozeß und auf offenen Prozessen der Zusammenarbeit. Die Lust der Mitglieder virtueller Gemeinschaften geht mit dem Ideal deterritorialisierter, transversaler und freier menschlicher Beziehungen einher. Ihre Mitglieder sind die Motoren und die Akteure, das vielgestaltige und überraschende Leben des Universellen des Kontaktes.

Die kollektive Intelligenz

Es gibt kein anderes Interesse, eine virtuelle Gemeinschaft zu bilden, als sich dem Ideal des intelligenten Kollektiv anzunähern, als phantasievoller, schneller und besser zu erlernen und etwas zu erfinden. Der Cyberspace ist nur der unvermeidliche technische Umweg, um zu einer kollektiven Intelligenz zu gelangen.

Die kollektive Intelligenz, das dritte Prinzip der Cyberkultur, ist deren geistige Perspektive und deren Endzweck. Dieses Ziel wurde von den Visionären der 60er Jahre (Engelbart, Licklider, Nelson) verfolgt, es ist mit bestimmten "Gurus" der zeitgenössischen Szene der Cyberkultur wie John Perry Barlow oder Marc Pesce verbunden und wurde von Kommentatoren oder Philosophen der Cyberkultur wie Kevin Kelly, Joel de Rosnay und mir selbst formuliert, vor allem aber wird es im Netz von einer wachsenden Menge von Surfern, von Teilnehmern an Newsgroups, von Mitglieder virtueller Gemeinschaften aller Art praktiziert.

Die kollektive Intelligenz ist eher ein Bereich von Problemen als von Lösungen. Jeder weiß, daß der beste Gebrauch des Cyberspace wäre, eine Synergie zwischen den intellektuellen, imaginativen und geistigen Kapazitäten jener herzustellen, die sich vernetzen. Aber im Hinblick auf welche Perspektiven? Nach welchem Modell? Sollen es menschliche Bienenstöcke oder Ameisenhaufen sein? Will man, daß jedes Netz zu einem kollektiven "Riesentier" heranwächst? Oder ist das Ziel ganz im Gegenteil, die persönlichen Beziehungen eines jeden zu stärken und die Ressourcen der Gruppen in den Dienst der Individuen zu stellen? Ist die kollektive Intelligenz eine wirksame Koordinationsform, in der sich jeder als Zentrum betrachten kann? Oder will man die Individuen dem Organismus unterordnen, der sie überragt? Ist die kollektive Intelligenz dynamisch, autonom, emergent, fraktal? Oder wohl definiert und von einer Instanz kontrolliert, die mächtiger ist? Alle diese Alternativen stimmen miteinander nur teilweise überein.

Die Erstreckung des Cyberspace verändert die Zwänge, die der politischen Philosophie, den Wirtschaftswissenschaften und ganz allgemein den Traditionen von Organisationen das übliche Spektrum ihrer Lösungen auferlegt haben. Heute ist eine ganze Anzahl von Zwängen durch Verfügbarkeit neuer Kommunikations- und Koordinationsmittel weggefallen und man kann radikal neue Organisationsweisen von Gruppen, Beziehungsstile zwischen Individuen und Kollektiven ins Auge fassen, für die es weder in der Geschichte noch in der Biologie Vorbilder gibt. Die kollektive Intelligenz ist, um es noch einmal zu wiederholen, keine Lösung, sondern ein offenes Feld von Problemen und praktischen Forschungen.

Ein Programm ohne Ziel und Inhalt

Man wird jetzt verstehen, daß die den Cyberspace tragende soziale und kulturelle Bewegung, die immer größer und mächtiger wird, nicht in einem bestimmten "Inhalt" mündet, sondern in einer nicht mediatisierten, interaktiven, gemeinschaftlichen, transversalen und rhizomatischen Kommunikationsform. Weder die allgemeine Vernetzung noch die Gier nach virtuellen Gemeinschaften oder das Wachstum der kollektiven Intelligenz bilden die Bestandteile eines politischen oder kulturellen Programms im klassischen Verständnis des Begriffs.

Die Vernetzung im Hinblick auf Interaktivität gilt als gut, um welche Computer, Menschen, Orte und Zeitpunkte es sich auch immer handeln mag, die miteinander verbunden werden. Die virtuellen Gemeinschaften gelten als ein ausgezeichnetes Mittel (unter hundert anderen), um eine Gesellschaft zu bilden, wobei es gleichgültig ist, ob diese spielerische, wirtschaftliche oder intellektuelle Ziele besitzt und ihre Interessenschwerpunkte im Ernsten, Seriösen oder Skandalhaften liegen. Die kollektive Intelligenz schließlich gilt als die Form der Vervollkommnung der Menschheit, die glücklicherweise das digitale und universelle Netz bevorzugt, ohne daß man im voraus wüßte, wohin sich die Organisationen entwickeln werden, die ihre intellektuellen Ressourcen synergetisch vereinen.

Letztendlich zielt das Programm der Cyberkultur auf das Universelle ohne Totalität. Auf das Universelle, weil die Vernetzung nicht nur weltweit sein soll, sondern auch eine allgemeine Kompatibilität oder eine technische Vereinheitlichung realisieren soll. Universell auch deshalb, weil mit dem begrenzten Programm der Cyberkultur jeder von jedem beliebigen Ort aus Zugang zu den verschiedenen virtuellen Gemeinschaften und ihren Hervorbringungen haben soll. Und schließlich, weil das Programm der kollektiven Intelligenz ebenso gut auf Unternehmen wie auf Schulen und angewendet werden kann und für geographische Gebiete genauso gilt wie für internationale Gesellschaften. Der Cyberspace erscheint als Organisationsmittel von Gemeinschaften jeder Art und jeder Größe, um eine kollektive Intelligenz zu schaffen, aber auch als Instrument der Artikulation zwischen intelligenten Kollektiven. Fortan sind es dieselben logistischen und materiellen Mittel, die die Innen- und Außenpolitik der intelligenten Kollektive unterstützen: das Internet und das Intranet.

Die allgemeine Vernetzung, die virtuellen Gemeinschaften, die kollektive Intelligenz sind allesamt Verwirklichungen eines Universellen durch den Kontakt, das wie eine Population wächst, das hier und dort seine Fasern austreibt, das sich wie ein Efeu oder eine Quecke ausbreitet.

Jede der drei Verwirklichungen bildet eine notwendige Voraussetzung für die darauf folgende: keine virtuelle Gemeinschaft ohne Vernetzung, keine kollektive Intelligenz in großem Maßstab ohne Virtualisierung und Deterritorialisierung der Mitglieder im Cyberspace. Die Vernetzung bedingt die virtuelle Gemeinschaft, die eine im Wachsen begriffene kollektive Intelligenz ist.

Doch diese Formen sind a priori leer. Sie besitzen keine äußere Finalität. Kein Inhalt wird das Programm der Cyberkultur schließen oder totalisieren, das ganz aus dem noch nicht vollendeten Prozeß der Vernetzung, der Entwicklung von virtuellen Gemeinschaften und der Stärkung einer fraktalen kollektiven Intelligenz besteht, die auf allen Ebenen und immer unterschiedlich reproduzierbar ist. Die weiter existierende Bewegung, die eine Vernetzung im Hinblick auf eine interaktive Kommunikation aller mit allen bewirken will, ist in sich selbst eine "Garantie" dafür, daß die Totalisierung nicht stattfinden wird, daß die Quellen noch immer heterogen sind, daß die verändernden Strukturen und die Fluchtlinien sich weiter vervielfältigen werden.

Die Bewegung der Cyberkultur ist einer der Motoren der gegenwärtigen Gesellschaft. Die Staaten und die Multimedia-Unternehmen folgen ihr, als könnten sie so mit allen Mitteln das verhindern, was sie als "Anarchie" des Netzes wahrnehmen. Indem sie der Dialektik folgen , die gut aus der Utopie und den Geschäften abgeleitet wurde, beuten die Händler die von der sozialen Bewegung eröffneten Lebensbereiche (und damit Konsumbereiche) aus und lernen von den Aktivisten neue Verkaufsargumente. Symmterisch dazu profitiert die soziale Bewegung von ihrer Anerkennung, da das Business die Ideen und Vorgehensweisen stabilisiert, glaubwürdig macht, banalisiert und institutionalisiert, die bis vor kurzem noch aus der Science Fiction oder aus harmlosen Träumereien zu stammen schienen.

Nach dem Verschwinden des Totalitarismus im Osten konnten einige Intellektuelle Mitteleuropas sagen: "Wir haben für die Demokratie gekämpft ... und jetzt haben wir den Kapitalismus erhalten." Die Aktivisten der Cyberkultur könnten ihrerseits diesen Satz aufgreifen. Aber glücklicherweise ist der Kapitalismus nicht gänzlich inkompatibel mit der Demokratie und die kollektive Intelligenz nicht mit dem weltweiten Supermarkt. Wir sind nicht genötigt, uns für das eine anstatt des anderen zu entscheiden: das ist die Dialektik der Utopie und des Geschäfts, das Spiel der Industrie und des Begehrens.