Das Beobachten des Beobachters

Der Manga-Effekt: Anime als Ausdruck der japanischen Kultur

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Die wechselseitigen Beeinflussungen zwischen der japanischen und der westlichen Kultur sind die eine Seite der Anime, der speziell japanischen Comic-Verfilmungen. Zugleich sind Anime genuiner Ausdruck der japanischen Kultur. Als deren zentrale Eigenschaft hat man schon früh ein bemerkenswertes Vermögen zur Anpassung und zur Einverleibung bemerkt - und dem vorausgehend das zur genauen Beobachtung. Es sind diese Beoabachterpositionen und die Auflösung des festen Gegensatzes zwischen Beobachter und Objekt, die viele dieser Filme darstellen und in denen sie damit sich selbst zum Thema machen. Die zweite große Differenz zwischen Japan und dem Westen liegt auch im Animationsfilm in der Frage nach der Wirklichkeit.

Teil 1: Eisenstein mit Kulleraugen

Grob gesagt: Der bezeichnenderweise immer noch gern Zeichentrickfilm genannten Animation des Westens geht es um Fotorealismus - möglichst dreidimensional. Man denke an die bis in die Frisuren in US-Filmen oder die Haarspitzen eines Rattenfells in "Ratatouille" gestaltete Wiedergabe von „Wirklichkeit“. In Japan hingegen ist die lebensechte Wiedergabe der "Wirklichkeit" nie das Primärziel der bewegten Bilder gewesen. 1966 konstatierte der Manga-Pionier Takuya Mori, dass das "Imitieren von Realität" langweilig sei. Was nicht bedeutet, dass Anime die Realität ignorieren. Im Gegenteil: Es ist die Abkehr vom langweiligen Leben, die Abstraktion, die das Eintauchen in die Welten der Anime derart herausfordernd macht. Die Film-Kunst schließt dort in die Wahrheitssuche auch den Traum und die Emotionen in ganz anderer Weise ein.

Die tiefen, dunklen Seiten des Daseins

Blau ist die Farbe des Immateriellen. Der Sehnsucht, der blauen Blume. Aber nur wenigen Filmen gelingt es in ähnlicher Weise, das flirrende Grenzgebiet zwischen Traum und Wahn zu erkunden und mit Substanz zu füllen, Sehnsucht und Realismus zu verbinden, wie "Perfect Blue", jener bahnbrechende Anime von Kon Satoshi. Ein Noir aus Tokio, kurz vor der Jahrtausendwende. Immer wieder zieht sich das Bild in die Totale zurück und zeigt einfach die Nacht der Stadt zwischen Neonhelle und Schattenwürfen, die Einsamkeit der Großstadtmenschen und ihre Versuche, Trost zu finden. Das berührt die tiefen, dunklen Seiten des menschlichen Daseins, ist voller Melancholie und von betörender Schönheit - wie die Klassiker der Existenz-Thriller von Jules Dassin oder Jean-Pierre Melville, des europäisch geprägten Angst-Kinos der "schwarzen Serie"; aber zugleich erfüllt von der coolen, fast etwas zu cleveren Präzision eines Brian DePalma - dessen Lieblingsthema Voyeurismus, das Beobachten des Beobachters, hier auch im Zentrum steht.

Kon Satoshis Regiedebüt von 1997 hatte seine Premiere seinerzeit auf dem Forum der Berlinale und wurde danach im Nu zu einem Klassiker des noch aus westlicher Sicht immer noch zu entdeckenden japanischen "Anime"-Genres. Ein Quantensprung – ebenso technisch wie für die Wahrnehmung von Animes im Westen. Der alte Roger Corman meinte, nachdem er Perfect Blue gesehen hatte: "Wenn Alfred Hitchcock mit Walt Disney zusammengearbeitet hätte, wäre dieser Film dabei herausgekommen."

Schwarze Romantik: Geister, Doppelgänger, Serienkiller und die Tyrannei der Intimität

Es geht um Mimi, den Star einer erfolgreichen Girlgroup, die beschlossen hat, aus dem Musikgeschäft auszusteigen und Schauspielerin zu werden. "Wenn Du an Liebeskummer leidest, gib ein Notsignal und warte ab/ Auch Deine Gelegenheit wird kommen", singt sie gleich am Anfang bei ihrem letzten Auftritt. Sie ahnt noch nicht, wie schnell ein Fan diese Sätze wörtlich nehmen wird. Dieser ebenso bizarre wie blutige, ebenso subtile wie spannende Psychothriller bündelt mehrere Motive der schwarzen Romantik wie Geister und Doppelgänger, mit Themen, die in den späten 90ern besonders en vogue waren: Serienkillergenre, Girlism, das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Stars und Publikum, neue Medien und Internet-Terror, die Tyrannei der Intimität und das "Multiple-Persönlichkeits-Syndrom".

Perfect Blue. Bild: Madhouse

Ursprünglich sollte das alles als Realfilm mit Schauspielern gedreht werden, und man kann es nur einen Glückfall nennen, dass dafür das Geld nicht langte. Fünf Jahre später verwirklichte Toshiki Sato den Plan und scheiterte kläglich. Kon, Jahrgang 1963, erfüllte seit diesem Film mit mehreren außergewöhnlichen Anime ("Millenium Actress", "Tokyo Godfathers", "Paprika") alle Versprechen seines Debüts. Die endlich nach zwölf Jahren nun auch in Deutschland erhältliche DVD des Films, enthält eine fast 40-minütige "Vorlesung" des Regisseurs, die allein schon die Anschaffung wert ist.

"Das wirkliche Ich existiert nicht einfach, sondern entsteht in einem fortlaufenden Prozess", philosophiert Kon dort im Anschluss an Bergson und Sartre, gibt viele Informationen zum Film und seinen eigenen Gedanken preis, aber versucht erst gar nicht, die seinem Film eigene Verschränkung von Halluzination und Wirklichkeit schlüssig aufzulösen. Im Gegenteil zeigt er sich selbst verwundert über mache Lesarten seines Films durch die Zuschauer: "Je mehr Auslegungen, desto reicher der Film. Es ist nicht so, dass das, was ich sage, richtig sein muss." Trotzdem ist "Perfect Blue" das Gegenteil des distanzierten Relativismus der Postmoderne. Ein Film, der ins Schmerzzentrum unserer Existenz vordringt - Blau, das ist die Farbe der Illusion, aber auch der Erlösung.

Schnelle Schnitte, Split-Screens, Close-ups, wechselnde Blickpunkte

Anime gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Der erste erhaltene Kurzfilm stammt von 1917. Zurück reicht das alles auf die japanische Bildtradition: Beginnend mit Karikaturen auf Stein oder Holz - die ersten bekannten in der Geschichte Japans stammen aus dem späten 7. Jahrhundert, sie wurden nur zufällig 1935 bei Schönheitsreparaturen am Dach des Horyu-Tempels in Nara entdeckt - über Karikaturen buddhistischer Mönche auf Papierrollen seit dem 11. Jahrhundert und den Farbholzschnitt der Edo-Zeit, der sich durch das Fehlen einer eindeutigen Perspektive und flächige Formen auszeichnet und Alltagsszenen und erotische Motive zeigt, bis zu jenen skizzenhaften schwarz-weißen Zeichnungen, die bereits um 1800 "Manga" (für lose, skizzenhafte Bilder) genannt wurden und deren Stil der Zeichner und Holzschnittkünstler Katsushika Hokusai (1760-1849) prägte. Auf Bildrollen oder in vier zusammenhängen Bildern pro Seite erzählten sie mit integriertem Text fortlaufende Handlungen - quasi wie ein Film vor Erfindung des Kinos. Die letzte Vorstufe zum Kino war dann das "Kamishibai", das "Papiertheater".

Seit es das Kino gab, wurde die Bildsprache der Manga-Comics umgekehrt immer schon stark vom Film beeinflusst: Gearbeitet wird hier seit jeher gerne mit filmischen Szenenabfolgen, schnellen Schnitten, Split-Screens, Close-ups, wechselnden Blickpunkten und diagonalen Elementen. Dadurch wird erst die faszinierend hohe Geschwindigkeit möglich, mit der Manga-Fans ihr Medium verschlingen.

Die Realität als Märchen für Erwachsene

Mit den ersten Manga-Filmen, also Animes, orientierte man sich dann früh auch am Westen. Inhaltlich: Ein früher Film erzählt die europäische Japan-Oper "Madame Butterfly", ein anderer von Gulliver. Und graphisch: Vor allem in den 30er Jahren gab es eine deutlich an Disney angelehnte Phase.

The Plane Cabby's Lucky Day. Bild: Teizo Kato

Zugleich spiegelt die reichhaltige Geschichte des Genres stark die Sozialgeschichte Japans im 20. Jahrhundert. Einer der bemerkenswertesten frühen Filme ist "Oatari Sora no Entaku" (The Plane Cabby's Lucky Day) von 1932 - ein utopischer Science-Fiction, der das Alltagsleben eines Taxifahrers in der Zukunft des Jahres 1980 imaginiert. Ein Hauch von "5th Element"…

In der Zeit der japanischen Eroberungskriege (1931-1945) waren viele Anime von der kaiserlichen Marine finanzierte Propagandawerke. Gerade hier sieht man aber deutlich das besondere Potential der Gattung, den Manga-Effekt: Gerade weil der Animationscharakter zusätzliche Distanz schafft, kann in diesen Filmen auch Grausames wie der Krieg und später Bombardements und Hungersnot direkt und doch konsumierbar und verträglich dargestellt werden - auch die Realität wird so zu einer Art Märchen für Erwachsene.

Etwas, das im Realfilm gar nicht darstellbar wäre…

Kein Wunder, dass die Anime besonders nach 1945 schnell ihren Durchbruch erlebten - sie waren auch vergleichsweise billig. Und sie wurden zum Medium des kollektiven Unbewussten Japans. Das so auffallende spezielle Interesse und Vergnügen der Anime an Apokalypse, Dystopie und Kriegsszenarien ruht darin, dass hier die Erfahrung von Weltkrieg, Bombardements, Niederlage und Hunger und der beiden Atombomben verarbeitet werden. Anderes, wie Naturkatastrophen, kommt hinzu. Einige der Meilensteine des Genres fallen darunter: Isao Takahatas Antikriegsfilm "Die letzten Glühwürmchen" (1988) über die Zerstörung von Kobe und Barefoot Gen von Masaki Mori, der direkt von Hiroshima handelt, und mit dem Augenblick der Bombenexplosion etwas zeigt, was im Realfilm gar nicht darstellbar wäre.

Barefoot Gen. Bild: Mad House/Gen Productions

Das gilt bis heute. So etwa in dem atemberaubenden Musashi: The Dream of the Last Samurai. Regisseur Mizuho Nishikubo dreht hier eine Dokumentation im Anime-Stil. Sie verbindet die Geschichte der Samurai mit recht deutlicher Kritik an japanischer Gegenwartskultur: "Mit Anime fühle ich mich freier", so Nishikubo.

The Dream oft he Last Samurai. Bild: Production I.G.

Der erste längere Anime stammt aber erst aus dem Jahr 1958: The White Snake enchantress erzählt in zeitloser Schönheit eine alte Legende. "Entscheidend bleibt auch im Anime immer eine gute Geschichte", betont Altmeister Yoshiyuki Tomino im Gespräch. "Wenn sie Fehler hat, oder uninteressante Charaktere, dann nützt auch die schönste Zeichnung nichts."

The White Snake enchantress. Bild: Toho/Shaw Brothers

Vor allem die sechziger Jahre erscheinen im Rückblick als eine auch in dieser Hinsicht extrem kreative Phase: Zum Beispiel Eiichi Yamamoto, der in dem völlig verrückten Film "Kureopatora" ("Cleopatra", später dann vom US-Verleih in "Cleopatra: Queen of Sex" umbenannt) 1970 die gesamte Kunstgeschichte des Westens überaus kreativ verwurstet. Man kann ihn sich mehr oder weniger komplett auf YouTube angucken - wenn auch nur japanisch (aber wer will schon Synchronisation?).

Belladonna - Lady of Sadness. Bild: Mushi/Nippon Herald Films

In Belladonna - Lady of Sadness verwandelte Eiichi Yamamoto dann ein französisches Märchen aus dem 19. Jahrhundert in einen erotischen Film, der auch visuell ganz den psychodelischen Zeitgeist der 70er entsprach.

Anfang der 80er schlecht sich ein merkwürdiger Ernst in die Filme, kommt eine Härte und Schwere und Spießigkeit zurück. Man hat den Eindruck, dass es - vielleicht in der Folge von Realfilmen wie "Star Wars", "Third Encounter" und "Alien" einen besonderen Boom des Science-Fiction gibt. Aber das Pathos färbt auch ab.

Die Poesie betörender Bilder

Neben Miyazaki gab es in den 90ern dann einige Verbindungen von ästhetischem und theoretischem Anspruch: "Ghost in the Shell" (1996) von Mamoru Oshii bildete die Avantgarde des Zeitgeistes, in dem er von der Verschmelzung von Körper und Technik im Cyborg und von "Virtual Reality", also einer als real erfahrbaren virtuellen Welt, handelte. Auch Hiroyuki Okiuras Regiedebut Jin-Roh war ein wirklich künstlerisch aufsehenerregendes Anime-Werk. Bereits 1998 fertiggestellt und 1999 auf der Berlinale gelaufen, schildert "Jin-Roh" die düstere Vision einer totalitären, technisch fortgeschrittenen Welt, angereichert mit Märchenelementen, die offen – ausgerechnet – das Grimmsche "Rotkäppchen" zitieren. Nur, dass der böse Wolf hier keinen mehr fressen muss, sich vielmehr längst selbst in die Menschen hineingefressen hat.

Jin-Roh. Bild: Production I.G.

Der Titel bedeutet "Wolfsmänner", in diesem Fall auch die Wolfsbrigade, eine Gruppe von Elitesoldaten, die die Herrschaftsstrukturen in einem faschistisch regierten Japan aufrechterhalten. "Jin-Roh" ist nämlich unter anderem ein Stück politischer Science-Fiction. Das japanische Kaiserreich hat, so das Gedankenexperiment des Films, den Krieg gegen die USA gewonnen. Bekämpft wird es nun von innen, durch eine Widerstandsgruppe, die sich in die Kanalisation zurückzieht. Eine von ihnen lernt - ausgerechnet im Völkerkundemuseum - ein Mitglied der Elitetruppe kennen – Terrorreflexion mit umgekehrten Vorzeichen. Zusätzlich kommt es noch zu einer Verschwörung innerhalb der Polizei. Zwei Logiken werden miteinander konfrontiert, die menschliche und die wölfische, und so geht es ums Grundsätzliche: Was macht den Menschen menschlich?

Doch die Geschichte ist nur das eine, dazu kommt die Poesie betörender Bilder: Gerade durch höchsten Realismus beschwört "Jin-Roh" neben der dunkle Aura, das bedrohlich-lebendige der Großstadt, die wie etwa auch in "Metropolis" zum eigenen Organismus wird, akzeptiert der Zuschauer das Märchenhafte der Geschichte, ohne das diese ihren Zauber verliert. Der Filmkritiker Olaf Möller schrieb seinerzeit von einem "auf den Punkt präzise inszeniertem, hypnotisch dahingleitenden, doppelbödig-vielschichtigen Film der Stille, des (Sich-)Erinnerns, des Geschichtenerzählens, der mehr von seiner Atmosphäre als von Action lebt. Das wunderbar lebendige Character-Design, die inspiriert-zwingende Vision eines faux-wilheminischen Tokyo sowie das nuancierte Farb-Design machen 'Jin-Roh' zu einem Ausnahmewerk." (Filmdienst)

Die Sicht der Dinge aus Japan enthüllt allesamt Bilder einer gezeichneten Welt.

Teil 3: Der bessere Avatar