Der bessere Avatar

Wirbelsturm aus Zeichen: Die Gegenwart der Animes und die Zukunft des Kinos

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Flache Bilder, tiefe Gedanken: Anime sind synthetische Filme, ohne direkten Bezug zur Realität. Sie "bilden" nichts "ab". Aber in flächigen Gesichtern vermitteln sie mehr Emotionen als in noch so "lebensechten". So hat sich die Bildersprache der Animes weltweit etabliert. Aber wie wirkt sich die neue 3-D-Konkurrenz auf die Animation aus?

Teil 2: Das Beobachten des Beobachters

"Oz", so heißt, wie man sich erinnert, das zauberhafte Land, das in Victor Flemmings Musical für die junge Dorothy zur Zuflucht wird vor einem Wirbelsturm und anderen Zumutungen der realen Welt. "Oz" ist zugleich aber auch der Name einer wichtigen Programmiersprache für Computer. Mit beiden Bezügen spielt Summer Wars, ein Anime von Hosoda Mamoro, der auch gemessen an den Verrücktheiten, die man von Animationsfilmen aus Japan in den letzten Jahren schon gewohnt war, etwas Neues und höchst Besonderes darstellt.

Summer Wars. Bild: Warner Bros.

"Oz" heißt hier eine so spektakuläre wie verführerische Internet-Plattform, in der jeder User seinen Avatar wählen und eine virtuelle Zweitexistenz führen kann. Doch bald entfaltet sie ein gefräßiges, höchst bedrohliches Eigenleben, und es kommt zum Clash zwischen virtueller und realer Welt, als der schüchterne Schüler Koiso Kenji zusammen mit seiner heimlichen Liebe Natsuki deren ländlichen Heimatort besucht.

Dort wird er in eine Familienfehde hineingezogen, die von der exzentrischen 90-jährigen Grossmutter des riesigen Clans angezettelt wurde. Was Hosodas Film, der im Herbst ins Kino kommt, so besonders macht, ist zum einen die starke Phantasie und der Humor, mit dem er, ohne zu moralisieren, vom Gegensatz zwischen einer traditionell lebenden Familie und der modernen Welt erzählt und der scheinbar erschöpften Handlungsidee - Sommerferien als Stunde der Adoleszenz - etwas Neues abgewinnt, wie auch des Regisseurs geistreiches Spiel mit japanischen Genres wie dem Samurai-Film.

Vor allem aber ist dies visuell eine Reise in neue Dimension: Hosoda entfaltet einen Wirbelsturm aus Zeichen, bietet ein paar bisher ungesehene Anime-Bilder und lässt den Zuschauer dabei begreifen, was die Existenz virtueller Parallelwelten wirklich bedeutet, vor allem wenn sich die eine Welt mit der anderen vermischt. In dieser Hinsicht ist "Summer Wars" der bessere "Avatar", und im Gegensatz zu James Camerons etwas banalem Welterfolg ontologisch tatsächlich auf der Höhe seines Themas.

Eine für uns noch gewöhnungsbedürftige Verbindung von High und Low

Heute sind selbst die Anime, die sich an ein jugendliches Publikum richten, oft dunkel und erstaunlich anspruchsvoll. Ein Beispiel ist Mamoru Oshiis neuer Film Sky Crawlers in der nicht alternde Kindersoldaten einen Krieg gegeneinander führen, der so sinnlos ist, wie ein Sportwettkampf. Blickt man genauer hin, erkennt man ein erstaunliches Reflexionsniveau. Zum Beispiel kommt Yoshiyuki Tomino, im Gespräch über sein vielteiliges Epos Mobile Suit Gundam (1981ff.) auf Hannah Arendt zu sprechen: Er habe ihre Totalitarismustheorie auf Science Fiction übertragen wollen, führt Tomino aus, um indirekt die japanische Gegenwartsgesellschaft zu kritisieren. Das ist kein Anschminken von Bedeutung, sondern eine für uns noch gewöhnungsbedürftige Verbindung von High und Low.

Vergleichsweise mainstreamig und nicht nur gedanklich vulgär kommt "Redline" (2009) daher: Alle fünf Jahre treffen sich in diesem Szenario die stärksten Rennfahrer bei dem gefährlichsten Untergrund-Rennen im Universum. Die einzige Regel des Wettkampfs: Es gibt keine. Die apokalyptische Story dreht sich um den waghalsigen Fahrer JP und seine Konkurrentin Sonosee, in die JP heimlich verliebt ist.

Sky Crawlers. Bild: Warner Bros.

Ein wirklich neues, wirklich herausragendes Beispiel der Anime-Kunst ist dagegen "Miyamoto Musashi: Sôken ni haseru yume" ("Musashi: The Dream of the Last Samurai" von 2009. Dieser Film von Mamoru Oshii "Ghost in the Shell" erzählt in Form eines dokumentarischen Essays die Geschichte von Musashi, einer historischen, bis heute in vielen Varianten populären Figur aus dem 17. Jahrhundert, der gleichermaßen für seinen Schwertkampfstil wie für ausgefeilte militärische Strategien bekannt war. Formal kombiniert Oshii überaus verschiedene Stile und Genres in postmoderner Manier zu einem einzigartigen Ganzen.

Mobile Suit Gundam III. Bild: Sunrise Inc.

Schon Roland Barthes begriff die Erfahrung der japanischen Kultur als Abschied von der Wahl zwischen verdammenswert oder idealisierend, sondern stattdessen im Sinne einer unsere Werte regulierenden Ordnung: als "Möglichkeit einer Differenz, einer Mutation, einer Revolution im Charakter der Symbolsysteme". Was in Japan als Anime entstanden ist, ist paradoxerweise ein Kino, das der klassischen Kunst, der Malerei, ähnlicher ist als anderen Filmen. Es entfaltet ungemeine Wirkung: Anime sind keine nationale Kunst mehr, sondern eine globale, zugleich die nachhaltigste Form von japanischem Kulturimperialismus.

Viele Anime, auch Miyazaki, produzieren ein kulturelles Patchwork aus internationalen Erzählungen mit pseudohistorischem Dekor. Das Resultat sind kulturell hybride Stories ohne nationale Identifikationsmerkmale, die überall funktionieren. Die oft auch in internationalen Koproduktionen gezeichneten Animes, die als Fernsehserien, DVD, Kino- und neuerdings auch als Handy-Filme vertrieben werden, sind ein einträglicher Wirtschaftszweig im rezessionsgebeutelten Japan. Das Potential dieses kulturellen Exports wird auf 200 bis 300 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt.

Die Zukunft ist 2D

Wie verhalten sich diese ersten nicht-westlichen Ikonen der Globalisierung nun zum übrigen Weltkino? Zur Zeit ist 3-D angesagt. James Camerons "Avatar" macht sich gerade sehr sehr breit. Aber, die Prophezeihung sei hier gewagt: Davon wird ganz und gar nichts bleiben außer der Leere. Denn wer will, bitteschön, nach so etwas wie "Avartar" überhaupt nachziehen? Wer wollte und könnte, gesetzt er hätte eine gute Idee, mit ähnlicher Vorbereitungszeit und ähnlichem Aufwand in absehbarer Zeit einen Nachahmungsfilm zu "Avatar" bieten? Und wer bitteschön, will so etwas, wenn der Neuigkeitseffekt erst ausgereizt ist, überhaupt sehen? Wenn überhaupt dann liefern nur Anime die Antwort.

Aber während Hollywood und die westliche öffentliche Branchen-Meinung die Zukunft der Animation in der dritten Dimension suchen, bleibt Japan in der zweiten.

Literaturhinweise:

Miriam Brunner
Manga - Faszination der Bilder: Darstellungsmittel und Motive
Fink Verlag 2009

Peter Carey
Wrong about Japan. Eine Tokyoreise
Aus dem Englischen von Eva Kemper. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, 141 Seiten, 19,90 Euro

Jonathan Clements
Schoolgirl Milky Crisis: Adventures in the Anime and Manga Trade
Titan Books 2009

Jonathan Clements
The Anime Encyclopedia: A Guide to Japanese Animation Since 1917
(1st ed. 2001, 2nd ed. 2006, with Helen McCarthy)

Frederik L. Schodt
The Astro Boy Essays: Osamu Tezuka, Mighty Atom, and the Manga/Anime Revolution
Stone Bridge Press; USA 2007

Der Katalog zu Retrospektive und Ausstellung "Manga Impact. The World of Japanese Animation
wird erst noch bei Phaidon erscheinen.

Jenseits von Miyazaki - Ein paar besondere Anime auf DVD:

Kon Satoshi
Perfect Blue
Japan 1999. Deutsch, japanisch, Untertitel, Rapid Eye Movies EAN-Code: 4260017062217

Eiichi Yamamoto
Belladonna - Lady of Sadness" ("Die Tragödie der Belladonna")
Japan 1973, Japanisch, dt. Untertitel, Rapid Eye Movies, Extras: Deleted Scene, Kinotrailer, Filmessay von Jasper Sharp; EAN-Code: 4260017061685

Studio 4°C
Genius Party
Japan 2004. Deutsch, japanisch, Untertitel, Rapid Eye Movies EAN-Code: 4260017062422

Japanese Anime Classic Collection
erschienen und im Internet bestellbar bei Digital Meme, 2007, 326 Minuten