Das Dilemma der Lockdown-Politik

Seite 3: Moralisches Dilemma

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Diese Epidemie hat bereits viele Opfer gefordert und viele werden noch folgen. Besonders ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen laufen Gefahr, am Virus zu sterben. Wie viele es am Ende sein werden, ist noch unklar. Bisher hat Covid-19 knapp 120.000 Menschen weltweit das Leben gekostet - das ist nicht wenig. Aber auch die Logik der Lockdown-Strategie ist lebens- und existenzbedrohend.

In Großbritannien leiden bereits über 3 Millionen Menschen an Hunger, weil ihnen aufgrund des Lockdowns das Geld für Nahrungsmittel fehlt oder die Regale bereits leergekauft wurden. Und das könnte erst der Anfang sein.

Doch was, wenn die Schäden, die der wirtschaftliche und soziale Stillstand produzieren, die Schäden durch das Virus übersteigen? Sind die Maßnahmen dann überhaupt verhältnismäßig? Dürfte man in diesem Fall den Tod weniger zugunsten des gesellschaftlichen Wohls in Kauf nehmen? Ist der gebotene Schutz für das Leben absolut? Wie verhält es sich, wenn das Leben jüngerer Menschen gegen das Leben älterer steht? Spielen gewonnene oder verlorene Lebenszeit bei diesen Erwägungen auch eine Rolle?

Diese Fragen sind unbequem. Doch man wird angesichts der Lage kaum umhinkommen, sie sich zustellen, auch wenn das Resultat schmerzhaft sein könnte.

Die philosophische Ethik spricht in diesem Zusammenhang von moralischen Dilemmata. Ein moralisches Dilemma zeichnet sich dadurch aus, dass, egal für welche Option man sich entscheidet, man sich in jedem Fall mit einer moralischen Schuld belasten wird. Im Augenblick scheint die dilemmatische Ausgangslage folgende zu sein: Das Leben eines größeren und im Schnitt jüngeren Teils der Bevölkerung steht gegen jenes einer im Schnitt älteren Minderheit. Wäre es nun moralisch legitim, das Wohl der einen für das Wohl der anderen zu opfern?

Pflichtethiker wie Kant sagen Nein. Konsequentialisten behaupten Gegenteiliges. Doch wie werden diese unterschiedlichen Antworten begründet?

Kant ist bekanntlich Vertreter einer deontologischen Pflichtethik. Deontologische Ethiken bewerten eine Handlung per se, aber nicht (!) die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Der Konsequentialismus hingegen, bewertet ausschließlich die Folgen einer Handlung. Genauer: Kant qualifiziert eine Handlung dann als moralisch, wenn sie mit dem Sittengesetz, das er im kategorischen Imperativ materialisiert sieht, vereinbar ist. Das bspw. Lügen nicht dazugehören kann, dürfte klar sein, da man vernünftigerweise nicht wollen kann, dass das Lügen zu einem allgemein akzeptierten Standard wird.

Utilitaristen hingegen können ein Recht zu lügen dann zugestehen, wenn es in einer gegebenen Situation mehr Nutzen als Schaden produziert. Standardgemäß lässt sich das Credo des Utilitarismus mit der Formel "das größte Glück für die größte Zahl" einigermaßen gut zusammenfassen.

Im bekannten Gestapo-Beispiel, einem Lieblingsbeispiel der angewandten Ethik, verbietet Kant dem Schutzbietenden die Geheimhaltung des Judenverstecks mit Hinweis auf das kategorische Lügenverbot. Auch wenn Kant annehmen muss, dass die Preisgabe des Verstecks mit großer Wahrscheinlichkeit den Tod der Juden zur Folge hat, darf er diese Erwägung jedoch nicht in sein moralisches Urteil einfließen lassen und tut es auch nicht.

Kant unterstreicht diese Sichtweise in seinem Aufsatz "Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen", wo er selbst bei "Gefahr von Leib und Leben" ein Recht zu lügen nicht zugesteht. Dies daher, weil er, wie erwähnt, ausschließlich auf die Handlung selbst und nicht auf die Folgen abstellt.

Das scheint nicht nur kontraintuitiv, sondern ist es auch. Denn wer würde einem Menschen moralisches Fehlverhalten zur Last legen wollen, der mit dem Aussprechen einer Unwahrheit Menschen vor dem Tod bewahrt?

Allerdings können auch konsequentialistische Ethiken häufig zu fragwürdigen Ergebnissen führen. So würden wir es niemals billigen, einen Straßenjungen zu entführen und auszuweiden, um mit seinen Organen fünf anderen Menschen das Leben zu retten. In den Augen der meisten Menschen und Rechtssysteme wäre das Mord - nichts weiter.

Doch wie lassen sich diese Überlegungen auf die Dilemmasituation der jetzigen Krise übertragen?

Kant und die Menschenwürde

Kant lehnt moralische Dilemmata gemeinhin ab. Doch das dürfte kein Auswuchs einer persönlichen Präferenz sein, sondern ergibt sich ganz einfach aus dem statischen Wesen seiner Ethik. Ein Utilitarist hingegen würde im Falle, dass der ökonomische und gesellschaftliche Lockdown mehr Menschen schadet als er nutzt, für die Aufhebung des Ausnahmezustandes plädieren.

Wer hat nun recht? Gibt es überhaupt ein allgemeines, letztgültiges ethisches Prinzip, das uns stets sagt, was in einer gegebenen Situation zu tun ist?

Dass Kant die Abwägung von Leben kategorisch ablehnt, hat noch einen weiteren Grund: Sein Prinzip der Menschenwürde. Das Leben hat hiernach einen absoluten intrinsischen Wert, der für eine Verrechnung nicht bemüht werden kann. Kant konkretisiert die Menschenwürde in seiner berühmten "Selbstzweckformel". Der Mensch, so der ungefähre Wortlaut, dürfe niemals bloß als Mittel, sondern müsse immer auch als Zweck an sich betrachtet werden. Aus dieser Formel lässt sich ableiten, dass jede Verrechnung von Leben automatisch einer Verzweckung der Person gleichkäme. Und das ist für Kant nicht tragbar.

Was ist damit aber gewonnen? Zunächst nicht viel, denn das heißt nur, dass Kant in Dilemmasituationen nicht befragt werden kann. Dieses Instrumentalisierungsverbot liefert zusammen mit seiner handlungszentrierten Ethik den Grund dafür, warum Kant moralische Dilemmata zwangsläufig ablehnen muss (!).

Was aber, wenn sich das Dilemma nicht mehr vermeiden lässt?

Man könnte argumentieren, dass in einer bestehenden Dilemmasituation, wie der jetzigen, auch Kant zugestehen müsste, den Schaden so gering wie möglich zu halten. Abgesehen davon ist es fraglich, ob man Kants Sakralisierung der Menschenwürde für bare Münze nehmen kann, denn, wenn dem Leben ein unantastbarer absoluter Wert beigemessen wird, ist nicht zu sehen, wie dieser plötzlich abhandenkommen soll. Es mag deshalb erstaunen, dass gerade Kant sich für die Todesstrafe ausspricht. Scheinbar ist Kant der Auffassung, dass die Todesstrafe die Menschenwürde nicht tangiert.

Das Hauptproblem mit der Menschenwürde dürfte jedoch sein, dass sich nicht überzeugend darlegen lässt, welche konkreten Individualrechte aus ihr folgen und welchen modalen Status diese besitzen würden. Solange dies nicht gelingt, bleibt das Konzept der Menschenwürde ohne verbindlichen normativen Gehalt. Daran ändert auch der erste Absatz des deutschen Grundgesetzes wenig.

Dass der Versuch einer ethischen Letztbegründung insgesamt gescheitert ist, wissen wir spätestens seit Wittgenstein. Denn irgendwann "biegt sich der Spaten eben zurück" und man muss die Suche danach abbrechen, will man nicht der Tücke des Münchhausen-Trilemmas auf den Leim gehen.

Wonach sollen wir unser Handeln aber ausrichten, wenn es ein solches letztgültiges Prinzip nicht gibt?