Das Dilemma der Lockdown-Politik
Seite 4: Leben wird immer schon verrechnet
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Dass sich die Menschenwürde nicht in Form einer ethischen Letztbegründung gewinnen lässt, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Es heißt lediglich, dass ihr modaler Status nicht gesichert ist, aber nicht, dass sie keinen besitzt. Das Prinzip der Menschenwürde entfaltet durchaus eine moralische Verbindlichkeit. Allerdings speist sich diese nicht aus dem Prinzip per se, sondern aus den alltäglichen vortheoretischen Selbstverständlichkeiten unserer lebensweltlichen Praxis. Der Philosoph Nida-Rümelin beschreibt das so: "Jede Begründung endet in den Selbstverständlichkeiten einer geteilten Lebensform."
Die Genese der Menschwürde ist damit keine sakral-metaphysische, sondern eine weltlich-praktische. Und genau deshalb kann der Wert des Lebens gleichwenig absolut sein wie der dafür gebotene Schutz. Auch der deutsche Ethikrat scheint diesem Befund stattzugeben. In einer Stellungnahme zur Coronakrise schrieb er unlängst: "Auch der gebotene Schutz des Lebens gilt nicht absolut. (…) Alle an solidarischen Praxisformen beteiligten Personen sollten sich fragen, welche Einbußen und Kosten man wem mit Gründen ansinnen darf - im aktuellen Fall also etwa, wem welche Einbußen in der politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Lebensweise zugemutet werden dürfen."
Doch wer dem Leben dieser Tage seinen absoluten Wert absprechen will, sollte auf der Hut sein. Denn man sieht sich schnell mit dem Vorwurf menschenverachtender Rhetorik konfrontiert. Dabei wird jedoch vergessen, dass wir es waren, die sich für die Relativierung des Lebenswertes entschieden haben und zwar schon seit je her. Dies nicht deswegen, weil wir das menschliche Leben etwa geringschätzen würden, sondern weil die Verrechnung und Relativierung von Leben immer schon Teil einer von uns geteilten und allseits akzeptierten lebensweltlichen Praxis ist.
Man denke dabei an die Allokation medizinisch knapper Ressourcen in der Notfallmedizin oder an kostspielige medizinische Eingriffe, die womöglich deshalb unterlassen werden, weil sie sich für die betroffene Person "nicht mehr rentieren". Man denke aber auch an die Risikoanalysen im Versicherungswesen und Bausektor, das Kosten-Nutzen-Kalkül für Sicherheitsmaßnahmen in der Automobilindustrie oder die Kriterien für die medizinische Forschung nach Impfstoffen. Es gibt Berufe, wo Menschen sich zum Schutze "wichtigerer" Personen notfalls in die Schussbahn werfen, um ihr Leben zu retten.
Diese Liste ließe sich beliebig in die Länge ziehen. Wer dies unterschlägt, verkennt, dass solche Praktiken schon längst ein konsolidierter Bestandteil unseres gesellschaftlichen lebensweltlichen Geflechts sind und immer waren - und das ganz unbeeindruckt von Luftsicherheitsgesetzen und anderen Artikeln des Grundgesetzes.
Und eben deshalb kann es nicht moralisch verwerflich sein, wenn man vielen gegenüber wenigen und Jüngeren gegenüber Älteren den Vorzug gibt. Denn wer würde es nicht verstehen, wenn wir beispielsweise diejenigen vor der Katastrophe bewahren, die ihr Leben noch vor sich haben? Und es geht hier nicht um utilitaristische Nutzenmaximierung, sondern um etwas nur allzu Natürliches, das wir als Gesellschaft - zumindest größtenteils - akzeptieren und immer schon akzeptiert haben.
Freilich ist eine solche Entscheidung schmerzhaft und niemand, der sie treffen muss, ist zu beneiden. Denn auch ältere Personen sind jemandes Vater oder Großvater und haben der Gesellschaft einen Dienst erwiesen. Doch es kann niemals eine akzeptable moralische Regel sein, junge Menschen zugunsten Älterer und Viele zugunsten Weniger zu opfern. Denn wir haben gute Gründe das nicht zu tun, mag es für Angehörige der älteren Person auch noch so schmerzlich sein. Dies auszusprechen ist nicht inhuman, im Gegenteil ist es geradezu allzu menschlich - es ist der Lauf der Dinge und hat mit einer kategorialen Abwertung der Person nichts zu tun.
Natürlich bleibt zu hoffen, dass diese Krise es nicht erforderlich macht, solche Abwägungen zu tätigen. Doch wenn der Moment kommt und eine zweite Welle anrollt, sollte ein erneuter Lockdown vermieden werden, denn sonst wird die Zahl jener, die den Folgen des Lockdowns zum Opfer fallen, jene der Virus-Opfer ungleich übersteigen.
Diese Diagnose ist hart, aber vermutlich verheißt sie das geringere Übel, auch wenn dies einzusehen nicht leicht fällt.
Über den Autor:
Valentin Widmann hat Geschichte und Philosophie an der Universität Wien und Innsbruck studiert. Daneben studierte er an der Karl-Franzens-Universität in Graz "Political, Economic and Legal Philosophy (PELP)". Seine Diplomarbeit "Die Aktualität des aristotelischen Seelenbegriffes für die moderne Körper-Geist-Debatte" verfasste er im Bereich der analytischen Philosophie des Geistes und der theoretischen Ethik. Er war drei Jahre lang Gymnasiallehrer für Geschichte und Philosophie am Humanistischen Gymnasium "Walther von der Vogelweide" in Bozen und arbeitet nun an Forschungsprojekten zur Humanismus-Transhumanismus-Debatte und zur Thematik "Künstliche Intelligenz und Ethik". Daneben publiziert er verschiedenste Beiträge zu gesellschaftspolitischen und ethischen Themen.