Das Dilemma palästinensischer Sicherheitspolitik

Druck von Hamas, Israel, den USA und Arafat: schwierige Zeiten für den palästinensischen Ministerpräsidenten Abbas

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Mit einer neuen Welle israelischer Raketenangriffe und palästinensischer Bombenattentate wird der politische Handlungsspielraum von Mahmud Abbas immer kleiner. Die Aushandlung eines einseitigen Waffenstillstandes militanter Gruppen verschafften dem palästinensischen Premier vorübergehend Aufwind. Nun ist ein Neuanfang schwierig.

Der Beschuss eines Wagens im Flüchtlingslager Jabalia nördlich von Gaza ist die letzte Gewalttat in einer neuen Reihe im israelisch-palästinensischen Besatzungskonflikt. Drei Raketen trafen das Fahrzeug Khaled Mas'uds, einem Mitglied des bewaffneten Arms der militant-islamischen Hamas-Bewegung. Massud und zwei weitere Insassen konnten entkommen. Getötet wurde in dem dicht besiedelten Gebiet aber ein 65-jähriger Passant. 26 Menschen sind verletzt.

Erst am 29. Juni verkündeten alle palästinensischen militanten Gruppen einen einseitigen Waffenstillstand. Dem vorausgegangen war eine zähe Überzeugungsarbeit von Ministerpräsident Mahmud Abbas, dem selbst internationaler Druck im Nacken saß. Vor der Wahl zwischen politischer Bedeutungslosigkeit durch ein Versagen der Road Map und politischem Selbstmord durch die blutige Verfolgung der Hamas und einem potenziellen Bürgerkrieg, fand Abbas den dritten Weg.

Selbst nicht an innerpalästinensischer Streiterei interessiert, erklärten sich die Militanten zum Niederlegen der Waffen bereit. Unter einer Bedingung: Israel sollte auf Liquidierungen und Häuserzerstörungen verzichten. Und: die Lebensbedingungen der palästinensischen Bevölkerung sollten sich verbessern.

Die Hamas will reden

Israels Regierung will auf die "außergerichtlichen Exekutionen" jedoch nicht verzichten und beharrt weiterhin auf der Zerschlagung aller "terroristischen" palästinensischen Widerstandsorganisationen. Unter dem Druck der USA wurden zwar vor drei Wochen wenige Straßensperren innerhalb der besetzten Gebiete abgebaut. Dafür sind aber neue hinzugekommen, und heute stehen auch die alten wieder. Die Unsicherheit für Leib und Leben in den besetzten Gebieten ist immer noch sehr groß. Am Mittwoch drangen israelische Soldaten nach Ramallah ein und nahmen, um sich schießend, in einem Café mitten im Stadtzentrum etwa 15 Menschen fest. Passanten flohen panisch in die Hauseingänge.

Mahmud Abbas hat es also weiterhin schwer. Den Dialog mit der Hamas, die für den Selbstmordanschlag vom 19.August mit zwanzig Toten verantwortlich zeichnet, hat er vorübergehend abgebrochen. Die Hamas signalisiert jedoch trotz der drei israelischen Raketenangriffe in fünf Tagen erneut Redebereitschaft. Zwar macht sich auch ein palästinensischer Ministerpräsident nicht gerne lächerlich. Aber er weiß auch, dass es zum Dialog keine Alternative gibt.

Abbas traf am Dienstag zu einer außerordentlichen Kabinettssitzung in Gaza ein. Außerdem wolle er, so die Tageszeitung Al-Quds, dem Parlament die bisherigen Errungenschaften seiner Regierung vorstellen und "eine Art Vertrauensfrage" stellen. Im Gazastreifen hatte Abbas auch Termine mit palästinensischen Widerstandsgruppen. Allerdings sei nicht sicher, so Al-Quds weiter, ob sich darunter auch Vertreter der islamistischen Militanten von Hamas und Jihad Islami befinden.

Israel behindert Abbas

Abbas hat außer dem Dialog keine andere Wahl, weil er von zwei Seiten aus bedroht wird. Israel hat die palästinensischen Sicherheitskräfte zerstört. Ein Repressionsapparat braucht nicht nur Diensträume, Gefängnisse und Waffen. Die Beamten brauchen vor allem ein Einsatzgebiet. Außer dem Stadtzentrum Betlehems ist aber das gesamte Westjordanland von Israel militärisch besetzt. Und auch dort ist man vor Armeeübergriffen nicht sicher, wie die letzten Tage zeigten. Die Polizei kann sich also nicht nur nicht bewegen, sie erhält dazu von Israel auch keine Berechtigung. Waffen Tragende werden, ob mit oder ohne Polizeiuniform, von den Soldaten erschossen. Seit dem Frühjahr 2002 ist das bereits so. Trotzdem geben Israel und andere Staaten stets der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) die Schuld für Anschläge in Israel. Der letzte Selbstmordattentäter, der 20 Menschen in Jerusalem tötete, kam aus Hebron. In beiden Städten übt Israel die Kontrolle aus und konnte, obwohl viel besser ausgerüstet als die palästinensische Polizei in ihren besten Zeiten, den Anschlag nicht verhindern.

In Teilen des Gazastreifen gibt es noch eine funktionierende Polizeistruktur. Hier könnte die PA zeigen, wie sie sich die Bekämpfung der Militanten vorstellt. AbbasŽ Sicherheitskräfte gingen dort auch vereinzelt gegen Mitglieder von Hamas und Jihad Islami vor. Die zu Verhaftenden erhielten aber meist Unterstützung aus der Bevölkerung. Polizisten wurden mit Steinen beworfen. Im Gazastreifen hat die PA noch weniger Rückhalt als im Westjordanland. Die Menschen erwarten von ihrer Behörde die Verbesserung ihres Lebensalltags. Ohne die Mitarbeit Israels kann die PA aber wenig ausrichten. Das Militär kontrolliert die Straßen, die Grenzzäune, die Fischgründe und den Luftraum und marschiert nach Belieben in die Ortschaften mit den insgesamt 1,3 Millionen Einwohnern ein. 5.000 jüdische Siedler kontrollieren das Wasser und ihre Kolonien wachsen stetig weiter. Im Westjordanland wird die Lage nun von der Einzäunung (siehe dazu auch Wahrscheinlich wird es ein Zaun sein, der auch Seelen frisst) der Palästinenser bestimmt.

Letzten Endes kann die PA aber machen, was sie will. Auch wenn ihr die Zerschlagung aller Organisationen gelingt, sogar Staaten mit weit größeren Unterdrückungsapparaten sind vor Attentaten nicht sicher. Israel hat damit immer einen Grund, Friedensverträge nicht einzuhalten. So lange die totale Einstellung palästinensischer Widerstandshandlungen als Vorbedingung für einen israelischen Rückzug besteht, bleibt jeder Friedensplan chancenlos. Dabei sind Kenner der Lage überzeugt: Ein sicherer Friede wäre sofort mit der Räumung der 1967 besetzten Gebiete zu erreichen. Selbst Hamas-Kader nehmen von der Forderung nach der "Befreiung ganz Palästinas" Abstand.

Und Arafat stört ebenfalls

Jassir Arafat torpediert seinen Ministerpräsidenten auch, wo es geht. Der palästinensische Präsident und Vorsitzende der PA befindet sich zwar seit fast zwei Jahren unter israelischem Hausarrest in Ramallah, hält aber immer noch große Macht in seinen Händen. Er kontrolliert nicht nur einen Gutteil des Finanzflusses, sondern genießt auch die Loyalität von vielen. Seine Gefolgsleute behaupten jedenfalls immer wieder, dass zumindest ihr Einfluss in der Basis der eigenen Fatah-Bewegung noch sehr stark ist. Aber auch deren bewaffneter Arm, die Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden, verübte schon Selbstmordanschläge innerhalb Israels. Konkurrenz zur Hamas ist Arafat wichtiger als eine Ausrichtung des Widerstandes an menschenrechtlichen Normen. Dazu kommt, dass auch viele Fatah-Mitglieder Arafat als das kleinere Übel ansehen. Sie sehen im Wegfall Arafats das Startzeichen für totales Chaos in den politischen Strukturen Palästinas. So beklagen auch die Oppositionsparteien die entwürdigende Behandlung des Präsidenten durch Israel.

Hausarrest für Mahmud Abbas würde dagegen bei vielen höchstens zu Gelächter führen. Der Premier konnte bisher noch wenig Rückhalt aufbauen.

Eigentlich soll das Innenministerium unter Staatsminister Muhammad Dahlan die etwa 20 Sicherheitsapparate neu aufbauen und vereinen. Arafat ist aber nicht bereit, die Befehlsgewalt über einige davon abzugeben. Sein neuester Schachzug ist nun die Ernennung Jibril Rajubs als Berater für Nationale Sicherheit Anfang der Woche. Nach Angaben der Zeitung Al-Ayyam erklärte Rajub die Funktion des Nationalen Sicherheitsrats unter dem Vorsitz Jassir Arafats als oberstes Kontrollorgan aller Sicherheitsabteilungen. Der Aufbau einer Parallelstruktur zum Ministerpräsidenten und dem Parlament geht also in großen Schritten voran. Ziel ist die Destabilisierung von Mahmud Abbas, ein reiner Machterhalt für Jassir Arafat.

Die palästinensische Bevölkerung sieht dem weitgehend tatenlos zu. Aber die Menschen haben auch keine andere Wahl. Eine Möglichkeit zum Auf- und Ausbau von Gegenorganisationen, zur grundlegenden, parteiübergreifenden Restrukturierung ist unter den Bedingungen der Militärbesatzung ausgeschlossen.