Das Elend der deutschen Nahost-Politik
Warum dem deutschen Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung jegliche Vision für die palästinensische Seite fehlt. Eine historische Spurensuche (Teil 2 und Schluss)
Schmidt hatte durchaus Fürsprecher und Sympathisanten in Israel, wie Abba Eban oder Shimon Peres, den Vorsitzenden der Arbeitspartei, oder Nachum Goldmann, den langjährigen Präsidenten des World Jewish Congress. Mit ihm handelte er die Restsumme der Wiedergutmachungszahlungen aus, die schließlich auf 400 Millionen DM festgesetzt wurde.
Er blieb bei seinen kritischen Positionen bezüglich der Zukunft der Westbank, der israelischen Siedlungspolitik, des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser und Israels zukünftigen Grenzen. Wenn er auch die schwierige Lage Israels innerhalb einer (selbstverschuldeten) feindlichen arabischen Umgebung sah, wollte er die langjährige Besetzung der 1967 eroberten Gebiete nicht akzeptieren und kritisierte die totale politische und strategische Abhängigkeit Israels von den USA.
Schmidt kritisierte die israelische Politik offen, so offen, wie noch keine Regierung vor ihm. Er riskierte die Belastung der Beziehungen, wie kein Kanzler vor ihm. Die israelische Politik ändern konnte er dennoch nicht. Das lässt allerdings nicht den Schluss zu, dass freundlichere und harmonischere Beziehungen mit der israelischen Regierung den Friedensprozess wirksamer voranbrächten. Erst unter Schmidts Nachfolger Helmut Kohl wurden die Beziehungen zur israelischen Regierung wieder besser, dem Friedensprozess haben sie jedoch auch nicht entscheidend geholfen.
Helmut Kohl: Irritationen in der Knesset und Rüstungsdeals
Kohl war erst der zweite Kanzler, der nach Willy Brandts Besuch 1973 Israel im Jahr 1984 besuchte. Die Beziehungen standen noch ganz unter der heftigen Konfrontation Schmidts mit Begin und außerdem hatte Kohl gerade die Waffen an Saudi Arabien verkauft, die Schmidt zuvor zurückgehalten hatte. Damals präsentierte Kohl seinen Gastgebern in der Knesset auch noch die berüchtigte Formel von der "Gnade der späten Geburt", die gar nicht gut ankam. Avi Primor urteilte später:
Es gab ziemlich viele Missverständnisse zu Beginn. Auf beiden Seiten gab es viele Hemmungen. Aber dann haben sich die Beziehungen so gut entwickelt wie nie zuvor zwischen Deutschland und Israel.
Interview der Deutschen Welle zum Tod von Helmut Kohl, v. 17. Juni 2017
Die Missverständnisse lagen vor allem daran, dass Kohl sich in Jerusalem auch für die Resolution der EG 1980 in Venedig mit dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser aussprach - als Oppositionsführer hatte er sie noch heftig bekämpft und in der Politik machte er später keinen Gebrauch von ihr.
Mit ihm entwickelten sich die Wirtschaftsbeziehungen, die militärische Kooperation mit Rüstungslieferungen und die Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet ohne Probleme. In den 1993 beginnenden Etappen des sog. Friedensprozesses von Madrid und Oslo, stand die Bundesregierung fest hinter der israelischen Position. Er traf zwar Arafat in Jericho, für die Palästinenser war das aber so bedeutungslos, dass nicht einmal Wikipedia davon berichtet. "Kohl hat Israel immer Vorrang gegeben", hat Avi Primor das Kapitel Nahostpolitik treffend umschrieben.
Von Kohl zu Fischer
Damit war das Feld gut bestellt, dass auch die folgenden Regierungen, die rot-grüne Koalition (1998 - 2005) und die schwarz-rote-Koalition (2005 - 2009), die Politik des Vorrangs Israels weiterführen und vertiefen konnten. Das war eine Politik des stetigen Ausbaus der Wirtschaftsbeziehungen, der Steigerung des Rüstungsexports und der militärischen Kooperation sowie der Festigung der gesellschaftlichen Verbindungen.
Und je erfolgreicher die deutsch-israelischen Beziehungen sich entwickelten, desto trügerischer wurden die nicht ausbleibenden Bekenntnisse zur Zwei-Staaten-Lösung, zum Selbstbestimmungsrecht und zur eigenen Staatlichkeit des palästinensischen Volkes. Alle Versuche der PLO zur Aufwertung des Status von Palästina im Rahmen der UNO wurden hintertrieben, der Vorstoß des luxemburgischen Außenministers Asselborn, über eine Anerkennung Palästinas zu sprechen, war schon vor dem letzten Außenministertreffen von der Bundesregierung abgelehnt worden.
Die Isolation der Hamas und die Blockade des Gaza-Streifens nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 wurden von der Regierung Merkel/Steinmeier voll mitgetragen. Bei dem verheerenden Überfall Israels auf den Gaza-Streifen zur Jahreswende 2008/2009 stand Frau Merkel ganz auf der Seite Israels.
Nur einer der mit dem Nah-Ost-Konflikt beschäftigten Minister hatte wirkliche Probleme mit seiner Aufgabe: Joschka Fischer, Außenminister in der rot-grünen Koalition seit 1998. In seiner Autobiographie bekennt er, dass er lange gebraucht habe, bis er zu der Nah-Ost-Politik der rot-grünen Koalition gefunden hatte, die "in voller Kontinuität mit der Politik aller bisherigen Bundesregierung" stand. (J. Fischer, Die rot-grünen Jahre, München 2008, S. 411). Der Sechs-Tage-Krieg 1967 und der Tod Benno Ohnesorg am 2. Juni machten ihn, wie er schreibt, zu einem "Linksradikalen" und veränderten seine Haltung zu Israel.
Die war bis dahin durch den Völkermord und die Erzählungen über den Holocaust geprägt. Nun traten mehr und mehr die Palästinenser und ihr Schicksal in den Vordergrund. "Eine moralische Haltung gegenüber Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Politik" habe sich bei ihm entwickelt. Sie habe seinerzeit seinen Blick auf die Konfrontation im Nahen Osten verändert. Sein Dilemma allerdings sei das Existenzrecht Israels gewesen, das auch für ihn absolut unantastbar war. Er konnte das damals in der "Vorstellung von einem binationalen Israel, in dem Israelis und Palästinenser friedlich mit gleichen Rechten zusammenleben würden", auflösen.
Diese, wie er meint "postzionistische Position", die seinerzeit sehr von der trotzkistischen Gruppe Mazpen beeinflusst wurde, hielt allerdings nur kurze Zeit. Genau bis zur Entführung eines Flugzeugs der Air France durch die Volksfront zur Befreiung Palästinas nach Entebbe in Uganda und die Selektion der jüdischen von den nicht-jüdischen Passagiere durch zwei junge Deutsche - für Fischer die schlimmste Form von Antisemitismus. Für ihn war seitdem klar, schreibt er, "dass Antizionismus letztendlich nichts anderes als Antisemitismus war und wie jeder Antisemitimus im Mord an jüdischen Menschen endete." (S. 416)
Der palästinensische Terror nahm für ihn seitdem die Rolle des geschichtlichen Movens an, der verantwortlichen Quelle für all das Scheitern der neuen Ansätze im Friedensprozess. Der Terror hatte für ihn das politische Schicksal Baraks besiegelt und Scharon zum Wahlsieger gemacht, wie schon den Wahlkampf von 1966 zu Gunsten Netanjahu entschieden.
Fischer schreibt zwar, dass der anhaltende Gebietsverlust durch den israelischen Siedlungsbau für die 2. Intifada wohl ausschlaggebend war, wirft aber der palästinensischen Führung vor, dass sie "mit ihrer fatalen Entscheidung nahezu völlig die Psychologie der israelischen Seite" ignoriert habe. Nun sind Landraub und der Widerstand dagegen kein Problem der Psychologie, aber wer fragt überhaupt nach der Psychologie der palästinensischen Seite?
Fischer hatte sich alsbald von seiner Vision eines jüdisch-palästinensischen Staates verabschiedet und illusionslos die Alternative Krieg oder Teilung des Territoriums erkannt. Er konnte zwar nach einem furchtbaren Terroranschlag auf eine Diskothek in Tel Aviv im Juni 2001 während seines dortigen Besuchs zwischen Sharon und Arafat vermitteln und eine weitere Eskalation verhindern. Aber vor den großen Entscheidungen des Nahostkonfliktes kapitulierte auch er und zog sich auf den alten Grundsatz der deutschen Nahostpolitik zurück, keine aktive oder gar eigenständige Rolle spielen, sondern diese den USA überlassen. Er stimmte jeden seiner Schritte mit Colin Powell ab.
Klar auf der Seite der israelischen Politik: Heiko Maas
Dies war nun aber nicht nur eine Frage der Diplomatie und Bündnistreue, es war eine klare inhaltliche Entscheidung zugunsten der israelischen Politik, selbst in ihren kriegerischsten und menschenfeindlichsten Varianten, und gegen die Palästinenser. Dieser Linie fühlt sich auch der gegenwärtige sozialdemokratische Außenminister Heiko Maas verpflichtet, der seine Berufung zur Politik auf den Holocaust zurückführt.
Das mag als innerer Leitfaden die ausschließliche Fixierung seiner Politik auf die Interessen der israelischen Regierung erklären, nicht aber die von beiden betonte enge Freundschaft mit der sich offen faschistisch bekennenden ehemaligen Justizministerin Ayeled Shaked. Was sie auf ihrer Website und auf Facebook über die Palästinenser verbreitet, sollte auch dem deutschen Außenminister bekannt sein:
Sie sind feindselige Kämpfer gegen uns, und sie werden dafür bluten. Dazu zählen auch die Mütter der Märtyrer. Sie müssen verschwinden und ebenso die Häuser, in denen sie die Schlangen großziehen.
Sie alle sind unsere Feinde und ihr Blut soll an unseren Händen kleben.
Es mag sein, dass Maas nichts davon wusste, dass seine Freundin auch mit seinem Konterfei auf ihren Wahlplakaten geworben hat, eine zumindest neutrale Politik und Vermittlerrolle in diesem Konflikt lässt sich aber vor diesem "freundschaftlichen" Hintergrund kaum glaubhaft empfehlen.
Bei seinem Besuch im Juni dieses Jahres in Israel zeigte sich der Jurist Maas zwar "besorgt" über die völkerrechtswidrigen Annexionspläne Netanjahus, hatte aber nicht den Mut, auf die Möglichkeit von Sanktionen hinzuweisen, wie sie die EU auf Initiative der deutschen Regierung gegen Rechtsstaatsverstöße ihrer Mitglieder beschlossen hat. Maas weiß genau, dass jede in das ständige Bekenntnis zu "einzigartigen Beziehungen" verpackte kritische Anmerkung von Netanjahu wie eine stillschweigende Billigung angesehen wird.
Maas akzeptierte sogar Netanjahus Verfügung, nicht nach Ramallah zu Mahmut Abbas zu reisen, besichtigte dafür jedoch die besetzten Gebiete aus der Luft - ein grober völkerrechtlicher Verstoß, der nur mühsam vertuscht wurde. Zugleich will er die deutsche Abstimmungspraxis in der UNO, die oft die zahlreichen Verurteilungen israelischer Politik mitgetragen hat, einer Revision unterziehen. Aus dem Auswärtigen Amt verlautet:
Deutschland tritt einer unfairen Behandlung Israels in den Vereinten Nationen entgegen. Die gemeinsame Verhandlungs- und Abstimmungsstrategie der EU bei den genannten Resolutionen hat zum Ziel, in den Textverhandlungen Einfluss zu nehmen, um für Israel noch nachteiligere Beschlüsse zu verhindern. Zudem hat Deutschland sein Stimmverhalten in Fachorganisationen der Vereinten Nationen (z.B. der WHO) geändert und wendet sich gegen in unangemessener Weise politisierte und gegen Israel gerichtete Beschlüsse.
Das Amt schließt sich damit den Vorwürfen der israelischen Regierungen gegen alle kritischen UN-Resolutionen an, sie würden unfair behandelt. Dem notorischen Antisemitismusverdacht hat es sich allerdings noch nicht angeschlossen. Hingegen stimmte auch Maas in das Lob über den von Präsident Trump eingefädelten Vertrag zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) ein, ohne auch nur die faktisch sich verfestigende Annexion und die Kritik der Palästinenser an dem Vertrag zu berücksichtigen.
Die Hoffnung, dass mit diesem Vertrag wieder die Tür zu einem Friedensdialog zwischen Jerusalem und Ramallah geöffnet wird und die VAE dabei eine entscheidende Unterstützung für die palästinensischen Interessen geben können, wird sich alsbald als Illusion herausstellen. Denn die schon bisherige Politik der VAE lässt dafür keine Ansätze erkennen
Auch die aktuelle deutsche Diplomatie beschränkt sich auf die Hofierung der israelischen Regierung. Ihrem Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung fehlt jegliche Vorstellung, die der palästinensischen Seite die Hoffnung eröffnen könnte, dass ihre Interessen gleichberechtigt vertreten würden. Im Gegenteil, die deutsche Haltung in diesem Konflikt spiegelt die Unfähigkeit der offiziellen Politik wieder, in der Fixierung der historischen Schuld auf die Vergangenheit die Größe der Verantwortung in der Zukunft zu erkennen.
Wer die Verantwortung auf die Jüdinnen und Juden und ihren Staat begrenzt, vergisst, dass das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser durch die gleichen Verbrechen in der Vergangenheit bestimmt worden ist. Die deutsche Politik kann sich nicht ihrer Verantwortung für das jüdische Vol
k durch den Verzicht des palästinensischen Volkes auf ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben entledigen. Deutschland wird sich so lange nicht von der Hypothek seiner Verbrechen befreien können, wie nicht eine von allen akzeptierte Lösung des Konflikts gefunden wird und Frieden zwischen Juden und Palästinensern herrscht.
Und so müssen wir uns wohl von den Nachkommen der Opfer des Holocaust sagen lassen, was wirklich die Verantwortung der Deutschen ist. Unlängst schrieb die Linguistin und Schriftstellerin Ilana Hammerman, was am 23. Januar 2020 in der Wochenzeitung "Der Freitag" veröffentlicht wurde:
Wenn Deutschland wirklich Verantwortung für seine Nazi-Vergangenheit übernähme, würde es kompromisslos die Lehren aus dem damaligen Hass auf den Anderen ziehen, aus der rassistischen Gesetzgebung, aus der Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat und dem Gebrauch von Waffengewalt zu diesem Zweck. Und Deutschland würde diese Lehren auch auf die Politik der israelischen Regierung anwenden, anstatt sie zu verdrehen und zu entstellen, um sich an deren Seite zu stellen bis hin zur Diskreditierung aller ihrer Gegner als Antisemiten. Ganz im Gegenteil, die Bundesregierung hätte schon längst ihre führende Rolle in Europa und der Welt nutzen müssen, um Druck auf Israel auszuüben, damit es seine militärische und zivile Kontrolle über jene Gebiete beendet, die im Rahmen aller internationalen Resolutionen einem palästinensischen unabhängigen Staat zuzuweisen sind - und damit schrittweise die Schaffung von Bedingungen für eine friedliche Lösung ermöglicht.
Bundesregierung und Bundestag haben diese Lehren bis heute nicht gezogen. Sie haben sich Jahrzehnte der Politik der israelischen Regierungen untergeordnet und ihre eigene Verantwortung halbiert. Sie konnten keinen Beitrag zum Frieden leisten, da sie die Palästinenser und Palästinenserinnen vergessen haben und glaubten, sie mit finanzieller Hilfe befrieden zu können. Und ich wage die Behauptung, hätten die Bundesregierung und die anderen Regierungen der EU ihre Nahostpolitik konsequent an Menschenrechten und Völkerrecht ausgerichtet, hätten Trump und Netanjahu nicht diese Farce eines Friedensplanes in Washington inszenieren können.
Am gleichen Tag, dem 23. Januar, hat Gideon Levy im Haaretz seine Kritik am Holocaust-Gedenken veröffentlicht:
Man darf den Holocaust niemals vergessen, klar. Man darf auch nicht die Tatsache verwischen, dass er direkt gegen das jüdische Volk gerichtet war. Aber genau aus diesem Grund darf man auch nicht das Verhalten seiner Opfer zu den weiteren Opfern des jüdischen Holocaust vergessen, das palästinensische Volk. Ohne den Holocaust hätten sie nicht ihr Land verloren und wären jetzt nicht eingesperrt in einem gigantischen Konzentrationslager in Gaza oder würden nicht unter brutaler militärischer Besatzung im Westjordanland leben.
Wenn sie heute bis zum Erbrechen "nie wieder" zitieren, sollte man seine Augen ehrlicherweise nach Süden und Osten richten, nur einige Kilometer entfernt von der Gedenkstätte Yad Vashem. Da gibt es keinen Holocaust, nur Apartheid. Keine Vernichtung aber eine systematische Brutalisierung einer Nation. Nicht Auschwitz aber Gaza. Wie kann man das übersehen an einem internationalen Holocaust Gedenktag?
Man kann es übersehen. Die Bundesregierung und der Bundestag haben es jahrzehntelang übersehen, wie auch der Bundespräsident in seiner kitschigen Rede in Yad Vashem. Darin sagte er:
Im Erschrecken vor Auschwitz hat die Welt schon einmal Lehren gezogen und eine Friedensordnung errichtet, erbaut auf Menschenrechten und Völkerrecht. Wir Deutsche stehen zu dieser Ordnung und wir wollen sie, mit Ihnen allen, verteidigen.
Das bleibt gerade an dem Ort, an dem er gesprochen hat, nur hohle Festtagslyrik, die schon im Augenblick, in dem sie gesprochen wird, sich als Lüge entpuppt. Wer in Israel von Menschenrechten und Völkerrecht spricht, darf Gaza und das Westjordanland nicht unerwähnt lassen, es sei denn um den Preis, unglaubwürdig zu werden. Aber das ist das Elend der deutschen Nahostpolitik.