Das Gewicht der Welt - weg mit einem Knopfdruck

Hirnschrittmacher: Nicht ganz geklärte Interaktion zwischen Mensch und Maschine

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Wenn die Diagnose "Parkinson-Syndrom" gestellt wird, ist die Krankheit meist schon einige Jahre fortgeschritten. Zu leicht lassen sich frühe Symptome wie undeutliches Sprechen, Gehbeschwerden oder Zittern mit Alterserscheinungen verwechseln. Mit fortschreitender Krankheit verlieren die Betroffenen die Kontrolle über ihren Bewegungsapparat. Unwillkürliche Bewegungen, die Beeinträchtigung von Mimik und sprachlicher Artikulation belasten die Patienten insbesondere, weil sie oft gleichbedeutend mit sozialer Ausgrenzung sind. Viele Patienten hoffen auf eine chirurgische Behandlungsmethode: Die Implantation eines Hirnschrittmachers.

Bei Parkinson-Kranken sterben die Zellen der so genannten "Substantia Nigra" tief im Inneren des Gehirns. Dadurch kommt es zu Störungen bei der Produktion des Botenstoffs Dopamin. Es ist nicht der Dopamin-Mangel allein, der zu den Bewegungsstörungen führt, sondern ein Ungleichgewicht mehrerer Botenstoffe. "Man könnte sagen, diese Funktionen sind gewissermaßen aus dem Takt geraten", so Prof. Dr. Andreas Kupsch, Leiter des Parkinson-Kompetenzzentrums an der Neurologischen Klinik der Charité in Berlin.

Die Störung lässt sich nicht beheben - Parkinson ist unheilbar. Mit Medikamenten lassen sich die Folgen lindern, doch mit der Zeit verliert die Standardbehandlung mit dem Dopamin-Ersatzstoff L-Dopa ihre Wirkung. Als Alternative wird seit Mitte der 90er Jahre die so genannte Tiefenhirnstimulation angewendet, eine elektrische Reizung der betroffenen Hirnregionen mittels implantierter Sonden. Seit 1987 wurden laut den Parkinson-Informationsseiten von GlaxoSmithKline weltweit über 20.000 Implantationen durchgeführt, an der Charité sind es 35 bis 40 im Jahr.

Medizintechnologisch keine Sensation, aber äußerst belastende Erfahrung

Die eigentliche Operation sei "medizintechnologisch keine Sensation", schreibt Helmut Dubiel, Professor für Soziologie an der Universität Gießen, in seinem Buch "Tief im Hirn". Doch die Umstände, unter denen sie durchgeführt wird, machen sie für die Patienten zu einer äußerst belastenden Erfahrung. Um die Sonden exakt positionieren zu können, wird ein Stahlring auf dem Kopf des Patienten befestigt. Die Schädeldecke wird durchbohrt, bevor die Sonden durch das Gehirn an die vorherbestimmten Stellen geführt werden. Dabei wird lediglich die Kopfhaut betäubt - der Patient ist bei vollem Bewusstsein. Das ist notwendig, um die Funktion des Stimulators zu testen und die Einstellungen zu justieren.

Zu spüren ist nichts mehr, aber zu hören: Das Bohrgeräusch, ein intermittierendes Dröhnen, überdeckt alle anderen Wahrnehmungen. [...] Bewegungen werden gefordert: Die Beine werden angestellt, Füße und Hände lassen sich bewegen. Also keine motorischen Ausfälle. Das ist schon viel. Jetzt wird der Stimulator angesetzt, wird Spannung in die Elektroden gegeben. Ich soll kommentieren, was ich fühle. Ein starkes Kribbeln in der linken Hand und am Fuß. Läßt es nach? Ja, es wird erträglich. 'Bewegen Sie den Unterarm!'.

Erinnerungen eines Patienten, der an Parkinson litt

Helmut Dubiel, der in "Tief im Hirn" seine Krankheitsgeschichte reflektiert, leidet seit 13 Jahren an Parkinson. Sein Neurologe sieht bereits das Ende der Behandlungsmöglichkeit mit Medikamenten voraus, als Dubiel während einer Vorlesung erschüttert feststellt, dass Studenten seine irritierenden Bewegungen nachahmen. Er entschließt sich zur Operation. Stellvertretend für viele Parkinson-Patienten schreibt er:

Mein Wunsch, wieder gesund zu werden, war so überwältigend, dass ich noch ganz andere Dinge hätte mit mir anstellen lassen.

Ein Hund, dessen Hütte mit einer Kettensäge angegriffen wird

An den Eingriff kann sich Dubiel kaum erinnern. Wenige Tage danach zeigen sich Anzeichen eines Traumas. Als Dubiel im Gespräch mit einem Freund scherzhaft seine Erfahrung mit der eines Hundes vergleicht, "dessen Hütte mit einer Kettensäge angegriffen wird", bricht er unvermittelt in Schluchzen aus. Die Nebenfolgen der Operation setzen ihm zu: Er hat Wortfindungsstörungen und große Schwierigkeiten zu sprechen, seine Bewegungsfähigkeit hat sich nicht im erhofften Maße verbessert. Insgesamt ist er vom Ergebnis der Behandlung enttäuscht.

Die meisten Fälle verlaufen erfolgreicher. Doch Dubiels Erfahrungen verdeutlichten ein generelles Problem, so Professor Kupsch: "Man kann manche Patienten nahezu ständig darauf hinweisen, dass sie von der Hirnschrittmachertherapie keine 'vollständige Heilung' erwarten können".

Die Hoffnung auf Heilung sei trotzdem insgeheim weiterhin vorhanden. Kupsch weist darauf hin, dass auch Verbesserungen der Parkinson-Symptome Schwierigkeiten bereiten können, denn die Patienten sind Teil eines oft jahrelang eingespielten Systems, das ihre Behinderung in den Vordergrund stellt. Wenn die vormals pflegebedürftige Patienten nach der Operation plötzlich wieder unabhängiger werden, kann dies zu Spannungen in den sozialen Beziehungen führen. Die Operation sei "in vielen Fällen ein lebensveränderndes Ereignis".

Nicht zuletzt deshalb gelte es, die Nachsorge zu verbessern. "Die wird derzeit in Form von unbezahlten Überstunden geleistet, meist von denjenigen, die die Operation durchgeführt haben", so der Neurologe. Bisher seien seitens der Krankenkassen dafür schlicht keine ausreichenden Mittel vorgesehen.

Umpolung der Sonden verbessert schlagartig die Depression

Ein Jahr nach Dubiels Operation schlägt ihm eine Neurologin vor, den Schrittmacher versuchsweise abzustellen. "Es war, als ob ein Geist aus mir sprach. In derselben Sekunde kehrte meine Stimme zurück", schildert Dubiel den Effekt. Fortan schaltet Dubiel den Schrittmacher gelegentlich aus, um bei Vorträgen konzentriert und deutlich sprechen zu können. Wenn seine Bewegungsfähigkeit gefordert ist, bleibt das Gerät angeschaltet. Es gelingt der Ärztin nicht, eine Einstellung zu finden, die dauerhaft zufriedenstellend ist. Doch eine einfache Umpolung der Sonden verbessert schlagartig die Depression, unter der Dubiel seit seiner Operation leidet:

Ein Knopfdruck, bestätigt durch ein kaum hörbares digitales Piepen... Erschreckend und irgendwie demütigend war die Banalität dieses Vorgangs. In den zahllosen traurigen Geschichten, die mir in diesem Jahr durch den Kopf gegangen waren, hatte ich das Gewicht der Welt gespürt. Dies einfach per Knopfdruck wegzudrücken, erschien mir geradezu frivol.

"Dass die Tiefenhirnstimulation in Ausnahmefällen Depressionen auslösen kann, ist bekannt", so Professor Kupsch. "Auch Euphorie kann eine Folge sein". Erkenntnisse aus der bisherigen Praxis würden dazu führen, dass mittlerweile auch andere Anwendungen für die Tiefenhirnstimulation in Betracht gezogen werden. "Das ist wie bei vielen anderen Therapien auch: Nebenfolgen können auch zur erwünschten Wirkung werden", so der Neurologe.

Depressionen werden sicher ein nächstes Gebiet der Hirnschrittmacher-Therapie darstellen, aber auch andere psychiatrische Indikationen werden diskutiert.

Künftig größere Anwendungsgebiete für Hirnschrittmacher?

Wie es allerdings sein kann, dass diese Art der Stimulation des Gehirns überhaupt die bekannten Wirkungen zeigt, "das ist im Detail nicht bekannt", so Professor Kupsch. Die Signale der Sonden hemmen die Aktivität der angrenzenden Hirnregionen. Neben der hemmenden Wirkung spielen aber wahrscheinlich auch andere Faktoren eine Rolle, so der Neurologe.

Wie sich die Stimulation in anderen als den bisher behandelten Kerngebieten auswirkt, lasse sich auf der Grundlage von Erkenntnisse aus der Neuropathologie, Tierexperimenten oder aus Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren zunächst nur vermuten. Ob sich mit den Sonden des Hirnschrittmachers dort die angestrebte Wirkung erzielen lässt, bedürfe weiterer klinischer Forschung, wobei Erkenntnisse aus Tiermodellen eine wichtige Rolle spielen.

Die genaue Wirkung wird man also, wie bei den meisten medizinischen Anwendungen, erst in Erfahrung bringen, wenn man am Menschen testet. Helmut Dubiel hält "seine" Therapieform daher im Nachhinein für problematisch: "wegen des großen Missverhältnisses zwischen der 'Invasivität', der Eindringtiefe in die ultrakomplexe Struktur des Hirns und der weitgehenden Unklarheit, wie genau eigentlich die Wirkungsweise der vorliegenden Interaktion von Mensch und Maschine ist".

Doch noch kritischer sei, dass der Einsatz von Hirnschrittmachern wohl nicht auf die bislang eng begrenzten Anwendungsgebiete beschränkt bleiben werde. Angesichts der Debatten um Medikamente, die Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern mindern oder die Gedächtnisleistung von Alzheimer-Patienten steigern sollen, vermutet Dubiel, dass Pharmafirmen bereits jetzt "einen größeren Kreis von Konsumenten im Blick haben als die eindeutig als neurologisch krank definierten Patienten".

"Tief im Hirn" ist im August 2006 im Verlag Antje Kunstmann erschienen