Das Internet als kollektives Gedächtnis

Zeitmaschine I

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Universum kann sehr unterschiedlich aussehen, je nachdem in welchem Frequenzbereich des elektromagnetischen Spektrums man es betrachtet. Infrarotsensoren entdecken interstellare Staubwolken, wo das bloße Auge nur schwarz sieht. Gammastrahlen-Observatorien registrieren ungefähr einmal täglich Blitze, die heller als das übrige Weltall leuchten. Radiokarten des Himmels zeigen andere Muster als optische.

Zentrum der Milchstraße in Infrarot

Die künstliche Erweiterung der menschlichen Sinne hat nicht nur die Wahrnehmung der äußeren, materiellen Wirklichkeit verändert. Sie ermöglicht auch ein neues Bild der Menschheitsgeschichte. Allerdings sind es hier nicht elektromagnetische Sensoren, die zu neuen Einsichten führen, sondern es ist der sich zunehmend vereinfachende multimediale Zugang zur Vergangenheit (Beispiel). Je nachdem, welches Medium bei der Rekonstruktion der Geschichte im Vordergrund steht, zeigen sich unterschiedliche, sich mehr oder weniger überschneidende Muster, Akzente, Verbindungslinien.

Diese Situation ist neu: Bislang war die Schrift völlig selbstverständlich das dominierende Medium der Geschichtsforschung. Schließlich hatte sie einst das kollektive Gedächtnis überhaupt erst von den Beschränkungen der Mündlichkeit befreit. Mit Hilfe von Schriftzeichen konnten die Menschen ihr Wissen erstmals einem externen Speicher anvertrauen. Die Schrift ermöglichte so das Wachstum des gemeinsamen Erfahrungsschatzes und dessen Pflege im Lauf der Generationen und erfüllte diese Funktion jahrtausendelang praktisch konkurrenzlos. Bald erschien es so, als würde die menschliche Geschichte mit der Erfindung der Schrift überhaupt erst beginnen. Die übrige Zeit wurde zur "Vorgeschichte".

Doch Erinnerung ist multimedial: Ein Geruch ruft ein längst vergangenes Erlebnis ins Gedächtnis; eine Melodie hilft, verschüttete Gefühle freizulegen; ein Bild setzt komplexe Assoziationsketten in Gang. Das gilt für das individuelle Gedächtnis ebenso wie für das kollektive. Gerade mündliche Kulturen stützen sich bei der Weitergabe ihres Wissens auf eine Vielzahl von Medien wie Musik, Tanz, Symbole oder sogar ganze Landschaften (Multimedia gab es schon immer). Reste davon haben sich auch in modernen Schriftkulturen erhalten: Marathonläufe etwa erinnern an den historisch bedeutsamen Sieg der Griechen über die Perser in der Schlacht bei Marathon im Jahr 490 v. Chr. Während es in mündlichen Kulturen darum geht, den kompletten Erfahrungsschatz von Generation zu Generation zu kopieren und dabei eventuell veränderten Gegebenheiten anzupassen, müssen Schriftkulturen vor allem den Code zur Entschlüsselung der Datenspeicher weitergeben. Deren Kapazität ist praktisch unbegrenzt, die Menge des Wissens kann ständig wachsen, Generationen können aufeinander aufbauen. Je größer dieses kollektive Gedächtnis wird, desto mehr wird allerdings seine Ordnung zum Problem. Die Lösung liegt in einer Aufteilung des Wissens in einzelne Fachgebiete und Kategorien mit zunehmend feinerer Spezialisierung. Die großen Vorteile der Schrift sind erkauft mit einer Vereinseitigung des Denkens.

Zentrum der Milchstraße im sichtbaren Licht

Im vergangenen Jahrhundert hat die Schrift zunehmend Konkurrenz bekommen. Mit Hilfe des Films wurde es möglich, Bilder ähnlich wie Schriftzeichen zu komplexen Texten zusammen zu fügen. Schon in Stummfilmen dienen Schrifttafeln häufig nur der Akzentsetzung, halten aber nicht mehr die Handlung zusammen. Mit dem Tonfilm und den neuen Verbreitungsmöglichkeiten über Rundfunk und Fernsehen bekommt das Zusammenspiel der verschiedenen Medien eine immer größere Komplexität und Dynamik. Wenn es darum geht, den Beginn des Multimedia-Zeitalters zu datieren, das die Epoche der Schrift ablösen wird, sind die ersten Vorführungen des Kinematographen im Jahr 1895 ein plausibles Datum (Man darf die Rolle der Schrift nicht überbewerten).

Nur etwa 100 Jahre später machen PC und Internet die multimediale Kommunikation jetzt allgemein zugänglich (ein Bestandskatalog). Multimedia hört auf, Privileg einer begüterten Minderheit zu sein, und steht immer mehr Menschen als selbstverständliche Ausdrucksform zur Verfügung. Ein Umbruch, den der britische Filmemacher Peter Greenaway zu Recht als "Gutenberg-Revolution der audiovisuellen Medien" bezeichnet hat. Aber während Gutenbergs Druckerpresse erst über 4000 Jahre nach Einführung der ersten Schriftzeichen der Schriftkultur zur Blüte verholfen hat, kommt es diesmal schon nach einem Bruchteil der Zeit zur Medienrevolution.

Zentrum der Milchstraße im Radiobereich

In deren Verlauf nimmt auch das Menschheitsgedächtnis eine neue Gestalt an. Kollektives Erinnern wird wieder stärker multimedial und kombiniert so die Anschaulichkeit und Sinnlichkeit der mündlichen Überlieferung mit der Speicherkapazität des Schriftgedächtnisses (Center for History and New Media. Als logischer Endpunkt dieser Entwicklung erscheint eine neue Utopie der Geschichtsschreibung: die Zeitmaschine.

In den digitalen Datennetzen könnte – entsprechende Prozessorleistungen und Übertragungsraten vorausgesetzt – vergangenes Geschehen so detailgetreu rekonstruiert werden, dass es dem Erlebnis einer realen Zeitreise nahe kommt. Eine solche Zeitmaschine könnte die Betrachtung der Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven und durch verschiedene Filter ermöglichen und denkbare, alternative Geschichtsverläufe simulieren. Auf diese Weise könnte sie Zusammenhänge aufzeigen, die der traditionellen Geschichtsforschung nur schwer oder gar nicht zugänglich wären. Und unterhaltsamer als dicke Geschichtsfolianten wäre sie sowieso.