Das Kunstpublikum vergreist

Sterben die traditionellen Kunstformen allmählich aus? Eine amerikanische Langzeitstudie scheint dies nahezulegen

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Unsere Gesellschaften vergreisen allmählich. Der Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung steigt vornehmlich in den westlichen Gesellschaften rapid an. Doch mit der Vergreisung altern auch andere Dinge. Bald wird womöglich das Publikum traditioneller Kunstformen nur noch aus weißhaarigen Omas und Opas bestehen, womit jeder Avantgardeanspruch endgültig erledigt wäre. Zumindest für USA hat eine Erhebung den wohl auch für andere Länder zutreffenden Trend festgestellt, dass das Durchschnittsalter der Besucher von Kunstformen wie Kunstmuseen, Theater-, Ballet- oder Opernaufführungen und auch an Konzerten mit klassischer Musik und Jazz rapide im Verhältnis zum Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung zunimmt. Die jungen Menschen sind an Anderem interessiert. Sterben also die alten Kunstformen aus, deren Subventionierung in Zukunft angesichts dieses Trends erheblich zurückgehen dürfte.

Die Erhebung, die von dem National Endowment for the Arts (NEA) in Auftrag gegeben und von Soziologen der Vanderbilt University wurde, ist auch deswegen interessant, weil sie Untersuchungen des Publikums von sieben Kunstarten (Oper, Theater, Ballett, Musical, Klassische Musik, Jazz, Kunstmuseen) aus den Jahren 1982, 1992 und 1997 auswerten konnte, die neben dem Alter auch noch Kategorien wie Einkommen, Bildung, Geschlecht und Gesundheitszustand berücksichtigt haben.

Allgemeines Ergebnis der Studie: Das Publikum aller Kunstarten ist im Zeitraum zwischen 1982 bis 1997 schneller gealtert als die Gesamtbevölkerung während desselben Zeitraums. Eine Ausnahme bildet nur die Oper, was aber nicht unbedingt einen Grund zur Freude für deren Liebhaber darstellt, denn hier war bereits 1982 das Publikum älter als der Gesamtdurchschnitt. Und nur weil dies etwa gleich geblieben ist, während das Alter des Publikums in den anderen Sparten zugenommen hat, konnte die Oper innerhalb der ausgewählten traditionellen Kunstformen zulegen.

Recht zurückhaltend sagt der Soziologe Richard Peterson, der Leiter der Studie: "Es kommt eine Krise auf die Künste in Amerika zu." Wenn es keine allgemeine Unterstützung für die Künste mehr gibt, dann könnte auch das Geld aufhören zu fließen. Ob es da hilft, mehr Kunstunterricht in den Schulen zu geben, wenn diese Kunstformen als immer langweiliger empfunden werden, ist ebenso fraglich wie der Versuch, diese traditionellen Kunstformen dadurch zu retten, dass man sie stärker dem spielerischen Verhalten der jüngeren Generation anpasst: "art lite" also, die schneller zu verdauen ist, nicht träge macht, keine großen Verständnisschwierigkeiten mit sich bringt oder längere Konzentration verlangt und mehr Abwechslung bietet. Das ist man wahrscheinlich in der Position, wie das ja schon häufig geschieht, im Theater, beim Musical oder im Kunstmuseum den von anderen Medien bedienten und geweckten Erwartungen hinterher zu hecheln, ohne sie wirklich einholen zu können.

Das große Manko der Studie zeigt sich auch hieran, denn andere, möglicherweise attraktivere Kunstarten wie Film oder Pop-Musik wurden nicht berücksichtigt, weil sie nicht vom NEA gefördert werden und auch außerhalb des üblichen Kunstsektors liegen. Würde man dann auch noch die eigentlich neue Kunstforum des digitalen Zeitalters, das Computerspiel, mit einbeziehen, so würde sich zeigen, dass nicht nur die die Rezipienten der traditionellen Kunstformen veralten, sondern wahrscheinlich auch der traditionelle Sektor der Kunst insgesamt, der weitestgehend bereits am Tropf von öffentlichen Geldern und Stiftungen hängt, während die neuen "Kunstformen" mit Unterhaltungsangeboten verschmelzen und daher auch anderen Rezeptions-, Distributions- und Vermarktungsstrukturen gehorchen.

Besonders auffällig ist die Vergreisung bei der Musik. Die Klassische Musik scheint besonders schnell unbeliebt zu werden. Waren 1982 noch 26,9 Prozent der Besucher von Konzerten unter 30 Jahren, so 1997 nur noch 13,2 Prozent, während die Zahl derjenigen, die über 60 Jahre alt sind, von 15,6 auf 30,3 Prozent angestiegen ist. Besonders rasant geht der Abbau allerdings beim Jazz vor sich, der die jungen Leute offenbar kaum noch erreicht. Waren die Besucher von Jazzkonzerten 1982 mit 56,7 Prozent unter 30 überwiegend jung, während nur 5 Prozent über 60 waren, so hat sich der Anteil der Jungen mit 23,2 Prozent mehr als halbiert. Einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz (34,1) an jungen Besuchern gab es 1982 bei den Balletbesuchern, der aber 1997 auch auf 16 Prozent zurückgegangen ist. Eine Ausnahme stellt auch das Kunstmuseum dar, bei dem zwar wie bei den anderen Kunstformen auch von 30 auf 19 Prozent zurückging, aber die Zahl der über 60-Jährigen nicht zugenommen hat. Die Soziologen führen das einfach auf die Tatsache zurück, dass alte Menschen oft nicht mehr gut zu Fuß sind und lange stehen können.

Allgemein lässt sich feststellen, dass 1997 die jüngsten "Post-Boomers" (geboren 1976-1980) wieder etwas mehr die Kunstdarstellungen und Kunstmuseen besuchen, nur die Oper lässt auch sie kalt. Die "Late-Boomers" (1956-1965) scheinen besonders kunstresistent zu sein, doch das ist in der Alterklasse der 30- und 40-Jährigen mit Familien- und Arbeitsverpflichtungen sowieso die Regel. Peterson hält auch fest, dass die Angehörigen der "Pre-Boomer"-Generation (1946-1955) nicht nur in fast allen Kunstformen überrepräsentiert waren, sondern irgendwann auch die Popkultur verlassen hatten, während die darauf folgende Generation entschlossen ist, die Musik ihrer Jugend nicht aufzugeben. Feststellen lässt sich auch, dass die jüngeren Menschen sich zunehmend weniger für einzelne Kunstarten interessieren, sondern zwischen allen zappen: "Sie glauben nicht, dass eine Kunstform besser als die andere ist. Jetzt scheint es so zu sein, dass das Ansehen vom Herumspielen mit einer Vielzahl von Interessen wie Oper, Popmusik, Fußball und exotischen Küchen und nicht mehr aus der Anhängerschaft an eine bestimmte Kunstform stammt."

Allerdings bestimmen über die Kunstrezeption auch andere Kriterien als das Alter, das bei der jüngeren Generation, angefangen von den "Baby-Boomers" aber entscheidend für die Partizipation an Kunstereignissen wird, während hier das Geschlecht keine Rolle mehr spielt (ansonsten sind Frauen kunstinteressierter als Männer). Bildung freilich und Einkommen sind aber immer noch wichtiger als das Alter.

Die Abkehr vor allem der jüngsten "Post-Boomer"-Generation von den herkömmlichen Künsten weist darauf hin, dass sich Erwartungen und Wahrnehmungsanforderungen an Ereignissen verändert haben, dass die Kunstsphäre als etwas Eigenständiges, von der alltäglichen Unterhaltung Abgegrenztes an Bedeutung verliert. Wahrscheinlich ist auch die Konzentrationsverpflichtung, die von vielen Veranstaltungen ausgeht, nicht mehr konform mit den neuen Aufmerksamkeitsverhältnissen. Vieles lässt sich heute natürlich auch Zuhause wahrnehmen, so dass der Gang in ein Konzert, eine Aufführung oder ein Museum noch einen Zusatzwert haben muss, um anzulocken und vor allem durchzuhalten.