Das PR-Desaster geht weiter

Die Briten warten auf den Beginn der Verhöre in den Untersuchungen zum Selbstmord des Biowaffenexperten David Kelly. Tony Blair sonnt sich bei Cliff Richard auf Barbados. Währenddessen steigen seine Jungs daheim von einem Fettnapf in den nächsten

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Der britische Premierminister Tony Blair macht gerade Urlaub, ein verdienter Urlaub, wie selbst seine schärfsten Kritiker zugeben. So richtig zum Durchatmen wird Blair jedoch kaum kommen, auch nicht in der Villa von Cliff Richard auf der Karibikinsel Barbados, Großbritanniens Mallorca. Zumindest nicht, wenn er im Fernsehen sieht, was sein Pressesprecher so treibt. Doch der Reihe nach.

Daheim in Großbritannien gärt die Kelly-Affäre weiter. Sie begann ursprünglich als Streit zwischen dem Kommunikationsdirektor von Tony Blairs Labour-Regierung, Alastair Campbell, ebenfalls in Urlaub, und der Nachrichtenredaktion der BBC (Sexed up?). Gegenstand war die Behauptung des BBC-Verteidigungskorrespondenten Andrew Gilligan, er wisse aus Geheimdienstkreisen, dass das erste Irakdossier der britischen Regierung "aufgesext" worden sei, und zwar vor allem mit der Behauptung, der Irak könne "innerhalb von 45 Minuten" Großbritannien mit Biowaffen bedrohen (Audiofile). Der erbitterte Streit zwischen BBC und Campbell führte am 17. Juli zu dem tragischen Selbstmord des 59jährigen Biowaffenexperten und irakerfahrenen Waffeninspekteurs David Kelly, der, wie die BBC schließlich zugab, in der Tat Gilligans Kronzeuge war (Zeitleiste der Ereignisse) .

David Kelly ist beerdigt, doch die Untersuchung geht erst richtig los

Lord Hutton

Nachdem Kelly am Mittwoch um 14 Uhr, drei Wochen nach seinem Tod, beerdigt werden konnte, wird die mit der Aufklärung der Vorgänge beauftragte Untersuchungskommission, die bereits seit dem 21.Juli offiziell arbeitet, am Montag kommender Woche mit den Anhörungen beginnen. Die Befragungen durchführen wird der allseits geschätzte Lordrichter Brian Hutton. Der für seine 72 Jahre ausgesprochen jugendlich und manchmal fast beschwingt wirkende Lord Hutton, dessen Porträt mit der leicht schief sitzenden Brille mittlerweile Ikonenstatus hat, ist einer von zwölf Lordrichtern im britischen Oberhaus. Diese Lordrichter sind die höchste gerichtliche Instanz im Königreich. Von ihrer Reputation her sind sie in etwa mit den deutschen Verfassungsrichtern zu vergleichen. Ein Verfassungsgericht im deutschen Sinne gibt es Großbritannien genauso wenig wie eine schriftliche Verfassung. Lord Hutton gilt als stramm konservativ. Er hat sich zwischen 1988 und 1997 als ein sehr um Ausgleich bemühter "Lord Chief Justice" von Nordirland einen Namen gemacht. Trotz seines moderaten Agierens stand er jahrelang ganz oben auf der Liste potenzieller Anschlagsopfer der IRA.

Hutton wurde von Blair mit der Leitung der Untersuchungen beauftragt, um, so wörtlich, "die Umstände um den Tod von David Kelly" auszuleuchten. Blair versteht diese Formulierung erklärtermaßen so, dass offene Fragen um den Gebrauch von angeblichem oder tatsächlichem Geheimdienstmaterial in den Monaten vor dem Irakkrieg ausgeklammert bleiben. Allerdings sind das natürlich genau jene Fragen, die erstens alle Briten besonders interessieren, und die zweitens die ganze Affäre überhaupt erst ins Rollen gebracht haben. Aus einigen Äußerungen Huttons in den letzten Tagen schließen viele, dass er den Irak, soweit es geht, außen vor lassen möchte. Eine der spannenden Fragen der nächsten Wochen wird sein, wie sehr er sich bei seinen Verhören auch in diese Thematik vertieft.

Wie ausgeprägt ist der gute Wille bei den Beteiligten?

Huttons Verhöre werden sich wohl bis in den September ziehen. Auch wenn es noch keine offizielle Liste gibt, so hat Hutton klar gemacht, dass er unter anderem David Kellys Frau, den Reporter Andrew Gilligan, Alastair Campbell, den Verteidigungsminister Jeff Hoon sowie Tony Blair persönlich befragen möchte. Interessant dürften auch die Befragungen der beiden BBC-Journalisten Susan Watts und Gavin Hewitt werden. Wie nach Kellys Tod heraus kam, haben beide unabhängig voneinander und unabhängig von Gilligan ebenfalls mit Kelly über die irakischen Massenvernichtungswaffen gesprochen. Zumindest Susan Watts scheint dieses Gespräch auch aufgezeichnet zu haben. Huttons Plan sieht vor, zunächst alle Zeugen einmal zu befragen, und sie dann bei Unklarheiten erneut zu laden, eventuell auch zu einem Kreuzverhör.

Erwartungsgemäß hat Hutton am Dienstag entschieden, dass die Verhöre der Untersuchungskommission nicht im Fernsehen übertragen werden sollen. Es war dies unter anderem ein ausdrücklicher Wunsch von Kellys Familie, doch ist die Entscheidung in weiten Teilen der Medien kritisiert worden. Insbesondere Regierungskritiker stehen der gesamten Untersuchung ohnehin skeptisch gegenüber, weil Hutton nicht mit gerichtlichen Vollmachten ausgestattet ist. Dies wäre möglich gewesen, hätte aber eine Ermächtigung nach dem so genannten "Tribunals of Inquiry Evidence Act 1921" erfordert, die Tony Blair verweigert hat.

Hutton ist nun auf den guten Willen der Befragten angewiesen, und zumindest der Regierungsseite wird von vielen dieser gute Wille nicht so recht zugetraut. Auch wenn Fernsehkameras nicht zugelassen sind, so sind die Befragungen doch öffentlich. Nicht editierte Mitschriften der Verhöre werden zudem auf einer eigens aufgelegten Webseite zugänglich gemacht.

Wer oder was ist Walter Mitty?

Dramaturgisch bleibt die britische Regierung auch nach Kellys Tod der mittlerweile an derartige Peinlichkeiten gewohnten Öffentlichkeit wenig schuldig. Im Gegenteil, sie tut einiges dafür, um den Eindruck zu erzeugen, dass ihr an einer genaueren Aufklärung der Ereignisse nicht besonders gelegen ist. So meldete sich die Tageszeitung Independent am Montag auf Seite 1 mit der Information zu Wort, sie wisse aus zuverlässiger Quelle, dass ein Repräsentant von "number 10", also des Regierungssitzes in der Downing Street 10, den Wissenschaftler David Kelly mit einer Romanfigur namens Walter Mitty verglichen habe.

Walter Mitty ist der Star in dem Roman "The Secret Life of Walter Mitty", der 1941 von dem US-Amerikaner James Thurber verfasst wurde. In Großbritannien ist Walter Mitty ungefähr so berühmt wie Donald Duck. Sein Name ist ein Synonym für Tagträumer und wüste Fantasten, die fälschlicherweise von der eigenen Größe und Bedeutung überzeugt sind.

Nun ist ein Vergleich mit einer solchen Hochstaplerfigur in der Tat nicht besonders höflich gegenüber einem Toten, und die Geschichte wurde denn auch prompt von mehreren Regierungssprechern als Blödsinn abgetan. Sie erinnerte zudem, für die Regierung fatal, an eine Behauptung des Verteidigungsministers Jeff Hoon. Der hatte kurz vor Kellys Selbstmord geäußert, der wahrscheinliche "Maulwurf" und Gesprächspartner des BBC-Reporters Gilligan sei keineswegs ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter gewesen, sondern ein wichtigtuerischer mittlerer Beamter mit kaum Erfahrung im Irak. Mit Kellys Selbstmord stellte sich zumindest der zweite Teil dieser Behauptung dann als spektakulär falsch heraus. Zwar war Kelly in der Tat kein Geheimdienstler, aber wohl derjenige in Großbritannien, der sich bis zu seinem Tod am besten mit dem irakischen Biowaffenprogramm auskannte.

Die Affäre weitet sich noch aus

Downing Street konnte ihre scheinbare Entrüstung in Sachen Walter Mitty nicht lange aufrecht erhalten. Unglücklicherweise nämlich scheint der Independent aus Gilligans Fehlern gelernt zu haben: Das Telefongespräch, in dem dieses Zitat gefallen war, wurde offenbar aufgezeichnet. Die Finger zeigten dann auch schnell auf einen anderen Kelly, auf Tom Kelly nämlich, ehemaliger BBC-Journalist und Tony Blairs offizieller Sprecher. Als ihm die "der Independent lügt doch"-Geschichte keiner mehr glaubte, versuchte er sich zunächst damit herauszureden, dass er den Ausdruck Walter Mitty zwar gebraucht habe, aber eher im Zusammenhang mit den Fragen, die durch Lord Hutton in der Untersuchungskommission geklärt werden sollten. Außerdem spielte er den Beleidigten, dessen Vertrauen durch den Independent missbraucht worden sei, denn es habe sich ja um ein "privates Gespräch" gehandelt.

Seit allerdings bekannt wurde, dass offensichtlich mindestens ein weiterer Journalist besagten Vergleich zwischen David Kelly und Walter Mitty ebenfalls aus Downing Street-Kreisen vernommen hatte, sagt (Tom) Kelly lieber gar nichts mehr. Offenbar auf Druck des Vizepremiers John Prescott hat sich (Tom) Kelly mittlerweile bei der Familie (David) Kellys entschuldigt, und eine andere Sprecherin des Premierministers hat im Namen der gesamten Downing Street-Mannschaft klar gemacht, dass niemand den Wissenschaftler Kelly posthum diskreditieren wolle.

Das Walter Mitty-Zitat führte zu einem wahren Aufschrei der Empörung. Die Labourabgeordnete im Unterhaus Glenda Jackson etwa äußerte gegenüber BBC Radio 4 den sehr britischen Satz: "Number 10's capacity to disgust us would seem positively boundless" (in etwa: "Die Fähigkeiten der Regierung, uns alle anzuwidern, scheinen ziemlich grenzenlos zu sein", wobei das dezent-höfliche "would" im Original dem Satz eine kaum übersetzbare Würze verleiht). Andere Kommentare waren "extrem herzlos", "tief beschämend" und "von allen guten Geistern verlassen". Rufe nach einem Rücktritt des Pressesprechers wurden selbstverständlich auch laut, sodass Tom Kelly nun neben Campbell, Hoon und Blair selber das vierte Regierungsmitglied ist, das sich mit dieser Forderung im Zusammenhang mit der Kelly-Affäre auseinandersetzen muss. Süffisant taufte die Zeitung "Guardian" die ganze Sache am Mittwoch "Zwei-Kelly-Affäre".