Das Transformationsgeschäft mit der Ukraine

Seite 2: Privatisierung bereits lange vor dem Kriegsausbruch geplant

Das Interesse, die Ukraine dem (westlichen) Kapitalmarkt zu öffnen, reicht weiter zurück als bis zum 24. Februar 2022.

Daran hat der britische Ökonom Michael Roberts im August 2022 in einem Blogpost erinnert. So kritisierte der US-Thinktank Oakland Institute, auf den Roberts seine Aufarbeitung stützt, schon 2014 das berüchtigte EU-Assoziierungsabkommen (siehe Euromaidan) als Strategie, mithilfe der Aussicht auf 17 Milliarden Dollar IMF-Darlehen einen Teil des "Brotkorbs der Welt" einzuverleiben.

Es ist nicht der erste und bleibt nicht der letzte Versuch. Das Oakland-Urteil ist damals überdeutlich:1

Während die [Welt-]Bank und der [Internationale Währungsfonds] IWF ihre Vorhaben in vielen Ländern unter dem Deckmantel der Demokratie, der Entwicklung und des Wirtschaftswachstums durchführen, ist ihre Absicht im Fall der Ukraine eindeutig. Die Eile, neue Hilfspakete für das Land bereitzustellen, zeigt, dass beide Institutionen den Wechsel zu einer EU-freundlichen Regierung belohnt haben, die mit der neoliberalen Agenda der IFI [Internationalen Finanzinstitutionen] übereinstimmt.

Oakland Institute

Der Griff nach dem Brotkorb zeigt sich in den Bemühungen von IWF, Weltbank und US-Außenministerium, das reichhaltige Ackerland (Stichwort: Schwarzerde) von Staats- in Privateigentum zu überführen.

Die Privatisierung staatlicher Unternehmen wurde bereits 2018 auf der Ukraine Reform Conference von den westlich orientierten Ländern beschlossen und 2022 erneut bekräftigt – gegen den Willen der Bevölkerung, wie Roberts betont: 2018 waren einer Umfrage zufolge nur 12 Prozent der Ukrainer pro Privatisierung.

2020 hebt Selenskyj den bis dahin geltenden Verkaufsstopp für staatliches Ackerland auf, um die Bedingungen für einen Fünf-Milliarden-Dollar-Kredit des IWF zu erfüllen. Im selben Jahr legt derselbe Internationale Währungsfonds eine Gesetzesvorlage zur Re-Privatisierung des Bankensektors vor – von der auch Selenskyjs Freund Ihor Kolomoyskyi vergebens zu profitieren hoffte.

Die Rolle der Rohstoffe

In der Ukraine wird nicht nur nach dem Brotkorb gegriffen. Zur Mobilisierung von Privatkapital sieht sich das Land dazu gezwungen, mit allem zu werben, was es zu bieten hat. Im weiter oben erwähnten Leitfaden von UkraineInvest werden zehn wesentliche Punkte genannt:

  1. Abdeckung der Verbrauchermärkte (mit 47 Ländern unterzeichnete Freihandelsabkommen)
  2. Vorteile der geografischen Lage
  3. Qualifizierte und wettbewerbsfähige Arbeitskräfte
  4. Beträchtliche Rohstoffbasis
  5. Investitionsmöglichkeiten in verschiedenen Sektoren
  6. Möglichkeiten der Optimierung von Betriebskosten
  7. Gut entwickelter IT-Sektor
  8. Im Ausbau befindliches Forschungs- und Entwicklungs-Ökosystem
  9. Strategien für Investitionsanreize [Steuersenkungen usw.]
  10. Viele internationale Unternehmen bereits vor Ort

Die "beträchtliche Rohstoffbasis" ist bereits ein Argument für sich. Im Online-Magazin Common Dreams zählt Autor und Move To Amend-Aktivist Greg Coleridge eine Reihe der bedeutendsten Rohstoffe auf2:

Dieses kleine Land verfügt über fünf Prozent der natürlichen und mineralischen Ressourcen der Erde, darunter Kohle, Erdöl, Erdgas (die zweitgrößte Menge in Europa), Lithium (für Batterien), Eisenerz (für die Industrie), Titan (20 Prozent der nachgewiesenen Weltreserven, für die Luft- und Raumfahrt) und Gallium (die zweitgrößte Menge der Welt, für die Elektronik). Die Ukraine ist auch ein unglaublich reiches Landwirtschaftsland – Platz 1 in Europa bei den Anbauflächen und 25 Prozent des weltweiten Schwarzerdevolumens –, das den Nahrungsmittelbedarf von 600 Millionen Menschen decken kann.

Greg Coleridge

Hinzu kommen das größte Uran-Vorkommen sowie die drittgrößten Schiefergas-Reserven in Europa. Diejenigen im Osten des Landes (um das kriegsgebeutelte Dnepr-Donez-Becken) sicherte sich 2013 der britische Konzern Shell, im Westen war der US-Konzern Chevron im Gespräch. 2015 zogen sich beide Unternehmen aus der Ukraine zurück, als mutmaßliche Gründe werden eine unbefriedigende Steuerpolitik und ein erhöhtes Risiko durch den bewaffneten Konflikt gehandelt.

Über den Grund des russischen Einmarschs wurde abgesehen von einem "unprovozierten Angriff" und einer absehbaren Eskalation viel spekuliert – auch darüber, ob es sich um einen Krieg um Rohstoffe handelt. So etwa von der Washington Post, Forbes, dem Guardian oder in dem vielbeachteten, von der Neuen Zürcher Zeitung publizierten Beitrag einer Gruppe von Ukraine-nahen Politikwissenschaftlern.

In allen Darstellungen tritt Russland als Aggressor auf, der die Ressourcen entweder an sich reißen oder verhindern will, dass die Ukraine energetisch autonomer wird.

Die westlichen Interessen sind weitgehend aus dem Blickfeld gerückt. Dabei bedürften sie – genau wie die russischen – einer eingehenden Analyse. Das gilt insbesondere für die Agrarwirtschaft.