Das Trickle-Down Prinzip
Was spricht für den Kapitalismus? - Teil 5
Wenn in einem Land das Kapital nur stark genug wächst, dann bekommen auch die Habenichtse ihre Krümmel ab. So dient der Kapitalismus letztlich der gesamten Nation, nicht nur den Reichen - heißt es.
Vorab an den Leser: Die Reihenfolge der hier präsentierten Argumente aus dem Buch "Das Kapital" (Band 1) von Karl Marx folgen einem logischen Aufbau. Deshalb bitte ich den Leser, sofern nicht geschehen, vor dem Lesen des 5. Teils zunächst die Teile 1 bis 4 zu konsultieren.
Teil 1: Der Kapitalismus schafft nützliche Güter
Teil 2: Der Kapitalismus schafft Reichtum
Teil 3: Der Kapitalismus stiftet Freiheit und Gerechtigkeit
Teil 4: Im Kapitalismus wird wenigstens niemand ausgebeutet
Argument 8: Die Rechtfertigung des Kapitalismus ist Propaganda und Ideologie
Angenommen, wir befinden uns am Ende eines geglückten GWG-Zyklus. Wir haben jetzt die Kapitalsumme K zurück erhalten und zusätzlich einen Mehrwert M. Was machen wir mit diesem schnöden Ertrag?
(A) Der Gesamtertrag inklusive zurückgeflossenem Startkapital kann vom Kapitalisten privat für seinen Lebensstil verkonsumiert werden. Das ist eine eher seltene Verlaufsform und nicht weiter besprechungswürdig, weil es hier nichts zu klären gibt. Dann ist das Geld eben verprasst und futsch.
(B) Der Kapitalist spart den gesamten Geldbetrag in einem Safe. Dies hat den Mangel, dass es durch bloßes schatzmeistern nicht mehr wird, sondern tendenziell sogar weniger, weil ja laufende Ausgaben anfallen. Wenn Sparen so eine gute Methode wäre, um reicher zu werden, dann hätte der Kapitalist doch schon im Ausgangspunkt sein Startkapital nicht investiert, sondern bei sich im Safe oder unterm Kopfkissen gebunkert. Er wusste aber eben eine bessere Methode, wie aus Geld mehr Geld wird.
(C) Sofern der Kapitalist sich das Kapital geliehen hatte, welches er investierte, kann er den Ertrag nun dazu benutzen, um diese Schulden anteilig oder vollständig zurückzuzahlen. Das wäre aber nur ein nachträgliches Bezahlen des Produktionsprozesses, den er bereits angewendet hat. (Der Kredit in der einen oder anderen Form ist tatsächlich die moderne Art, wie man ein Kapitalist wird, wenn man vorher keiner war. Den Umgang mit Kredit können wir in Band 1 des marxschen Kapitals erst einmal vollständig ignorieren und müssen auf Band 3 verweisen.)
(D) Der Kapitalist reinvestiert einen Teil seiner Einkünfte, den anderen verkonsumiert er. Er muss abwägen, in welchem Verhältnis er dies tut. Je mehr er vom einen tut, um so weniger vom anderen. Wir können drei Basisszenarien unterscheiden. Der exzentrische, der moderate und der asketische Kapitalist.
Szenario (I): Der exzentrische Kapitalist
Der exzentrische Kapitalist will auf den Putz hauen und verprasst den Großteil des Ertrags. Er verpulvert für seinen aufwendigen Lebensstil nicht nur den soeben gewonnen Mehrwert vollständig, sondern auch einen Teil des vorgeschossenen und nun zurückgeflossenen Kapitals. Die neue Kapitalsumme ist also kleiner als im voran gegangen Zyklus. Entsprechend kann sie von sich aus nicht mehr so viel an Mehrwert liefern wie mit dem ursprünglichen Startkapital zuvor. Denn mit weniger Kapital kann man sich auch nur weniger Arbeiter und weniger Produktionsmittel leisten - vorausgesetzt alle beteiligten Werte bleiben gleich wie in der Runde zuvor.
(Anmerkung am Rande: Man stelle sich dieses Argument am besten so vor, dass bei diesem Produktionsprozess Waren hergestellt werden, deren Fertigung im Laufe des Arbeitsprozesses die gesamten Produktionsmittel innerhalb eines Zyklus komplett verbrauchen, so dass er am Ende ganz ohne Produktionsmittel dasteht und sie im nächsten Zyklus neu angekauft werden müssten. Von diesem unrealistischen Szenario aus muss die Argumentation dann entsprechend angepasst werden, wenn manche Produktionsmittel für mehrere hintereinander geschaltete GWG-Zyklen zu benutzen sind, etwa Fabrikhallen und Maschinen, die oft jahrelang ihren Dienst verrichten.)
Da die verringerten Investitionsmittel nun weniger Waren für den Verkauf produzieren, muss auch der Mehrwert des neuen Zyklus kleiner sein. Wenn der Kapitalist seine Konsumgewohnheiten nicht ausreichend zu reduzieren lernt, dann verbraucht er in jedem neuen Zyklus immer mehr von seinem ursprünglichen Investitionsvermögen, verarmt darüber und muss sich am Ende schließlich selbst als Arbeiter verdingen, sofern er eine Anstellung findet. Dies ist also im Prinzip nur die verlängerte Version von Option (A).
Szenario (II): Der moderate Kapitalist, oder: "einfache Reproduktion"
Der moderate Kapitalist ist etwas smarter. Er verbraucht zwar immer noch den gesamten Mehrwert für den persönlichen Konsum, tastet darüber hinaus aber nichts von dem zurück geflossenen Startkapital an und reinvestiert es in jedem neuen GWG-Zyklus. Was hat er davon? Er kann immerhin durch fremde Arbeit sein Leben finanzieren. Das ist schon mal was. Marx nennt dies die "einfache Reproduktion". Sie ist einfach weil die Kapitalmasse nicht von Zyklus zu Zyklus größer wird, sondern sich lediglich reproduziert. Eigentlich gut für alle Beteiligten, oder? Einerseits findet kein Wachstum statt (so wie die Wachstumskritiker es fordern), und andererseits haben alle Arbeiter ihr Auskommen, weil sie in jeder Runde neu in Lohn und Brot gesetzt werden (wie die Volksparteien es fordern). Eigentlich alles prima, jeder kann sein Leben bestreiten.
Okay, das mit dem Mehrwert ist in diesem Idyll vielleicht noch ein bisschen störend. Es ist immerhin fremde Arbeit, die sich die Kapitalisten so aneignen. Zu ihrer Ehrenrettung verpassen sie es daher nicht, auf ihre eigenen Opfer und ihren eigenen Beitrag zur Unternehmung hinzuweisen. Sie liegen ja bloß nicht auf der faulen Haut herum, sondern arbeiten schließlich selbst im Betrieb mit und tragen auch das unternehmerische Risiko. Insofern interpretieren sie den Mehrwert als ihren Lohn für diese Tätigkeit und das von ihnen getragene Risiko.
Nun das Risiko tragen im Grunde alle Beteiligten, denn geht der Kapitalist insolvent, werden auch die Arbeiter entlassen. Das mit dem Risiko ist also ein Märchen, dass sich Kapitalisten und ihre Anhänger gern selbst erzählen. Und er mag zwar selbst tatkräftig mitarbeiten im Betrieb, meinetwegen die volle Schicht wie seine Angestellten und wenn er besonders engagiert ist, vielleicht sogar noch darüber hinaus. Auf diese Weise fügt er durch seinen Arbeitseinsatz tatsächlich dem Produkt einen Wert hinzu. Aber das zu verkaufende Endprodukt gehört ja am Ende ihm selbst. Und durch den Verkauf der Waren bekommt er den von ihm geschaffenen Wert voll wieder zurück - ganz im Gegensatz zu den Arbeitern. Das ist der entscheidende Unterschied. Man könnte seine eingebrachte Arbeit wertmäßig als eine Geldsumme A bezeichnen. Sie ist dann sozusagen sein zusätzliches Investment über die das geldliche Startkapital K hinaus, welches er am Ende einfach wieder zurück erhält. Dann hat der GWG-Zyklus halt folgende Gestalt:
Damit hat der Kapitalist aber noch nicht alle Register gezogen, um seinen quasi-parasitären Status in der Gesellschaft zu rechtfertigen. Er kann behaupten, ohne sein Startkapital hätte es die Arbeitsplätze, die er geschaffen hat, nie gegeben. Und durch die Dauerbeschäftigung ernährt er schließlich ganze Familien. Dieses Argument widerlegt sich schon durch die einfache Reproduktion, da sie klar vor Augen hält, dass die Arbeitsplätze, die der Kapitalist geschaffen hat, nichts weiter als ein kontinuierliches, d.h. auf Dauer gestelltes Ausbeutungsmittel sind, das seinem Bereicherungszweck dient. Vom Standpunkt der Kosten ist sowieso jeder Lohn erst einmal ganz prinzipiell zu hoch und gehört nach Möglichkeit so weit wie möglich zusammengestrichen, egal, wie sehr es die als Argument vorgeschobenen Familien betrifft.
Ja gut, wendet der Kapitalist ein, aber man müsse ihm ja wenigstens auch seine Opfer und die Opfer seiner Familie zugestehen. Damals, als das Geschäft losging, hat ihnen keiner einen Kredit geliehen, sie waren ganz auf sich gestellt, haben durch mühevolle Arbeit sich überhaupt erst das Startkapital zusammen sparen müssen, und dennoch geschafft, allen Widerständen zum Trotz einen laufenden Familienbetrieb aufzubauen. Gerade traditionsreiche Unternehmerfamilien lieben dieses Argument. Die Beschwörung der eigenen Opfer ist ein sehr wirkungsvolles Immunisierungsargument gegen kapitalismuskritische Vorwürfe.
Nun, einlassend kann man anerkennen, dass es so gewesen sein mag und dass einige Unternehmen durchaus der Not abgetrotzt wurden, aber auch dieses Argument lässt sich mit entwaffnen. Und zwar nicht so sehr durch das Studium der jeweiligen Unternehmerbiografien und dem daraus erschlossenen Nachweis, dass die ganze Firmengründung letztlich doch auf einem Betrug fußt, wie dies angeblich z.B. bei Microsoft und Facebook der Fall sein soll. Solches biografische Argumentieren führt zu nichts, weil am Ende Aussage gegen Aussage steht und ein Restzweifel weiterhin besteht. Nein, um das Immunisierungsargument in der Art zu zerlegen, dass sich überhaupt kein einziger Kapitalist darauf berufen kann, brauchen wir wieder nichts weiter, als uns den Sachverhalt am GWG-Zyklus klar zu machen, doch dieses mal betrachten wir eben mehrere hintereinander geschaltete Zyklen im Modus der einfachen Reproduktion:
Das Schaubild erklärt sich hoffentlich von selbst. Sei K = 1000 Euro das investierte Kapital, PP der durch K angekaufte Produktionsprozess (d.h. Arbeiter und Produktionsmittel), und M = 200 Euro sei der Mehrwert, den der Kapitalist vollständig für private Zwecke jenseits der Unternehmung aufwendet. Nach nur 5 Zyklen hat der Kapitalist den Gegenwert seines ursprünglich vorgeschossenen Startkapitals vertilgt und damit wurde ihm sein geleistetes Opfer, auf das er sich fortwährend beruft, ein für alle mal beglichen.
Sein Beitrag ist abgegolten. Eins hat sich nach 5 Zyklen aber dadurch nicht geändert. Er bleibt weiterhin Herr und Eigentümer des gesamten Produktionsprozesses und damit auch Eigentümer aller Rückflüsse, die sich in jedem weiteren Zyklus ab jetzt ergeben. Ab jetzt lebt er wirklich nur noch von fremder Arbeit, sein Beitragsargument ist jedenfalls nicht mehr gültig. Deshalb merke: Je traditionsreicher ein Familienunternehmen ist, d.h. je mehr Investitionszyklen es hinter sich hat, umso weniger zählen überhaupt noch irgendwelche, irgendwann einmal geleistete Beiträge durch Mitglieder der Eigentümerfamilien. Näheres zu dieser Argumentationsweise erfährt man bei Marx in Kapitel 21 seines Buchs.
Und wir haben sogar noch mehr gezeigt: Der zyklisch wiederholte Tausch Arbeit gegen Lohn, Arbeit gegen Lohn, Arbeit gegen Lohn usw. findet nach Vollzug von genügend Zyklen (in diesem Beispiel sind es 5 Runden) nur noch formal statt: immer noch zahlt der Kapitalist zwar den Lohn und immer noch liefert der Arbeiter dafür seine Arbeitskraft ab. Aber was in Wirklichkeit passiert, ist überhaupt kein Tausch mehr, denn im Prinzip bezahlt der Arbeiter sich selbst aus dem von ihm selbst zuvor geschöpften Wert.
Der Leser möge sich festhalten, wir legen noch eine kleine Schippe drauf, es wird jetzt noch absurder: Die Arbeiter bezahlen sich nicht nur letztlich selbst. Was tun sie als nächstes mit diesem Lohn? Sie zahlen ihre Miete oder ihre Hypothek ab und kaufen sich Produkte, um ihre Reproduktion zu organisieren. Wer hat diese Produkte hergestellt? Ach, sieh an! Es ist ebenfalls die Arbeiterklasse. Der Kapitalist kommt in der ganzen Geschichte im Grunde fast gar nicht mehr vor außer eben als derjenige, der am Seitenrand sitzt, und von dort aus den ganzen von ihnen geschaffenen Reichtum in Geldform ("abstrakter Reichtum") abgreift. Das muss er, wenn er es sich leisten kann, gar nicht mal selbst machen, dafür hat er ja sein Management. Der Manager ist eine sonderliche Figur. Er bezieht zwar auch einen Lohn, aber nach ganz anderen Kriterien als etwa die Lohnabhängigen, bei denen sich dieser nach Reproduktionskriterien zusammensetzt. Durch Boni, Prämien, Beteiligungen und sonstige Vereinbarung und Vergütungen wird er direkt aus dem von ihm aus der Arbeitermasse heraus gepressten Mehrwert bezahlt.
Wem der Lohn zu Beginn dieses Artikels noch ein Argument war für solch einen, sagen wir mal wenigstens "gezügelten" Kapitalismus ohne Wachstum, der hat dieses Argument nun endgültig nicht mehr. Die Wachstumskritiker sollten sich mal ernsthaft überlegen, ob sie solch einen Kapitalismus ohne Wachstum überhaupt retten wollen. Auch Freigeld- und Regionalgeldverfechter haben jetzt einige Argumente an der Hand, ihre eigene Ideologie in Frage zu stellen.
Szenario (III): Der asketische Kapitalist, oder: "Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter"
Der asketische Kapitalist ist sehr sehr genügsam. Er verbraucht für seine Lebensbedürfnisse nur einen kleinen Anteil des Mehrwerts und reinvestiert den Rest in einen neuen GWG-Zyklus. D.h. er kann, sofern ihm der Verkauf seiner Ware vollständig gelingt, in jeder neuen Runde auf eine größere Kapitalsumme hoffen. Die vergrößerte Kapitalsumme wird reinvestiert und liefert dann einen noch größeren Mehrwert. Und so nimmt das Investitionsvermögen allmählich nach und nach zu. Dies ist die "Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter" (Kapitel 22).
Der Kapitalist wird seinen größer werdenden Reichtum vor sich und der Welt durch seine Enthaltsamkeit rechtfertigen wollen. Er wird mit stolzer Brust behaupten, dass er doch sehr sparsam war im Leben und viele Entbehrungen eingegangen ist, um seinen Traum einer erfolgreichen, ökonomischen Selbstständigkeit zu verwirklichen, und auch, bei allem Reichtum, protzt er immer noch nicht mit seinem Geld herum. Ganz im Gegenteil, er setzt einen größeren Teil seines inzwischen größeren Vermögens für gemeinnützige Zwecke ein.
Wenn Leute wie Bill Gates und andere reiche Philanthropen und andere Wohltätigkeitsklubs (Lions Club, Rotary Club, etc.) sich angesichts des Massenelends in der Welt, welches sie als Kapitalisten auf obige Weise miterschaffen haben, den Elendigen und absoluten Habenichtsen gegenüber erbarmen, gemeinnützige Stiftungen gründen und minimalen Sozialstaat auf globalem Niveau spielen, und sich dann auch für diese Sorte von Menschenliebe ebenso global feiern lassen - Beispiel Gates1 -, dann hat das nicht nur ein Geschmäckle, es wirkt wie blanker Hohn.
Wenn der Kapitalist nun tatsächlich immer reicher wird und seine Bedürfnisse hingegen stets mickrig hält, könnte man sich natürlich zunächst einmal fragen, wozu er diesen ganzen Reichtum überhaupt anhäuft, wenn nicht für sich? Nun, er weiß schon wozu. Er kann den erwirtschafteten Reichtum z.B. einsetzen, um damit neue Maschinen zu kaufen und dadurch den gesamten Arbeitsprozess maßgeblich umzugestalten. In Wirklichkeit ist dies aber gar keine Frage der Wahl, denn er muss dies auch tun. Dies läuft in den Medien meist unter den Stichworten "Erhalt der Konkurrenzfähigkeit" oder im Fachsprech: "Rationalisierung". Aber was ist denn überhaupt so rational an diesem Move?
Was leisten Maschinen ökonomisch? Sie ermöglichen einen größeren Warenoutput bei weniger Aufwand pro hergestelltem Warenstück. Früher musste der Schuster noch selbst Hand anlegen, heute gibt es kaum noch Schuster. Das Handwerk wird durch Textilarbeiter ersetzt, die den Schuh mit maschineller Hilfe zusammenkleistern. Ökonomisch heißt es, in jedes gefertigte Warenstück fließt weniger Arbeitsaufwand ein und also auch weniger Lohnkosten als ohne Maschinen. Die Maschine hilft, Lohnkosten zu senken. Gleichzeitig hat sie aber selbst einen Preis, ist gar nicht günstig und kann sogar richtig teuer sein, eventuell sogar so teuer, dass der Kapitalist sie auf Pump geholt hat. Es lohnt sich trotzdem.
Zwar ist die Maschine teuer, aber dafür kann sie auch eine höhere Stückzahl herstellen, und ihre Gesamtkosten übertragen und verteilen sich ebenfalls auf diese erhöhte Stückzahl an durch sie fabrizierte Waren. So wird das Endprodukt insgesamt billiger. Ein Schuh vom Handwerksmeister gefertigt, konnte mehrere Hundert Euro kosten, inzwischen kostet er - selbst bei gleich bleibender Qualität - nur noch ein paar Dutzend Euro. Für den Kapitalisten ist das super, denn je billiger die Ware, desto mehr kann er von ihr verkaufen, und muss es auch, um denselben Wertertrag zu realisieren, der vorher durch weniger Stücke realisiert werden konnte. Dies ist vor allem nötig, um rückwirkend die hohen Ausgaben für die Maschine zu rechtfertigen. Sie muss sich ja schließlich bezahlt machen.
Es wird für ihn also zwingend erforderlich, seinen Absatz auszuweiten und der Konkurrenz Marktanteile abzuluchsen. Glücklicherweise für ihn ist dies genau die Methode, wie das geht: den Wert der Waren durch Rationalisierung senken. Für die Masse der Käufer seiner Waren gibt es ohnehin kaum ein schlagenderes Argument als das Preis-Leistungs-Verhältnis, also dass das Zeug möglichst billig ist und trotzdem noch kann, was es soll. Der Preis ist das entscheidende Kampfmittel im Wettbewerb unter gleichartigen Produkten.
Blöderweise schläft die Konkurrenz nicht und agiert genau so. Auch sie kauft sich neue Maschinen, um mithalten zu können. Also wird der Marktplatz insgesamt umkämpfter und zwingt sie alle, noch weiter zur rationalisieren und zu expandieren. Dabei bleiben einige Konkurrenten, die nicht mithalten können, dann eben auf der Strecke und werden ganz aus dem Markt verdrängt oder durch Aufkauf geschluckt. Für die Arbeiter dieser verlorenen Betriebe heißt es in der Regel, dass sie entlassen oder zu neu verhandelten - d.h. meist schlechteren - Bedingungen vom neuen Eigentümer übernommen werden. Oder aber diese Betriebe retten sich vor dem drohenden Untergang, doch das geht nur, indem alle den Gürtel enger schnallen, also massive Lohnkürzungen hinnehmen. Im Prinzip läuft das in jeder Branche genau so: von der Gastronomie, wo die Bestellabwicklungen maschinengestützt erfolgt und damit Verwaltungsarbeiten erheblich reduziert, bis hin zum Versandhandel, wo neuste Robotik in den Warenlagern eingesetzt wird. Alle produktiven Unternehmen sind letztlich dieser Logik unterworfen.
Aber auch bei jenen Unternehmen, welche den Preiskampf gegen die Mitbewerber gewonnen haben und sich in der Konkurrenz behaupten, ist die Zukunft für die Arbeiter nicht unbedingt rosig. Erstens hört der Preiskampf und der damit verbundene Stress um Zukunftsängste ja nicht plötzlich auf, sondern wird nur auf die nächste Stufenleiter gehoben. Zweitens wird ihre Arbeitskraft durch günstigere Maschinen ersetzt und damit eben anteilig überflüssig gemacht. Also werden viele von ihnen entlassen. Und auch das hört man in den Wirtschaftsnachrichten meist in einem Zug: Jede größere Rationalisierungskampagne wird von einer Welle der Massenentlassungen begleitet. (Es sei denn, das Unternehmen sieht sich gerade in der Lage, seine produktiven Kapazitäten noch weiter ausbauen zu können, indem es sich zum Beispiel andere Länder als Absatzmärkte erkämpft.)
Dann ist die Empörung plötzlich groß und jeder fragt sich verständnislos und mit einem Anklang von Anklage in der Stimme: Wieso entlässt das Unternehmen seine Angestellten (bzw. kürzt alternativ ihren Lohn), obwohl es doch in letzter Zeit nachweislich satte Gewinne eingefahren hat? Müsste es nicht vielmehr umgekehrt seine Mitarbeiter an diesen Gewinnen beteiligen? Das "obwohl" ist der ganze Denkfehler: Eben "weil" es satte Gewinne macht, kann es sich nun leisten, die Arbeiter durch teurer Maschinen zu ersetzen, die sie sich ohne diese Gewinne gar nicht so recht hätte leisten können. Und allein durch diese schiere Möglichkeit, die nun als reale Bedrohung über den Köpfen der gesamten Belegschaft schwebt, kann der Unternehmer den Angriff auf den Lohn plötzlich leicht intensivieren. Er hat ein geeignetes Druckmittel, welches noch der widerspenstigste Arbeiter in seiner Erpressungslage sofort nachvollziehen kann. Arbeite billiger, oder geh und verzichte auf den Lohn! Wer knickt da nicht ein, vor allem wenn die Familie mit dran hängt? Es ist sozusagen die ökonomische Pistole auf der Brust.
Die Unternehmen begründen den Ankauf von fortgeschrittener Maschinerie meist durch den beliebten Sachzwang, dass sie ja ansonsten nicht wettbewerbsfähig bleiben könnten. Und die Wettbewerbsfähigkeit müsse ja erhalten bleiben, damit der Betrieb nicht untergeht und nicht die gesamte Belegschaft ihren Job verliert. Was daran stimmt, ist, dass ihr privates Bereicherungsmittel durch die permanente Konkurrenz tatsächlich ständig gefährdet ist. Aber so ehrlich können sie das nicht sagen, und je nach dem, wie abgebrüht sie sind, denken sie das eventuell auch gar nicht. Nein im Gegenteil, sie sehen den Betrieb und seine Belegschaft als gemeinsame Opfer einer gnadenlosen, womöglich sogar ausländischen Konkurrenz, die ja doch - und das will man rückwirkend ohnehin immer gewusst haben - nur mit unlauteren Mitteln spielt und sie durch unerhörte Marktmanipulation in die Knie getrieben hat (Stichwort: China). Aber immerhin habe man nicht klein beigegeben und durch eine Kraftanstrengung, die allen Mitarbeitern Opfer abverlangt, den Betrieb so für die Zukunft gerüstet, dass wenigstens nicht alle Arbeiter entlassen werden müssen, was aber durchaus der Fall wäre, wenn der Betrieb ohne solche Maßnahmen mangels Rentabilität ganz schließen müsste.
Hier muss man kurz innehalten, denn das ist einer der irrwitzigsten Momente am Kapitalismus: Es wird die Beseitigung von Arbeitsplätzen ausgerechnet mit dem Erhalt von solchen begründet. Und zwar immer! Allein dieser unauflösbare Widerspruch müsste doch jedermann bitten aufstoßen und das Verlangen wecken, die Prinzipien kapitalistischer Produktionsweisen genauer studieren. Fehlanzeige! Diese Unlogik leuchtet selbst den Gewerkschaften ein, die regelmäßig bei der Abwicklung und der hierarchischen Neustaffelungen der Löhne tatkräftig mithelfen, also im Grunde Aufgaben des Managements übernehmen und sich den Schuh des Vermittlers anziehen. Warum tun sie das? Weil sie ihrerseits auf das Argument des Lohns hereinfallen ("Hauptsache Arbeit!"), und in diesem Zusammenhang gern von "geretteten Arbeitsplätzen" sprechen.
Aber wie sehen solche geretteten Arbeitsplätze nach einem so massiven Eingriff in den Produktionsprozess überhaupt aus? Sind sie überhaupt erhaltenswert? Nun, da die neuen Maschinen den Arbeitern einen Teil ihres Aufwands abnehmen, um sie produktiver zu machen, wird dieser nicht mehr beansprucht und muss folglich auch nicht mehr entgolten werden. Das hatten wir schon. Aber wie setzt man dies durch? Etwa durch eine Lohnreduktion? Nein ganz im Gegenteil, oft erhöht man sogar den Lohn der geretteten Arbeitsplätze. Man schult die Arbeiter um, setzt sie vor die modernen Maschinen und Computer und erklärt sie zu Fachleuten. Aber davon darf man sich nicht blenden lassen. Eine kleine Lohnerhöhung wird durch ein überproportional höheres Leistungspensum begleitet, wodurch die Rate des Mehrwerts, also die Effizienz der Ausbeutung wieder erhöht wird. Man bekommt zwar mehr Lohn auf die Hand, und das ist für den Arbeiter verlockend, muss dafür aber eben in gewisser Weise noch mehr arbeiten. Das Management weiß, was es davon hat.
Und wie wird diese Zunahme an Arbeit wiederum durchgesetzt, ohne die arbeitsvertraglich geregelten Einsatzschichten verlängern zu können? Werden etwa Einpeitscher eingestellt, die für die Arbeitsmoral und die Intensivierung der Arbeit sorgen? Nein, nein, viel besser, ganz ohne menschliches Zutun. Die implementierten Maschinen selbst regeln dieses Problem auf technische Weise: sie geben den neuen Takt der Produktion vor, was sie gerade produktiver gegenüber dem vormaligen Produktionsprozesses macht. Diejenigen Angestellten, die mit dieser Taktung mithalten können, bleiben im Job, kriegen dafür, wie gesagt, vielleicht sogar eine kleine Lohnerhöhung. Die entlassenen Angestellten können nur selten darauf hoffen, von der Konkurrenz aufgekauft zu werden, denn letztlich ziehen alle Betriebe in dieser Entwicklung nach, wo sich dann branchenweit dieselbe Tragödie wiederholt.
Um das Bisherige zu bebildern, ein schönes Beispiel: Als Henry Ford die Fließbandarbeit in der Autoproduktion perfektionierte, konnte er den Preis für Autos stark senken, so dass sich viele Arbeiter nun solch eines leisten konnten. Wer konnte, machte ihm das nach, und am Ende kristallisierten sich aus ursprünglich Hunderten von kleineren Autoherstellern einige wenige Marken heraus, die den Markt dank überlegener Produktivität auf Weltniveau dominierten. Viele dieser Marken siedelten in Michigan, einer ehemals industriellen Hochburg der USA. Detroit, kurz Motown genannt, was sich wiederum als Kofferwort aus den Wörtern Motor und Town zusammensetzt, entwickelte sich schnell zum führenden Standort für die Automobilindustrie mit etlichen Marken, die dort ihren Hauptsitz hatten, vor allem die Big Three (General Motors, Ford, Chrysler). Weil die Automobilarbeiter dort so gut verdienten, galt die Stadt über eine längere Zeit hinweg als die einkommensreichste Stadt der gesamten USA.
Es ist auf nationaler Ebene zunächst genau das passiert, was oben beschrieben wurde. Umstieg auf schnellere Produktionsmethoden führte zum Lohnanstieg und dem Niederbügeln der größten Teile der Konkurrenz. Die gesamte Stadt lebte von der Autoindustrie. Doch dann hat die ausländische Autoindustrie nachgezogen und Detroit in dieser Hinsicht sogar abgehängt. In Wolfsburg (VW), Stuttgart (Mercedes) und Ingolstadt (Audi) kann man am Fließband auch gutes Geld verdienen. Was ist in Detroit passiert? Das Kapital hat sich verzogen. Diejenigen, welche die Zeichen der Zeit gesehen haben, hatten ebenfalls frühzeitig ihre Koffer gepackt. Inzwischen hat die Stadt mehr als 60% ihrer Einwohner verloren und sieht stellenweise wie eine ruinierte, verwilderte Geisterstadt aus - mit um die 80.000 leerstehenden Gebäuden. Die Arbeitslosigkeit nahm zu. Mangels Einkommensmöglichkeiten gelten 2013 ein Drittel der Restbewohner nach offiziellen Kriterien als "arm".
Da vor allem die Reicheren abgehauen sind, hat die Stadt ihre Besteuerungsgrundlage verloren, und musste 2013 als erste Stadt dieser Größenordnung in der Geschichte der USA Insolvenz anmelden. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen jährlich um 100 Millionen Dollar. Städtisches Personal wurde abgebaut, viele öffentliche Leistungen können nicht mehr bezahlt werden und wurden schließlich aufgegeben. Die Kriminalität hat massiv zugenommen, so dass Detroit als eine der Top 50 gefährlichsten Städte der Welt gilt, mit 350 Morden jährlich (10-facher US-Durchschnitt) und 5000 Raubüberfallen (6-facher US-Durchschnitt). Die Ärmeren konnte nicht einfach so abhauen. Für sie war der Zug abgefahren. Sie haben kein Einkommen, um sich woanders ein neues Leben aufzubauen, wenn dort kein Job auf sie wartet, was im gesamten Rust Belt ohnehin zunehmend der Fall ist. Ihr mangels Einkommen heruntergekommenes Detroiter Häuschen bekommen sie jedenfalls nicht mehr verkauft, zumal ja niemand mehr dorthin ziehen will. Es gibt keine Käufer. Darum versuchen etliche Hausbesitzer sich wenigstens über Versicherungsbetrug schadlos zu halten, indem sie alles riskieren und ihr Häuschen abfackeln (Stichwort: Detroiter Devil‘s Night).
Insgesamt zeigt sich ein eher trostloses Bild. Das Elend kennt kein Halt. Und die Moral aus der Geschichte: Man kann sich im Kapitalismus nie sicher sein, dass man immerzu auf der Welle des Erfolgs reitet. Es braucht nur eine zündende Idee woanders auf der Welt, die Produktion dort günstiger zu machen, und eine gesamte Großstadt wird ökonomisch bedeutungslos, verwahrlost und wird bis auf die elendsten Teile ihrer Bewohner entvölkert (vgl. Teil 2/Argument 3). Solche desaströsen Entwicklungen können auch ganze Staaten treffen, z.B. Argentinien, welches noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den Top 5 führenden Wirtschaftsnationen der Welt zählte, die schöne Architektur von Buenos Aires zeugt noch davon. Doch seit ein paar Jahrzehnten windet sich auch dieser Staat von Jahr zu Jahr, um den Staatsbankrott abzuwenden.
Durch den Einsatz von Maschinen werden viele Jobs intellektuell anspruchsloser. Dazu ein paar alltägliche Beispiele: Im Gastrogewerbe berechnet eine Rechenmaschine den vom Kunden zu zahlenden Endbetrag, und die elektronische Technik ermöglicht es diesem sogar, diesen bargeldlos und deshalb weniger umständlich zu begleichen. Keine aufwendigen Kopfrechnungen mehr für den Kellner. Mitunter kann der Kunde seine Bestellung sogar schon vorab per App einreichen, um die Wartezeit stark zu verkürzen. Was im Gesamtpaket als Service und als Arbeitserleichterung daher kommt, verkürzt die Zeit, die der Kellner durchschnittlich am Kunden verbringt, so dass er in einer Schicht mehr von ihnen abwickeln kann, was wiederum den Warenumschlag des Ladens erhöht. Oder nehmen wir das Fließband in der Fabrik, welches ein ursprünglich anspruchsvolles Handwerk auf eine immer gleiche Abfolge von wenigen, langweiligen, hirnzermürbenden Handgriffen reduziert. Indem ein komplexer Arbeitsprozess in kleinste Schritte zergliedert wird, kann die Fertigung der Ware nun ums Vielfache beschleunigt werden.
Die Leser sind hiermit aufgefordert, im Forum darzulegen, inwiefern sie in ihrer jeweiligen Branche gleichermaßen von solchen Effekten betroffen sind - oder vielleicht auch gerade nicht betroffen sind, was uns Anlass geben könnte, darüber zu theoretisieren, an welchen Spezifika der jeweiligen Branche dies liegen mag.
Das allgemeine Resultat der Maschinisierung der Arbeitsprozesse ist die Vereinseitigung und Intensivierung der Arbeit. Doch je anspruchsloser die Arbeit wird, umso mehr Leute werden in die Lage versetzt, um sie zu konkurrieren. Die Maschinen sorgen durch diese Vereinseitigung der Arbeit also dafür, dass der Arbeiter leichter austauschbar wird und sich deshalb seines Jobs schon gar nicht mehr sicher sein kann. Das schwächt bei Lohnnachverhandlungen seine Position, und am Ende muss er sich trotz einer vielleicht anfänglichen Lohnerhöhung letztlich wohl doch einer von oben geforderten Lohnreduktion oder wenigstens -stagnation fügen.
Notiz am Rande: Die ökonomische Lage von sogenannten "Facharbeitern" ist nur insofern stabiler, als dass noch keine marktbeherrschenden Methoden gefunden werden konnten, sie in ihrer jeweiligen Branche durch maschinelle Produktionsmittel zu ersetzen. Deswegen herrscht an denen ja auch immer ein sogenannter "Mangel", was nicht automatisch damit gleichzusetzen ist, dass es von ihnen zu wenige Menschen, sondern dass sie zu teuer für den Bereicherungszweck sind. Die politische Forderung nach Aufzucht oder Import solcher Fachleute zielt lediglich darauf ab, dass ihr erhöhtes Aufgebot doch bitte sehr den Effekt haben möge, ihren Preis nachhaltig zu drücken. Auf dieselbe Weise hat man zuvor schon die Gehälter der Akademiker erfolgreich drücken können. Dafür war lediglich notwendig, die Zugangsbedingungen zu und die Abschlussbedingungen an den Universitäten zu senken (Stichworte: Gesamtschule, zweiter Bildungsweg, Bologna-Prozess etc.). Die dadurch erzeugte "Akademikerschwemme" überflutete den Markt für hochspezialisierte Köpfe und ihre Konkurrenz um eine begrenzte Anzahl an Arbeitsplätzen leistet das Übrige.
Wem bisher das apologetische Argument eingeleuchtet hat, dass die Konkurrenz, die der Kapitalismus freisetzt, doch immer zugute gehalten werden kann, dass sie den Fortschritt beschleunigt, dem muss entgegnet werden, dass dieser Fortschritt nicht mit dem Wohl der Menschheit zu verwechseln und auch mit diesem nicht vereinbar ist. Der Kapitalismus treibt zwar durchaus den Fortschritt voran, "entfaltet die Produktivkräfte", wie es so schön anerkennend heißt, aber eben unter seinem Gesichtspunkt: Rentabilität. Unter diesem Gesichtspunkt wird auch schon eine ganze Menge an Fortschritt verworfen.
Zum Beispiel sind Produkte, die zu lange halten, ein Nachteil, weil sie den Markt zu schnell sättigen (Stichwort: eingebaute Obsoleszenz), so dass irgendwann mal keine Produkte mehr verkauft werden können. Also werden sie so gebaut, dass sie früher kaputt gehen, obwohl man von der Technik her längst weiß, wie es auch anders geht. Ein anderes Beispiel: In manchen Branchen ist es üblich, selbst fertig entwickelte Technologien nicht sofort zu publizieren, sondern sie den Konsumenten aus gewinnkalkulatorischen Gründen zunächst vorzuenthalten und in mehreren Entwicklungsstufen zu releasen, um so mehr Produkte verkaufen zu können - mal wieder auf Kosten der Umwelt und unnötig verausgabter Arbeit.
Vor allem im Hinblick auf die Produktionsmaschinerie kann man an den bisherigen Ausführungen klar erkennen, dass sie leider ganz und gar nicht dafür da sind, um den Arbeitsplatz angenehmer zu machen, sondern um die jeweilige Produktion zu verbilligen. Der Fortschritt im Kapitalismus dient nicht dem Menschen, weder dem Arbeiter noch dem Konsumenten, sondern dem Kapital und seiner Vermehrung.
Notiz am Rande: Was das für einen Unterschied macht, kann man an den ehemaligen "realsozialistischen" Staaten des globalen Ostens sehen. Nachdem diese Staaten sich aus schlechten Gründen entschlossen hatten, anstatt sich zum Kommunismus zu reformieren und ihre Anreiz- und Hebelwirtschaft zugunsten einer echten Planwirtschaft auszutauschen, vollständig auf Marktwirtschaft umzusatteln, haben sie gemerkt, dass ihre Betriebe gar nicht so eingerichtet waren, um auf dem Weltmarkt rentabel zu sein. Offenbar kannten sie auch noch andere Gesichtspunkte, unter denen sie ihre Produktionsmittel entwickelten, die nicht nur darauf abzielten, möglichst viel Mehrwert aus den Arbeitern zu pressen. Resultat: Es mussten nach der Wende viele volkseigene Kombinate geschlossen werden, was dann prompt mit einer akuten Massenverelendung einherging. Viele Landstriche wurden weitestgehend deindustrialisiert. Bestes Beispiel: Ukraine. Da in diesen Ländern immerhin noch technisches Know How vorhanden war (und in manchen sogar viele Rohstoffe vorlagen, etwa Kohle in Polen, Erdöl und Erdgas in Russland, seltene Erden in der Mongolei etc.), konnten einige von ihnen immerhin noch genug westliche Kredite auf sich ziehen, um eine erneuerte Produktion unter Weltmarktbedingungen anzugehen. So vermieden sie es, auf das Niveau komplett verelendeter Staaten wie Haiti, einst reichste Kolonie Frankreichs, herab zu sinken, wobei den Kosovo, als Relikte eines einst blühenden Jugoslawiens, nicht viel von solch einem worst-case-Szenario unterscheidet. Gleiches trifft auch für Albanien, Moldawien, Armenien und Tadschikistan zu.
Es stimmt nicht, dass in einem kapitalistischen System letztlich alle vom Reichtum profitieren (Trickle Down Prinzip). Im Kapitalismus trickelt nichts down, nur up, up, up. Dass ein Sozialsstaat dafür sorgt, dass ihm die Massen nicht ganz vor die Hunde gehen, verdankt sich seinem Interesse als "idealer Gesamtkapitalist". Durch die Unterstützung der Arbeitslosen hält er sich auf bescheidenem Niveau eine sogenannte "Reserveearmee" am Leben, auf die er seine Kapitalistenklasse in Zeiten der Hochkonjunktur zugreifen lässt. Überdies ist es seine Art, ein unliebsames Ordnungsproblem zu managen. Bevor die Leute alle kriminell werden, um zu überleben, soll es ihnen wenigstens gestattet sein, dies auf niedrigstem Niveau zu tun. Dafür gebührt den Arbeitslosen auch aller Dank - in Form von Verachtung: "Geh doch arbeiten!" No shit, Sherlock. Als ob sie selbst in der Hand hätten, wer sie einstellt. Das Bewerbungsgespräch läuft in der Regel genau anders herum.
Aber das kapieren auch viele Arbeitslose, also die mit am härtesten Betroffenen in dieser Gesellschaft, leider nicht. Neidisch schauen sie immerzu auf die Immigranten, und werden darüber gleich nationalistisch. Nein, ich meine nicht auf die Schweden, die Schweizer und die Schotten, die sich nach Deutschland geflüchtet haben, um hier für gutes Geld die besseren Jobs als Professoren, Chirurgen und dergleichen zu besetzen. Nein, es sind ausgerechnet die Zuzöglinge aus den Krisenländern der Erdkugel, die vor all dem durch das globale Kapital gestiftete Massenelend (vgl. Teil 3/Argument 5) in ihren Heimatländern geflüchtet sind, hier mit ihrer schieren Präsenz die Reservearmee aufblähen und sich so ihrerseits die Verachtung ihrer volksdeutschen Konkurrenz zuziehen. Dann heißt es, dass es dem Syrer, Afghanen und Libyer doch gar nicht zusteht, dass er uns hier unseren Arbeitsplatz streitig macht! Ach, wenn er doch wenigstens arbeiten würde! Der ruht sich doch nur auf unserer sozialen Hängematte aus, heißt es weiter.
Doch doch, es steht ihm schon zu, denn er leistet auch in der "sozialen Hängematte", ja selbst in Zeiten konjunktureller Depresssion - gerade da! - seinen soliden Dienst an seiner neuen Wahlnation. Zusammen mit seinen deutschstämmigen Klassenbrüdern wirkt er als Reservearmist auf die Masse der lohnabhängig Beschäftigten insgesamt lohndrückend.
Um es mal zynisch zu sagen: Die Bewegung der sogenannten "Überflüssigen" hat überhaupt kein Recht, sich so zu nennen. Sie sind nämlich ganz und gar nicht überflüssig. Genau dafür sind sie nämlich gut, Arbeitsreservisten und Lohndrücker zu sein. Hingegen sind Zeiten der Vollbeschäftigung Krisenzeiten fürs Kapital, weil es plötzlich viel schwerer wird, günstige Arbeitskräfte einzukaufen. Es stimmt also gar nicht, dass die Politik das Ziel hat, Vollbeschäftigung zu erreichen, damit wenigstens jeder in Lohn und Brot gesetzt ist. Davon hat der Standort gar nichts, wenn er seine Wettbewerbsfähigkeit erhalten will. Zur Rolle der "Überbevölkerung" und wie sie hergestellt wird, äußert sich Marx im 23. Kapitel seines Buchs:http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_640.htm.
Der Zusammenhang zwischen Produktionsprozessen, die durch Maschinerie revolutioniert wurden, und miserablen Arbeitsbedingungen ist nicht bloß eingebildet und hört man ja auch immer wieder. Von unmenschlichen Arbeitsbedingungen gerade bei den modernsten Arbeitgebern ist oftmals die Rede. Zuletzt waren diesbezüglich öfters Amazon und Tesla im Gespräch. Es wird von der Belegschaft beklagt, dass alle Produktionsschritte bis ins Detail durchgetaktet sind und so kaum Luft zum Verschnaufen geben. Die Shareholder erkennen darin hingegen nichts anderes als das unternehmerisches Genie ihrer Buisness Evangelists und feiern solche genial eingerichteten Betriebe als zukunftsweisend ab. Wann immer solche Unternehmergroupies auf Aktionärsversammlungen ins kollektive Schwärmen über das angebliche Genie ihres jeweiligen Gottes (Bezos, Musk, Gates, Jobs, Zuckerberg etc.) kommen, wissen die Arbeiter, dass sie dabei nichts zu gewinnen haben. Daran ist bis auf die Branche nichts neu, das hat Marx schon vor 150 Jahren analysiert. Wie die allgemeinen Wirkungen und der historische Entwicklungsgang der Maschinerie im Konkreten zu seiner Zeit ausgefallen sind, bespricht er in den Kapiteln 11, 12 und 13.
Noch eine Notiz am Rande: Die Vereinseitigung des Arbeitsplatzes und die verschärfte Konkurrenz nagen an der Psyche der arbeitenden Massen und sorgen für vollere Terminkalender bei den Psychologen. Auch dass die Religion mit ihren modernen Verlaufsformen (New Age Esoterik, Buddhismus Hype etc.) in Zeiten der Aufklärung angesichts naturwissenschaftlicher Erkenntnisse noch nicht ausgestorben sind, verdankt sich solchen Effekten. Es sind Rückzugsorte für die überstrapazierte Psyche. Andere naheliegende Bewältigungsstrategien sind grundlos positives Denken; Medikamente (vor allem Schlafmittel); Kompensation durch eskalative Wochenenden ("Koks und Nutten!"); übersteigertes Urlaubsbedürfnis; gern auch mal beides in Kombination ("Ballermann!"); freizeitmäßige Verlagerung der Konkurrenz auf individuell beherrschbare Gebiete jenseits der Arbeitswelt, um sich so wenigstens einreden zu können, dass man noch wer ist und was kann; in diesem Sinne ein erhöhtes Selbstdarstellungsbewusstsein (Facebook, Twitter, Instagram, Foren-Trolling etc.), Optimierungswahn und Körperkult; oder eben umgekehrt ganz die Aufgabe der Konkurrenz, sei es durch Flucht in Drogenabhängigkeit und Alkoholismus oder sei es durch Reduktion der eigenen Bedürfnisse auf das absolute Minimum (Stichwort: Aussteiger) - und natürlich gibt es noch unzählige Verlaufsformen mehr. Der Kapitalismus macht die Menschen notwendig krank, nicht nur körperlich, weil er sie einseitig vernutzt und seiner Taktung unterwirft, sondern auch psychisch, weil er sie ihrer Arbeit entfremdet und auch noch gegeneinander antreten lässt und dadurch zusätzlich gegeneinander aufhetzt.
Wir kehren an den Ausgangspunkt zurück. Woher hat denn der Kapitalist nochmal die erhöhte Kapitalsumme für die neue angeschaffte Maschinerie? Ach ja, aus der wertschöpfenden Arbeit seiner Angestellten. D.h. sie werden nicht nur ausgebeutet, indem man sich versteckt ihrer Arbeit bemächtigt, sondern sie untergraben durch ihre Tätigkeit ihren eigenen Arbeitsplatz, also letztlich ihre eigenen Lebensbedingungen. Wenn das nicht zynisch ist!? Aber so ist sie, die kapitalistische Produktionsweise und ihre Apologie. Zynisch bis zum Anschlag. Und der Lohn ist bloß die Methode, die Ausbeutung auf Dauer zu stellen.
Ich hoffe, ich konnte den Leser einigermaßen interessiert machen, für eine eigenständige Lektüre des Originals.2 Er würde feststellen, dass dies noch lange nicht alle Argumente waren, die er von Marx zu erwarten hätte. Viele Themenkomplexe sind hier noch gar nicht angesprochen worden, z.B. die zunehmende Konzentration des Kapitals in immer weniger Hände (Stichwort: "We are the 1%!") oder die Bewegungsgesetze der Zusammensetzung von variablem und konstantem Kapital. Das Buch ist Hunderte von Seiten lang und es gibt gefühlt auf jeder Seite ein augenöffnendes Argument, wenn man es nicht achtlos überliest, welches einem hilft, auch eher moderne Apologien des Kapitalismus zu durchschauen und zu entkräften. Man wird es nach dem ersten Lesen und Verdauen sogar noch mehrmals lesen wollen. Jedes Mal entdeckt man ganz neue Details, die man zuvor übersehen hatte. Es ist mein absolutes Lieblingsbuch. Ich selbst hab es vermutlich ein halbes Dutzend mal gelesen, und es hilft mir, meinen Alltag rational zu beurteilen. Kein anderes Buch hat so viel für meine geistige Entwicklung geleistet. Marx liefert mit dem Kapital im Grunde das beste intellektuelle Rüstzeug, um sich gegen die polit-ökonomische Idiotie der bürgerlichen Gesellschaft zu wappnen. Man sollte es sich wirklich nicht entgehen lassen.
Um also die Titelfrage abschließend und hoffentlich ein für allemal zu beantworten. Was spricht für den Kapitalismus? Nichts. Wirklich rein gar nichts.