Der Kapitalismus schafft Reichtum
Was spricht für den Kapitalismus? - Teil 2
Der Kapitalismus schafft immensen Wohlstand. Inwiefern stimmt das und wie stellt er das an?
Vorab an den Leser: Die Reihenfolge der hier präsentierten Argumente aus dem Buch "Das Kapital" (Band 1) von Karl Marx folgen einem logischen Aufbau. Deshalb bitte ich den Leser, sofern nicht geschehen, vor dem Lesen des 2. Teils zunächst Teil 1 zu konsultieren.
Argument 3: Erfolg der Produktion ist nicht garantiert
Es kann aber eben auch sein, dass ein Investment eine Ware ganz vergebens produzieren lässt, weil sie keinen Absatz findet. In einer Marktwirtschaft weiß man notwendig immer erst hinterher, ob das eigene Warensortiment jemandem von Nutzen war oder nicht. Die Idee kann noch so toll sein. Wenn das Zeug keiner haben will - und Gründe dafür gibt es diverse -, dann hat sich der Kapitalist einfach verspekuliert, und es bleibt der erhoffte Rückfluss des vorgeschossenen Kapitals und eines darüber hinausgehenden Mehrwerts schlichtweg aus. Die moralische Anklage, die ansonsten üblicherweise nur dem Finanz- und Immobiliengewerbe gilt, doch reine, raffende Spekulanten zu sein, trifft insofern auch auf das produktive Kapital zu. Wenn man es schon moralisch sehen will, dann konsequent.
Vom Standpunkt des Kapitalisten hat er im Falle eines solchen Reinfalls bloß Geld verloren, mit eventuell insolvenzrechtlichen Konsequenzen. Für die übrige Gesellschaft bedeutet es aber eine unnötige Belastung der Umwelt, immerhin wurden Rohstoffe verbraucht, und eine demoralisierende Verschwendung von Arbeitskräften.
Das Ganze ist auch kein bedauerlicher Einzelfall, sondern systemisch notwendig. Erstens gibt es in der Konkurrenz der Unternehmer notwendig Verlierer, denn genau darum geht es ja, sich wechselseitig Marktanteile abzuknöpfen, d.h. andere vom Markt zu verdrängen, da anders der Mehrwert auf Dauer nicht zu erwirtschaften ist. Zweitens ist die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise felsenfest ins System eingeschrieben. Marx entwirft am Rande eine Theorie des industriellen Zyklus, wonach die Industrie periodisch eine Reihenfolge von "mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation" durchläuft. Bisher konnte man ihn diesbezüglich nicht an der Empirie blamieren. Das Phänomen der Konjunkturzyklen ist unter Ökonomen ja weithin bekannt.
Argument 4: Der Wert von Waren ist durch objektive Bedingungen bestimmt
Obwohl nun jede Warenproduktion Spekulation ist, können wir - und zwar ohne parteiisch werden zu müssen - über den Mehrwert im produktiven Sektor dennoch festhalten, dass er, obwohl sein Rückfluss ungewiss ist, kein Resultat des reinen Zufalls sein kann, sondern auf einer systematischen Grundlage erzeugt wird. Warum? Jede Investition, die weltweit verausgabt wird, um eine Produktion anzuregen oder aufrechtzuerhalten, ist ja gerade scharf auf den Mehrwert. Niemand würde mit einer Gewinnabsicht Kapital investieren, wenn nicht mit einer gewissen Verlässlichkeit auf einen erhöhten Geldrückfluss spekuliert werden könnte. Immerhin leistet man sich den Bau von Fabriken, die Miete von Bürogebäuden und eine langfristige Vertragsbindungen von Arbeitskräften und Zulieferern. Das sind alles hohe Kosten und Risiken, die wohlüberlegt eingegangen werden müssen.
Um näher zu bestimmen, wo der Mehrwert hergezaubert wird, müssen wir uns einen normalen Kapitalzyklus näher anschauen. Dieser besteht aus dem immer selben Dreischritt:
(1) Ankauf von Arbeitskräften und sachlichen Mitteln der Produktion (Arbeitsmaterialien, Arbeitswerkzeuge, Produktionsstätte, etc.).
(2) Erzeugung der beabsichtigten Waren durch planvolles Zusammenwirken dieser beider Elemente.
(3) Verkauf der erzeugten Waren und dadurch Rückfluss der vorgeschossenen Geldsumme samt Mehrwert.
Wenn der Mehrwert also kein Zufall ist, sondern systematisch erzwungen wird, dann muss er durch einen dieser drei Schritte erklärt werden. D.h. an irgendeiner dieser drei Stellen muss er der vorgeschossenen Wertsumme einen Zuwachs hinzufügen.
Schritt (1) und Schritt (3), der An- und Verkauf von Waren, sind bis auf ihre Gegenläufigkeit im Prinzip dieselben Operationen. Wenn man durch das bloße Kaufen oder Verkaufen systematisch einen Mehrwert erzielen kann, dann kann man ihn durch die jeweilige Gegenoperation genauso gut auch wieder verlieren. Beide Operationen neutralisieren sich.
Und in der Tat, wenn mit einer Geldsumme eine Ware gekauft wird, wechseln Geld und Ware lediglich ihren Besitzer, sie sind und bleiben durch diese Transaktion in ihrem Wert aber unangetastet. Marx erläutert diesen Punkt viel detailreicher, indem er seinem Leser schon früh im Buch klar macht, worin sich der Wert einer Ware bestimmt und was seine Bewegungsgesetze sind, d.h. unter welchen Bedingungen der Wert steigt oder sinkt. Mit diesem Wissen ausgestattet ist das Rätsel um den Mehrwert kein großes mehr.
Doch auf all dies soll hier erst einmal gar nicht so sehr eingegangen werden, das kann nur die Lektüre des Originals leisten. Die obige Ausführung sollte dem hiesigen Leser lediglich ein paar Hinweise geben, um die Schritte (1) und (3) als mögliche Quellen des Mehrwerts plausibel auszuschließen. Also muss sich diese in Schritt (2) befinden. Diese Sorte Beweis ist kein Argument bei Marx, sondern wird hier nur vorgebracht, um den Leser schnellstmöglich zu einer vorläufigen Einsicht zu bringen. Wir wissen damit noch nicht, wie die Mehrwertschöpfung im einzelnen funktioniert, aber wenigstens benennen wir schon mal ihren Ort, den Produktionsprozess.
Diesen analysiert Marx in Kapitel 5 seines Buchs, gleich im Anschluss an die Einführung des Kapitalbegriffs, und benennt die allgemeinstes Bestimmungen eines jeden Arbeitsprozesses, die immer zutreffen, egal wie die gesellschaftlichen Umstände auch sein mögen. Doch hält er als eine Besonderheit speziell der kapitalistischen Produktionsweise fest - im Gegensatz zu den Arbeitsprozessen anderen Gesellschaftsformen wie z.B. der Sklaverei, dem Feudalismus, der Subsistenzwirtschaft etc. -, dass sich im Arbeitsprozess gleichzeitig auch ein Verwertungsprozess vollzieht. Will sagen: Der Arbeitsprozess fertigt eben nicht nur ein unschuldiges Produkt an, sondern es ist ein Produkt mit einem Wert, immerhin kosten die gefertigten Dinger ja was, wenn sie auf den Markt kommen, und ihr Preis kann zwar schwanken, aber ist nicht vollends beliebig irgendwo um diesen Wert herum.
In die Fertigung eines Produkts gehen nicht nur die versammelten Arbeitskräfte der Belegschaft mit ein, die nötig sind, um es zu produzieren und zu vertreiben, sondern auch die gesamte Produktionsumgebung (Werkhalle, Büro etc.), Werkzeuge und Arbeitsmaterialien wie Rohstoffe und Vorprodukte, die allesamt gekauft wurden, also ebenfalls einen Wert haben. All diese vorgeschossenen Werte tragen zum Wert des Endprodukts bei und Marx legt in Kapitel 6 in Fortsetzung seiner zu Beginn des Buchs entwickelten Theorie des Werts akribisch dar, wie und in welchem Umfang dies geschieht.
Jedenfalls kann man selbst ohne dieses Detailwissen jetzt schon festhalten, dass der Verwertungsprozess sich den Arbeitsprozess notwendig unterwirft. Wenn der Arbeitsprozess nicht zu einer gewünschten Verwertung hinreicht, muss er aufgegeben oder angepasst werden, mit allen negativen Konsequenz für den Arbeiter, den Konsumenten des Endprodukts und die Natur.
Bedeutet: Wie genau die Arbeit, die der Arbeiter an seinem vorgefundenen Arbeitsplatz ausführen muss, oder die Güte des gefertigten Produkts, mit der sich der Konsument am Ende herumplagen muss, also letztlich ausfallen, verdankt sich - wie sich auch hier nochmal zeigt - nicht so sehr den Wünschen der maßgeblich Beteiligten (Arbeiter und Konsumenten), sondern bloß einer Rentabilitätsrechnung. Dabei interessieren z.B. den Arbeiter als dem Produzenten des stofflichen Reichtums doch ganz andere Fragen, etwa, , ob seine Arbeit einen gesellschaftlichen Nutzen stiftet, ob es sich bei ihr um eine erfüllende Tätigkeit handelt, ob sie seine Gesundheit und Freizeitgestaltung belastet, und noch etliche Frage mehr, jedenfalls keine Fragen der Rentabilität.
Es ist doch kein Geheimnis und insofern auch kein Zufall, dass sehr viele Menschen - die Wissenschaft spricht wohl sogar von einer Mehrheit - ihren Arbeitsplatz, also ausgerechnet den Ort, an dem sie einen Großteil ihres Lebens zubringen müssen, überhaupt nicht mögen (vgl. Teil 5). Kein Wunder, denn ihre Befindlichkeiten haben vom Standpunkt des Verwertungsprozesses keine Priorität und werden nur berücksichtigt, wenn es diesem nutzt. Dann kann es natürlich auch schon mal vorkommen, dass Gesichtspunkte wie Work-Life-Balance in den Mittelpunkt einer Unternehmensumstrukturierung gerückt werden, jedoch durch die Medien stets begleitet mit dem Hinweis, dass doch auch das Unternehmen davon profitiert. Es soll wohl ja keiner auf die dumme Idee kommen, dass die Einrichtung eines angenehmen Arbeitsplatzes ein Zweck für sich sein könnte.
Doch zurück zum Verwertungsprozess. Sehen wir näher zu: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft machen alle Arbeiter zunächst etwas Unterschiedliches. Die eine Person macht dies, die andere das. Doch was sie alle auch tun, egal welcher "konkreten Arbeit" sie im Einzelfall nachgehen, ob sie bauen, ob sie putzen, ob sie denken usw. abstrakt gesehen machen sie alle ein und dasselbe: sie alle leisten einen Aufwand, sie malochen, wenn man so will. Marx nennt das "abstrakte Arbeit", d.h. sie verausgaben, ganz allgemein gesprochen, Muskeln, Sehnen, Hirn, Nerven usw. Das ist ihnen allen gleich, das macht sie überhaupt erst qualitativ unterschiedslos und damit quantitativ vergleichbar. Bei der abstrakten Arbeit kommt es nur auf die Menge an, auf das Wieviel, die Zeit und die Intensität der körperlichen Beanspruchung, bei der konkrete Arbeit hingegen auf das Was und Wie der Arbeit an, also auf die Handfertigkeiten und das Know How.
Im Verwertungsprozess passieren im Wesentlichen nun zwei Dinge. Zunächst gibt es die reine Wertübertragung aus den Produktionsmitteln auf das Endprodukt. D.h. die Rohstoffe, die Vorprodukte, die Werkzeuge, die Fabriken usw. geben alle einen Teil ihres Wertes an das Endprodukt weiter, verlieren damit aber ihrerseits selbst allmählich an Wert. Diese Übertragung findet letztlich durch konkrete Arbeit statt. Welche genaue Rolle sie dabei spielt und in welchem Umfang die Wertanteile auf diese Weise im Einzelfall abgegeben werden - ob ganz oder nur anteilig etc. -, wird im Buch detailliert erklärt, aber empirisch kennt man das ja auch aus dem Alltag, z.B. aus so Sprüchen in den Wirtschaftsnachrichten: "Das Unternehmen wälzt die ihm zusätzlich entstandenen Kosten auf den Verbraucher ab." Das leuchtet jedem direkt ein. Die ganzen Sachkosten der Produktion werden ganz einfach an die Kunden weitergereicht.
Aber! Das bloße Weiterreichen der Kosten bringt noch keinen Wertzuwachs, es bleibt lediglich eine Übertragung. Dieser entsteht durch die gleichzeitig geleistete abstrakte Arbeit. Diese reine Verausgabung von Körper- und Denkkraft bewirkt uns am Ende den erwünschten Wertzuwachs. Wenn diese Logik nun stimmt, dann müsste es der Tendenz nach heißen: je mehr abstrakte Arbeit aufgewandt wird, umso höher der Wert der Ware.
Damit operiert Marx also mit einem sehr bestimmten Wertbegriff. Marxens gesamte Theorie der Ausbeutung, Armut, Konkurrenz, Landflucht, Reichtumsakkumulation und -konzentration usw. basiert letztlich auf der Frage: Was ist der Wert einer Ware? Das ist die zentrale Frage, von der alles abhängt. Denn: Ohne Wert auch kein Mehrwert. Und ohne Mehrwert z.B. keine spezifisch kapitalistische Form der Ausbeutung (vgl. Teil 4). Ihm war klar: Der Wert ist nichts Geringeres als die Elementarform der gesamten Marktwirtschaft. Er durchdringt einfach alle Aspekte des Wirtschaftsgeschehens. Wenn man dieses verstehen will, mit all seinen Sachzwängen, die maßgeblich unser Leben bestimmen und denen wir oftmals wie einer Naturgewalt ohnmächtig gegenüber stehen, ist es eben unabdingbar, den Wert begrifflich richtig zu erfassen, denn ansonsten bleibt alles, was uns sogenannte Wirtschaftsexperten dazu vermelden, im Grunde doch nur Spekulation und Ideologie (vgl. Teil 5). Und weil der Wert so zentral ist, behandelt er diesen selbstverständlich bereits ab den Anfangsseiten seines ersten Kapitels, worauf wir hier jedoch nicht stark eingehen. Dort arbeitet er den Begriff der abstrakte Arbeit heraus und erklärt, warum einzig sie die Substanz des Wertes sein kann.
Das haben viele Theoretiker bereits vor ihm getan, z.B. William Petty, Benjamin Franklin, Adam Smith, David Ricardo etc., sie alle hatten bereits eine ähnliche "Arbeitswertlehre" und entwickelten daraus ihre jeweils eigenen Theorien, die dann aber eben nicht so kritisch ausfielen wie bei Marx, sondern vielmehr ein gewisses Lob des Kapitalismus begründeten.
Der Game Changer bei Marx, der die Arbeitswertlehre in eine Systemkritik verwandelt hat, besteht in seiner begrifflichen Schärfe, nicht die verschiedenen Aspekte von Arbeit (konkret, abstrakt) und Wert (Gebrauchswert, Tauschwert) durcheinander zu bringen. Seine Vordenker halten es noch eher umgangssprachlich, wenn sie davon reden, dass die Arbeit den Wert schafft. Marx hingegen erklärt, welche Arbeit, wie welchen Wert schafft und präzisiert das im Fortlauf des Buchs. Das Argument seiner Vorgänger für die Arbeitswertlehre: es ist plausibel und deckt sich mit den meisten Alltagsbeobachtungen. Marx hingegen reicht das nicht, er liefert einen logischen Beweis für diese Behauptung, präzisiert dadurch die voraus gegangenen Versionen der Arbeitswertlehre an mehreren Stellen und bügelt darüber erst einige offene Widersprüche aus.
Einige dieser Widersprüche wären:
- Wieso hat ein Klumpen Gold, welchen man zufällig am Wegesrand findet, trotzdem einen hohen Wert, obwohl der Finder kein bisschen dafür gearbeitet hat? Er hat ihn ja lediglich gefunden und in Besitz genommen. Auflösung: Dem Goldklumpen sieht man auf dem Markt eben nicht an, ob es Produkt einer anstrengenden Goldschürfertätigkeit ist oder bloß irgendwo gefunden wurde. Also behandeln ihn Käufer und Verkäufer so, als sei er das Produkt von Arbeit, und messen ihn eben daran, wie viel Arbeit im gesellschaftlichen Durchschnitt beim vorliegenden Stand der Produktionstechnologie notwendig wäre, um diesen Klumpen zu fördern.
- Wieso werden die härtesten und einseitigsten Jobs meist schlechter bezahlt, obwohl sie doch mehr Aufwand bedeuten und damit mehr Wert schaffen sollten? Die Auflösung liefern wir später in der Artikelserie, zum einen kurz in Teil 3, wo es um die härtesten Jobs geht, mit langen Arbeitsschichten. Dies betrifft global gesehen die "Entwicklungsländer", deren Jobs so hart sind, um wenigstens halbwegs mit der Produktivität der Industrienationen mithalten zu können (beispielsweise in der Textilbranche); um zum anderen in Teil 5, wo er klärt wird, warum es im Kapitalismus überhaupt eine Tendenz zu vereinseitigten Jobs gibt.
- Wie kommt es, dass der Wert eines Dings von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit schwanken kann? Solche Beobachtungen liegen ja tatsächlich vor, aber sie machen unter einer naiven Arbeitswertlehre nur wenig Sinn, da die verausgabte Arbeit, die in den produzierten Waren bereits steckt, dieselbe ist und bleibt und nicht rückwirkend mehr geändert werden kann, sobald die Ware einmal produziert ist - sie müsste also doch bis zum Verkauf, bevor im Konsum ihre allmähliche Vernutzung und damit auch ihre Wertminderung beginnt, konstant bleiben, sich also überall und jederzeit auch in gleichen Preisen äußern. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass die gleiche Tafel Schokolade, vom selben Fabrikanten hergestellt wurde, im Discounter günstiger ist als im Kiosk gleich nebenan. Dies ist weder durch zusätzlichen Produktions- noch durch zusätzlichen Transportaufwand zu rechtfertigen. Auflösung: Um solche Effekte und Widersprüche korrekt verstehen und erklären zu können, muss man nicht nur die Bestimmung und Bewegungsgesetze des Werts kennen, sondern auch eine Unterscheidung einführen zwischen dem Wert und dem Preis einer Ware (im Buch Kapitel 3), einen Unterschied, den die VWL gar nicht kennt oder kennen will und deswegen auch so regelmäßig auf allerlei Illusionen hereinfällt. Mit diesem Wissen würde es z.B. viel klarer, wieso auf dem Basar, Preise überhaupt nachverhandelt werden können, wenn dieser doch eigentlich durch die bereits im Produkt verausgabte Arbeitsmenge fix und fertig feststehen müsste. Es würde also klarer, wie das Gesetz von Angebot und Nachfrage auch dann noch fortbestehen kann, wenn die Werte fix im Produkt vorliegen - eben als Abweichung des Preises vom Wert. Warum es diese Abweichung notwendig geben muss, erklärt Marx dort ebenfalls.
- Wieso hat unbearbeiteter Boden, auf welchen keine Arbeit verausgabt wurde, überhaupt einen Preis und wie bestimmt er sich? Auflösung in Buch 3 des Kapitals.
Wenn man sich all solche und einige andere Widersprüche nicht sorgfältig durch eine bereinigte Form der Arbeitswertlehre auseinander dröselt, dann verfällt man auf den Schein, alle Preise letztlich komplett willkürlich sind, und erklärt wie die VWL diese scheinbare Willkür gleich zur Natur der Sache selbst. Dies nennt sich dann Nutzenwertlehre. Sie besagt im Wesentlichen, dass der Wert einer Ware steht und fällt mit der inneren Bereitschaft der Leute, für sie zu bezahlen. Und diese innere Bereitschaft wiederum hänge von dem Nutzen ab, den die Ware stiftet. Und der variiert mit den beteiligten Individuen, sei also insofern willkürlich.
Die Widersprüche, die sich hieraus für die Theorie des Preises ergeben, sind unauflösbar. Das beirrt die VWL aber ganz und gar nicht. Zu ihrer "Fundierung" ziehen sie relativ billige Metaphern heran, nach dem Motto: In der Wüste würde ein König doch wohl für ein Glas Wasser, das im Grunde nichts wert ist, sein halbes Reich hergeben, um nicht zu verdursten. Es ginge ja schließlich ums Überleben, was ja wohl einen sehr hohen Nutzen für den König hat. Oder: Wie kommt es, dass Kunstwerke, an denen ein Künstler vielleicht gerade einmal ein paar Stunden herum gewerkelt hat, also kaum Arbeit verausgabt hat, in Auktionshäusern für sehr teures Geld gehandelt werden? Oder: Warum haben Indianer arbeitsaufwendig zu produzierende Felle gegen billige Glasperlen eingetauscht? (Wenn es historisch überhaupt stimmt und von einer dauerhaften Tauschtätigkeit überhaupt die Rede sein kann.)
Wir werden diese "Phänomene" - seien sie ausgedacht oder echt - dem Leser jetzt nicht im Sinne der Arbeitswertlehre auflösen, aber eins fällt an solchen Beispiel doch schon auch direkt auf: Es sind wohl nicht weniger als solche Extremszenarien nötig, um die Arbeitswertlehre zu attackieren. Eine Robinsonade mit einem verdurstenden König in der Wüste wirft jedenfalls ganz andere Fragen auf als solche nach dem monetären Wert von Wasser in der Wüste. Das ist ja noch nicht mal eine Ökonomie, die da beschrieben wird, eher ein Erpressungsverhältnis. Was würde der König denn für das zweite Glas hergeben? Die Hälfte von der Hälfte des Königsreichs? Da fehlt es vorne und hinten an ökonomischen Bestimmungen. In solch einem fiktiven Szenario ist die Preisbildung wirklich bloß Willkür. Und der Kunstmarkt? Was ist denn der Arbeitswert, d.h. der gesellschaftlich notwendige Produktionsaufwand, von mit Ideologie überladenen - ausgerechnet! - Einzelstücken. Und welche Art von Käufern tummelt sich auf solchen Märkten? Es sind ja gerade nicht diejenigen, die auf Arbeitswerte achten müssen, weil sie ohnehin von fremder Arbeit leben (vgl. dazu Teil 4). All solche Szenarien zeichnen sich gerade darin aus, dass sie deutliche Abweichungen vom marktwirtschaftlichen Normalvollzug sind. Und ausgerechnet diese Abweichungen sollen den stinknormale marktwirtschaftliche Betrieb erklären, wie er in jeder Sekunde millionenfach auf dem Planeten stattfindet?
Was bei diesen nutzenwertbasierten Theorien noch auffällt und sie sehr wissenschaftlich erscheinen lässt: Sie sind zum Teil hochmathematisch. In den Lehrbüchern und theoretischen Analysen sieht man lauter Formeln, Differentialgleichungen, Graphen usw. All das erweckt natürlich sofort den Anschein von Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit. Aber Vorsicht! Man muss schon sehr drauf achten, welche Begriffe da mathematisiert werden und ob dies überhaupt gerechtfertigt ist. Zum Beispiel geht es in den Lehrbücher oft darum, rechnerisch Szenarien zu bestimmen, bei denen der Nutzen maximal wird. Aber: Kann man Nutzen in quantitative Einheiten so zerlegen, dass man überhaupt von einem Maximum sprechen kann? Ist dies begrifflich sinnvoll? Abstrakte Arbeit hingegen hat immerhin ihr Maß in Zeit und Intensität (wobei sich letztere auch wieder in Zeit auflöst). Was ist das Maß des Nutzens? Das Geld? Und was ist der Wert des Geldes? Wenn man dem nachspürt, verrennt man sich in lauter Zirkelschlüsse. Es gibt ein paar Bücher neuerer Zeit, die sich mit verschiedenen Fehlern der Nutzenwertlehre befassen1, auch Marx selbst polemisiert stellenweise in verschiedenen Publikationen dagegen und ein paar Argumente kann man sich aus der Lektüre des Kapitals ja auch selbst erschließen. Ein anderes Beispiel für den fehlerhaften Einsatz von Mathematik sehen wir in Teil 4 im Exkurs zur Berechnung der Rate des Mehrwerts, die man eben auch falsch berechnen kann.
Hohe Mathematik braucht man bei Marx nicht zu erwarten.2 Zur Beruhigung zukünftiger Leser seines Werks, muss dies vielleicht erwähnt werden. Ein einfacher Umgang mit Bruchzahlen und Dreisätzen genügt, um seine Rechenbeispiele nachvollziehen zu können (wenn man dies denn überhaupt möchte und einem die Theorie auch ohne Beispiele einleuchtet). Komplizierter wird es kaum. Aber das Fehlen von Mathe ist kein Mangel seiner Theorie, kein Ausdruck von Unwissenschaftlichkeit. Der Mangel an Mathematik im Kapital hat jedenfalls nicht dazu geführt, dass es an Mathematikern unter den Marxisten übermäßig mangele, weil es ihnen bei Marx zu unwissenschaftlich zuginge. Ganz im Gegenteil, marxistische Mathematiker finden gerade in Marxens Kapital die deduktive Darstellungsweise wieder, die sie aus ihrer eigenen Disziplin nur all zu gut kennen und zu schätzen wissen.
Eine Arbeitswertlehre, jedenfalls in der Version von Marx, nennt man eine "objektive Wertlehre". Das ist ein feststehender Begriff und meint nicht so sehr den Anspruch auf Objektivität, den ohnehin jede Wissenschaft verfolgen sollte, sonst ist sie keine, sondern dass der Wert eines Dinges objektiv durch äußere Faktoren festgelegt ist und nicht vom individuellen, subjektiven Willen der beteiligten Tauschpartner abhängt. Dementsprechend bezeichnet man die Wertlehre der VWL als "subjektiv". Es ist nicht bloß Pedanterie, sondern macht schon einen großen Unterschied, welche Wertlehre die korrekte ist.
Folgt man der marxschen, so mündet dies letztlich in einem vernichtenden Urteil über diese Gesellschaft, nämlich dass sie eine unreformierbare Ausbeutungsgesellschaft ist, die notwendig Elend produziert. In diesem Sinne kann den Kapitalismus beim besten Willen nicht so abändern, dass die Ausbeutung zum Verschwinden gebracht werden könnte. Mehr noch: Dadurch dass die Warenwerte objektiv feststehen, sie also nicht durch uns kontrolliert werden, sind wir ihren Bewegungen und den Turbulenzen, die sie auf dem Markt und insofern auch in unserem Leben erzeugen, hilflos ausgeliefert. Sie sind es letztlich, die entscheiden, ob und wie etwas produziert wird oder nicht produziert nicht. Es gab z.B. in der Gestalt der Sowjetunion durchaus Versuche, die Werte der Produkte staatlich zu kontrollieren oder besser gesagt zu diktieren, aber damit handelt man sich eben neue Widersprüche ein. Eine Planwirtschaft war das jedenfalls nicht, eher könnte man sie als eine politisch zentral gesteuerte Hebel- und Anreizwirtschaft bezeichnen, was etwas deutlich anderes ist.3 Nein, man muss schon die ganze Geschichte mit dem Wert komplett aufgeben, wenn man sich von seiner Gewalt befreien will. Dies war überhaupt einer der wichtigsten Kritikpunkte von Marx und Engels, dass wir, obwohl wir doch die technische Seite unserer Produktion durchaus beherrschen, vollkommen machtlos sind gegen die bewusstlosen Bewegungen des Kapitals und ihren katastrophalen Auswirkungen (z.B. Massenentlassungen).
Folgt man hingegen der VWL, ist die Sache nicht ganz so trostlos, da der marxsche Ausbeutungsbegriff innerhalb ihres Systems überhaupt nicht entwickelt werden kann. Ganz im Gegenteil wird in ihrem System nach Möglichkeit immerzu nur der Nutzen der beteiligten Akteure maximiert. Und eine Gesellschaft, in der alle Mitglieder ständig ihren Nutzen maximieren, ist doch wohl überhaupt die beste aller möglichen Welten. Mit der rosa Brille der VWL sieht sie jedenfalls so aus.
Jetzt stehen wir also zwischen diesen beiden Lagern und müssen uns entscheiden. Was nun? Das ist aber keine Glaubensfrage. Meint man es ehrlich mit ihr, dann müsste man die jeweiligen Argumentationen studieren und nach bestem wissenschaftlichem Gewissen gegeneinander halten - nur das ist intellektuell redlich. Der Trick ist nämlich nicht die bloße Behauptung, die ja auf beiden Seiten leicht zu haben ist, sondern die Güte der jeweils angebotenen Beweisführung. Man beachte jedoch, dass egal, was man überzeugender findet und wie man sich entscheidet, es die Argumente aus Teil 1 nicht tangiert. Deswegen wurden sie auch voran gestellt, obwohl Argumente, die mit dem Mehrwertbegriff argumentieren, in der marxschen Reihenfolge der Theorieentfaltung erst nach 120 Seiten kommen .
Was spricht denn nun also für den Kapitalismus? Ja, es stimmt, er schafft so ziemlich den alleinigen Reichtum der Gesellschaft, aber erstens auch nur deshalb, weil neben ihm bis auf ein bisschen Subsistenzwirtschaft auf der eigenen Datsche keine andere Reichtumsproduktion zulässig ist. Es gibt keine planwirtschaftlichen Parallelstrukturen im großindustriellen Maßstab, die den Reichtum auf alternative Art nach anderen Einsetzungskriterien von Arbeit und Natur als die bloße Gewinnrechnung schaffen könnten. Und zweitens schafft er diesen Reichtum mit, aber nicht in den Händen derjenigen die ihn produzieren, nicht in ihrem Besitz. Es ist also die Gesellschaft der Lohnabhängigen, die den Reichtum schafft für die Gesellschaft der Reichen, die sowieso schon alles haben, was sie brauchen. Aber vielleicht haben die Arbeiter ja trotzdem bei der kapitalistischen Produktionsweise etwas zu gewinnen. Schauen wir weiter in den Teile 3-5.