"Das Wichtige des Tages" ohne den Globalen Süden?
Seite 3: Verantwortung der Medien
Das Interesse an Themen aus geografisch oder kulturell näherstehenden Gebieten ist menschlich und bis zu einem gewissen Grad verständlich. Die Dominanz der Themen des Globalen Nordens ist aber erschütternd erdrückend.
In der Schweizer Tagesschau wurden dem tödlichsten Konflikt unserer Zeit, dem Bürgerkrieg in Tigray, wie erwähnt im gesamten Jahr lediglich 150 Sekunden gewidmet und der "weltweit schlimmste humanitäre Konflikt" im Jemen sogar gar nicht behandelt.
Demgegenüber berichtete die wichtigste Schweizer Nachrichtensendung z.B. 180 Sekunden lang über die Ohrfeige, die Will Smith auf der Oscarverleihung Chris Rock gab (anschließend folgte ein 145 Sekunden-Beitrag über die Oscar-Ergebnisse).
In ihrem in sieben Blöcken gesendeten, insgesamt etwa einstündigen Jahresrückblick nahm sich die Tagesschau dann wieder 65 Sekunden Zeit, um an den Vorfall zwischen den beiden US-Schauspielern zu erinnern, während für die Erinnerung an den Globalen Hunger (allerdings nur in Form des Ukraine-Getreides), 15 Sekunden aufgebracht wurde.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen bezeichnet Hunger als "das größte lösbare Problem der Welt", das Thema gehört aber zu den in deutschsprachigen Medien konsequent und am stärksten vernachlässigten.
Die Lage in den vom Hunger betroffenen Gebieten selbst wurde im Jahresrückblick gar nicht thematisiert, ebenso weder der Krieg in Tigray noch im Jemen (Abb. 6).
Das Desinteresse an den beiden Bürgerkriegsländern zeigt sich auch in der Statistik von SRF News Spezial: Zur Corona-Pandemie wurden im Jahr 2022 zwölf Sondersendungen ausgestrahlt, zum Ukraine-Krieg elf, zu den Kriegen in Tigray und im Jemen dagegen keine.
Wenn sich die Schweizer Tagesschau für den gesamten Globalen Süden ohne die MENA (Middle East North Africa)-Region etwa nur so viel Sendezeit nimmt wie für ihre Sportbeiträge und wenn nur ein Bruchteil dieser Zeit für ein so drängendes Problem wie den Globalen Hunger aufgebracht wird, dann ist die Ausgewogenheit der Berichterstattung in Gefahr, es droht eine mediale Blindheit für Themen des Globalen Südens.
Medien fällt eine große Verantwortung zu. Sie tragen in hohem Maße dazu bei, welcher soziopolitische Wissens- und Bewusstseinshorizont sich bei ihren Rezipientinnen und Rezipienten herausbildet.
Medien sind nicht nur diskursdeskribierend, sondern sie sind auch diskurskonstituierend. Sie beschreiben nicht nur, worüber diskutiert und nachgedacht wird, sondern bestimmen dies mit und haben damit auch entscheidenden Einfluss darauf, welche Themen politisch behandelt und möglicherweise auch gelöst werden können.
Umso elementar wichtiger ist es, dass der Wert von Nachrichtengeschehen nach ihren menschlichen Dimensionen und nicht nach ihrem geografischen Standort beurteilt wird.
Eine Langfassung der vorliegenden Untersuchung kann hier eingesehen und heruntergeladen werden.
Eine Videozusammenfassung der Analyse kann hier angesehen werden.
Die dieser Untersuchung vorausgehende Ausgangsstudie "Vergessene Welten und blinde Flecken", in der unter anderem über 5.000 Ausgaben der deutschen Tagesschau ausgewertet wurden, sowie verschiedene Ergänzungsanalysen zu deutschsprachigen Medien, können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter www.ivr-heidelberg.de
Auf der Seite finden sich auch Videozusammenfassungen, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Wanderausstellung