Das dynamische Lokale

Seite 2: V.2 Das Gefühl der Entwertung

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Zu verlangen, dass Menschen, die vielfach mit Überleben in prekären Beschäftigungsverhältnissen ausgelastet sind und die sich im Alltag ggf. selbst als ausgegrenzt empfinden, die geschilderte Perspektive einnehmen oder gar teilen, ist unrealistisch. Es ist ein Luxus der "neuen akademischen Mittelklasse" (Andreas Reckwitz)16, sich über langfristige Grenzüberschreitung und so etwas wie eine positive Globalisierung Gedanken zu machen. Dass dabei die Verbindung verloren geht zu Menschen, die Reckwitz der "alten Mittelschicht" und der "Unterklasse" zuordnet, und die in Alltagswahrnehmungen Fremdheit als echte Bedrohung des eigenen Daseins empfinden, ist eine Gefahr für eine integrative Gesellschaft (egal, ob die Wahrnehmung von Bedrohung objektiv gerechtfertigt ist oder nicht - das Vorhandensein solcher Wahrnehmung muss man erstmal akzeptieren). Reckwitz hat diese Schere prägnant zusammengefasst17:

Die neue Mittelklasse […] entfaltet eine kulturorientierte kuratierte Lebensführung, in der sie in allen Bereichen - von der Gesundheit bis zum Kosmopolitismus, von der Bildung und Erziehung bis zum Wohnumfeld - am hohen (ethischen und ästhetischen) Wert arbeitet und als Trägerin eines wertvollen "guten Lebens" erscheint. Demgegenüber erfährt die neue Unterklasse eine Entwertung ihrer Arbeit, die mit einer Entwertung ihres gesamten Lebensstils einhergeht. Im Ergebnis scheint ein beträchtliches Segment der Gesellschaft von Fortschrittshoffnungen abgekoppelt.

Der zentrale Punkt hier ist die "Entwertung ihrer Arbeit" und die "Entwertung ihres gesamten Lebensstils" der "Unterklasse" bzw. entsprechend Abstiegsängste der 'alten' bürgerlichen Mittelschicht. Lange gültige Werte wie wirtschaftlicher Wohlstand und Anerkennung der eigenen Leistung haben sich in der neuen Mittelklasse mit dem aus der Romantik übernommenen Ziel individueller Selbstverwirklichung vereint18. Dadurch erhalten akademische Bildung und internationale Orientierung einen größeren Stellenwert für Anerkennung als bloßer wirtschaftlicher Erfolg, das Festhalten an überkommenen kulturellen Formationen oder an traditionellen Werten. So kann es zur paradoxen Situation kommen, dass ein zwar prekär beschäftigter, aber global orientierter Akademiker mehr Anerkennung erfährt als ein an traditionellen bürgerlichen Werten orientierter 'ehrlicher Arbeiter', der vielleicht wirtschaftlich wohlhabend ist, dem aber das Gefühl vermittelt wird, dass seine Leistungen, Ideale, Werte und Ansichten nicht mehr zeitgemäß sind.

Der (in dieser Essay-Reihe immer wieder angesprochene) stark kritische Umgang mit Massenmedien ist ein Reflex dieser Entwertung. Fast schon ein Klischee ist hier das Beispiel von US-Amerikanern, die sich nur auf Fox News informieren. Was dahinter steckt, zeigt die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild in ihrer qualitativen Studie "Fremd in ihrem Land" (2017).19 In einer Mischung aus teilnehmender Beobachtung und Interviews20 schloss sich Hochschild für mehrere Monate dem Leben von Tea-Party-Mitgliedern im US-Bundesstaat Louisiana an, um deren Sorgen, Ängste und Anliegen zu verstehen. Auch im Kontext des US-Wahlkampfes Trump gegen Clinton wollte die Autorin begreifen, warum sich die liberale Mittelschicht an Ost- und Westküste (zu der sich Hochschild selbst zählt) und die Menschen in republikanisch dominierten Bundesstaaten so sehr voneinander entfremdet haben, und das, obwohl insbesondere diese Staaten besonders von der Unterstützung durch Bundesmittel profitierten. Hochschild spricht hier vom "Großen Paradox"21. Sie meint damit die Tatsache, dass republikanisch dominierte Bundesstaaten hinsichtlich Wohlstand, Gesundheitszustand, Lebenserwartung, Schulbildung, Hochschulabschlüssen und industrieller Umweltverschmutzung im Vergleich zu nicht-republikanischen Staaten schlechter dastünden22, weshalb die republikanischen Staaten in hohem Maße durch Bundesmittel gestützt würden23, dass aber gerade dort diese Unterstützung als Einmischung abgelehnt werde.24 Hochschild macht deutlich, dass die Gründe für die Ablehnung staatlicher Unterstützung das damit einhergehende Gefühl der Entwertung der eigenen Leistung und der Bevormundung ist.

Hierzu berichtet Hochschild von einem Gespräch mit einer Tea-Party-Anhängerin ("eine belesene Frau"25) über deren Mediennutzung. Die Frau informierte sich vorwiegend über Fox News, schaute aber von Zeit zu Zeit auch ins Feuilleton der New York Times oder zappte bei CNN rein. "Ich schalte den Sender wegen der Nachrichten ein und bekomme Meinungen", so die Frau.26 Das ist eine Aussage, die sich so auch immer wieder in den Online-Kommentarspalten von Tagesschau, ZEIT oder SPIEGEL findet. Es wird nach objektiven Fakten verlangt, die unkommentiert in den Raum gestellt werden; die für das journalistische Gatekeeper-Paradigma typische Auswahl und die Einordnung in einen größeren Kontext werden abgelehnt, und es wird übersehen, dass selbstverständlich auch alternative Medien eine Auswahl und Einordnung vornehmen bzw. selbst als Gatekeeper fungieren (vgl. Teil 3 dieser Essay-Reihe).

Die von Hochschild interviewte Frau begründet ihre kritische Sicht auf liberale Medien mit einem Beispiel27:

Nehmen Sie nur [die Reporterin] Christiane Amanpour. Sie kniet neben einem kranken afrikanischen Kind […] und ihre Stimme sagt: 'Da stimmt etwas nicht. Das müssen wir in Ordnung bringen' […] Sie benutzt dieses Kind, um zu sagen: 'Tu was, Amerika.' Aber die Probleme dieses Kindes sind nicht unsere Schuld.

Hochschild fasst zusammen: "Die Frau wollte sich nicht sagen lassen, dass sie für das Schicksal des Kindes Mitgefühl empfinden […] sollte. Amanpour überschritt ihre Kompetenzen als Kommentatorin, indem sie unterstellte, was man zu empfinden habe."28 Es wäre nun ein Weg, einfach die Wahrnehmung der Frau (sozusagen stellvertretend für ähnliche Ansichten) als verzerrt oder falsch darzustellen. Und in der Tat bietet Hochschild im Anhang einen "Faktencheck zu gängigen Ansichten"29 an. Doch zunächst schlägt sie einen anderen Pfad ein. Um ihr Verständnis und das ihrer Leser zu schärfen, entwickelt sie im Verlauf ihrer Studie eine 'Wartenschlangen'-Metapher als Kern einer "Tiefengeschichte"30. Diese Geschichte ist zwar (wenig überraschend) US-zentriert, aber in wesentlichen Punkten doch geeignet, ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern zu verstehen; auch die (im Vergleich eher nüchternen) Betrachtungen in Reckwitz' Arbeit werden so lebendiger.