Das dynamische Lokale

Seite 3: V.3 In der Warteschlange

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Hochschild zeigt in ihrer Studie, wie konservative Tea-Party-Anhänger zu ihrem Weltbild gekommen sind und macht dieses Weltbild nachempfindbar. In einem bemerkenswerten Kapitel hält sie der - sicherlich ebenfalls v.a. liberalen Leserschaft - einen ungewohnten Spiegel vor. In "Du"-Ansprachen versetzt sie die Leserinnen und Leser in die Rolle eines 'ehrlichen Arbeiters', der sich sein Leben lang gemüht hat und nun miterleben muss, wie andere Menschen, Tiere, die Umwelt, usw. bevorzugt werden31:

Schwarze, Frauen, Einwanderer, Braunpelikane - alle haben sich in der Schlange vorgedrängt. Dabei haben gerade Leute wie du dieses Land erst groß gemacht. Du hast ein mulmiges Gefühl. Es muss einfach mal gesagt werden: Die Vordrängler ärgern dich. Sie verstoßen gegen die Fairness-Regeln. […] Du bist ein mitfühlender Mensch. Aber jetzt verlangt man von dir, Mitleid für all diejenigen aufzubringen, die sich vorgedrängt haben. […] Du hast selbst genug durchgemacht, aber du beklagst dich nicht.

Hochschild hat diese Schilderungen nicht willkürlich geschrieben, sondern sie beruhen auf zahlreichen Interviews, die sie mit Tea-Party-Anhängern geführt hat. Dieselben Gesprächspartner haben ihr bestätigt, sich in der Tiefengeschichte recht genau wiederzufinden. Als nicht-amerikanischem Leser erscheint es mir wahrscheinlich, dass viele Teile dieser Tiefengeschichte auch geeignet sind, die Situation vieler Menschen in Deutschland zu beschreiben, die sich 'abgehängt' fühlen, d.h. diejenigen, die Andreas Reckwitz zur "alten Mittelschicht" und zur "Unterklasse" zählt.

Bild: Mikki Inkeroinen / CC-BY-SA-2.5

Zentrale Metapher in der Tiefengeschichte ist die Warteschlange vor einem Berg, an der man zuerst geduldig ansteht, bis man die Vordrängler bemerkt, die den Gipfel schneller erreichen. Diese Metapher beruht stark auf US-amerikanischen Vorstellungen des Vorankommens im Leben, traditioneller Fairness und Gleichberechtigung und einer Zurückhaltung des Staates, wenn es um die Unterstützung Benachteiligter geht. Immer wieder nutzt Hochschild Begriffe, die ein Feststecken und Zurückfallen in der Schlange beschreiben32:

mitten in dieser Schlange […] [d]er Blick zurück ist beängstigend, hinter dir kommen so viele […] Stillstand […] ewig in der Schlange warten […] rührt sich nicht vom Fleck […] rückwärts […] das Gefühl, festzustecken

In phänomenologischen Kategorien (vgl. Teil 4 dieser Essay-Reihe) kann diese Position zwischen unklarer Aufstiegshoffnung und drängender Abstiegsangst als engend bezeichnet werden. Der Blick geht nach vorn, doch das befreiende (weitende) Ziel (in der Metapher der Berggipfel) ist nicht erreichbar: "Du siehst, wie Leute sich vordrängen! Du hältst dich an die Regeln, sie nicht. Ihr Vordrängen fühlt sich an, als würdest du zurückgedrängt."33 Das frustriert: "Um dich gewürdigt zu fühlen, musst du das Gefühl haben, voranzukommen - und auch so gesehen zu werden […] Du möchtest gegen diese Abwärtskräfte angehen".34 Als Arlie Hochschild diese Geschichte ihren Tea-Party-Bekannten vorlegte, kommentierte eine von ihnen: "Nach einer Weile haben die Leute, die gewartet haben, genug und stellen sich in ihre eigene Schlange."35

Der Reiz von Arlie Hochschilds Warteschlangen-Metapher besteht darin, dass sie auf eindringliche Weise Verständnis für die Perspektive der Tea-Party-Anhänger vermittelt bzw. auch für verwandte politische Positionen außerhalb der USA. Dass die Ursachen für das Erstarken neuer Nationalismen in Europa ähnliche sind wie in Hochschilds Studie, zeigt Johannes Hilljes Forschungsbericht "Rückkehr zu den politisch Verlassenen".36 Hochschilds und Hilljes Arbeiten erlauben beide einen Perspektivwechsel. Sie zeigen, dass grundsätzliche Abneigung gegenüber dem Fremden oft nicht die Ursache für das Engagement in rechten Bewegungen oder das Wählen rechter Parteien ist, sondern das Gefühl des Abgehängt-seins37:

[D]ie Mehrheit der Gesprächspartner [nimmt] keine intrinsisch rassistische Strukturierung der Migrationsthematik [vor] […] aber [folgt] vorrangig einer vergleichenden Abwertungslogik: Weil sich gefühlt um die Fremden mehr gekümmert wird, fühlt man sich selbst abgewertet und wertet in der Folge die Fremden ab.

Genau dasselbe Muster hat Hochschild für die USA ermittelt. Ob Tea-Party-Anhänger in Louisiana oder AfD-Wähler in Gelsenkirchen-Ost, entscheidend ist, sich alleingelassen, mitunter gar gefangen zu fühlen. Hillje zitiert eine Befragte: "Die Busverbindungen sind sehr schlecht […] der Postkasten ist abmontiert worden […] im Winter wird nicht die Straße geräumt". 38 Die Entwertung des Lebens, die Reckwitz beschrieben hat, zeigt sich auch in solcher Form. Dabei hat mancher den Eindruck, dass andere Menschen bevorzugt werden: "Die Migranten werden bevorzugt - vor allem bei Wohnungen und Sozialleistungen". 39 So sieht man sich selbst in einer festgefahrenen Situation, in der nichts mehr geschieht: "es gibt vorgetäuschte Aktivitäten, die keine Verbesserungen schaffen".40 Anstatt dem gefühlten Stillstand durch verstärkte Dynamik zu begegnen, scheint Abgrenzung und damit Verfestigung des Konkurrenzgedankens eine naheliegendere Lösung zu sein.