Das lustlose Ende der sexuellen Revolution

Seite 3: Schmerzfreie Lust

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In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche ist freie Liebe die ekstatische Praxis, die den neuen Menschen dem Glück näher bringt. Das war in der Studentenbewegung nicht anders als in der Französischen oder russischen Revolution. Aber was dann schneller als erwartet kommt, fasst Neil Postman zusammen: "In '1984' (...) werden die Menschen kontrolliert, indem man ihnen Schaden zufügt. In 'Schöne neue Welt' werden sie dadurch kontrolliert, dass man ihnen Vergnügen zufügt." Das Vergnügen ist die wirksamere, demokratische Art der Kontrolle. Die Kulturindustrie hat sich des Spaßerlebens bemächtigt und teilt den Sex als konfektionelle Spielmarke an das Publikum aus. Der Körper ist zum Gesellschaftsspiel im Identitätsdesign geworden.

An die Stelle des "Du darfst" ist ein "Du sollst" getreten. Die Veröffentlichung des Sex' stellt neue Zwänge her, und der Druck zur sexuellen Betätigung stellt die neue Öffentlichkeit her. Kinsey ist daran nicht unschuldig. Die Enthüllung der Werte des Total Sexual Outlets ist eine Verdinglichung des Geschlechtslebens und stillschweigend auch der Erotik. Die Zahlenwerte werden als Fakten gehandelt und wirken als Zielvorgabe, als Leistungsdruck auf das Publikum zurück. Die Margen werden ständig erhöht. Wie beim Leistungssport gehört dazu die Selbstverpflichtung des Ausübenden. Das ist die "unerbittliche Mechanik des Beischlafs".

Lakshana-Tempel im Tempelbezirk von Khajuraho, Madhya Pradesh, Indien. Bild: Aotearoa / CC-BY-SA-3.0

Die Optimierung und Maximierung der Sexualität erweitert ständig unsere Bedürfnisse und lässt sie zugleich hinter das Ziel zurückfallen. Klage einer Patientin: "Ich möchte geiler sein".2 Die "Müdigkeitsgesellschaft" ist die Quittung für Hochleistung, für den permanenten Erregungsmodus. Bedürfnisbefriedigung ist allzu schnell zur Hand, vorfabriziert und vorgeschmeckt. Die Folgen dieser Inflationierung hat der Philosoph Günter Anders vorausgesehen: "Wir werden nicht um das tägliche Brot beten, sondern um den täglichen Hunger."

Die Lustlosigkeit, das "Inhibited sexual desire", wird mit dem Angebot der Schmerzlosigkeit aufgewogen. Der Körper wird anästhesiert. Dabei geht es nicht um die ganz konkrete reizvolle Erfahrung, dass die Wahrnehmung der Sinne beim Orgasmus verschoben ist. Vielmehr wird der Körper insgesamt zu einem Abwesenden. Anders ausgedrückt teilt sich der Körper durch Virtualisierung in zwei auf. Wir können in einem anderen Körper wohnen. Sex ist ohne körperliche Begegnung möglich. Im Cyber-Raum taucht die Frage nach dem Geschlecht und dessen Austauschbarkeit wieder auf.

Zwei Jahrtausende lang waren Schmerz und Lust komplementär. Die Figur von Jesus, dem Schmerzensmann, war hochgradig mit sexueller Symbolik aufgeladen. Durch die Aufkündigung des Schmerzes hat das virtuelle Zeitalter tatsächlich eine Revolution eingeleitet. Oder ist alles nur ein Spiel, das mit dem Abschalten des Geräts beendet ist?

Beruhigend ist die Erkenntnis des Sexualforschers Kurt Starke, dass die sexuellen Gewohnheiten den gesellschaftlichen Veränderungen gemütlich hinterher zuckeln. Er fand heraus, dass das Verhalten der Ostdeutschen, zumindest der 1989 schon erwachsenen, sich nach der Wende nicht grundlegend gewandelt hat. Gleichwohl war das Sexualverhalten breit gestreut. So berichtet Starke, dass 8% der Männer und 14% der Frauen der DDR, befragt 1990, Erfahrungen mit Analverkehr hatten. Die Werte liegen unter denen westlicher Studien, aber eine genaue Vergleichbarkeit verfängt sich im Dschungel der Zahlen-Kabbalistik.

Alle Studien müssen sich jedoch an Kinseys gigantischem Report messen lassen. Er ist wie ein Buchhalter an das Sexualverhalten herangegangen, objektiv und leidenschaftslos. Die Bücher fanden reißenden Absatz. Das war sein Geschick: Sensationen darzustellen, als wären es keine.