Das unfreie Subjekt ist ein Konstrukt des Hirnforschers

Seite 2: Neulich im Kernspintomographen

Ich will zum Schluss kommen. Konrad Lehmann verweist noch auf eine andere Studie, der zufolge die bewusste Entscheidung von Versuchspersonen bereits Sekunden vorher durch unbewusste Gehirnaktivierung festgelegt sein soll. Es handelt sich um die vielzitierte Arbeit von (unter anderem) Chun Siong Soon und Deutschlands "Chef-Gedankenleser" John-Dylan Haynes in Nature Neuroscience. Die haben eine Variante des Libet-Experiments (leider ohne die entscheidende Veto-Bedingung) im Kernspintomographen (fMRT) wiederholt.

Lassen wir einmal die ohnehin nicht gerade atemberaubende Vorhersagewahrscheinlichkeit außen vor. Der wichtigste Aspekt ist, dass diese Versuchspersonen keine bedeutenden Entscheidungen treffen, sondern eher einen Zufallsgenerator simulieren sollten. Wer beispielsweise strategisch vorausplante oder nicht zufällig genug auf die Knöpfe drückte, wurde schlicht von der Auswertung ausgeschlossen. Auch bei Libet ging es nie um bedeutende Willensentschlüsse, sondern um den spontanen Drang einer Bewegung.

Das heißt, der Hirnforscher konstruiert sich sein Subjekt, seine Versuchsperson, indem er erst einmal alles verbietet, was bedeutende Entscheidungen ausmacht. Die wesentliche Reduktion (im Sinne von Vereinfachung, Beschränkung) findet schon vor der ersten Messung statt. Das hinterher zu vergessen und dennoch von der großen Willensfreiheit zu sprechen, die man nun widerlegt habe, ist irgendetwas zwischen Fahrlässigkeit und Hochstapelei.

Neurokosmologie

Ein interessantes Beispiel ist die Neurokosmologie von besagtem John Haynes, Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging. 2011 berichtete er noch über seine Studie in der Tradition des Libet-Experiments wie von einem Erleuchtungserlebnis:

Auf einmal hatte ich diese große Vision über das ganze deterministische Universum, von mir selbst, von meinem Platz in ihm und all diesen unterschiedlichen Momenten, wo wir glauben, Entscheidungen zu treffen, die bloß irgendeinen Kausalfluss reflektieren.

John Haynes (Übersetzung, St. S.)

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Das Wissenschaftsmagazin Nature inszenierte das als großen Schlagabtausch zwischen Philosophie und Hirnforschung.

Einige Jahre später ließ Haynes - jetzt mit (unter anderem) Matthias Schultze-Kraft - Menschen über eine Gehirn-Computer-Schnittstelle (via EEG) gegen den Computer antreten. Versuchspersonen sollten die Vorhersage ihres Verhaltens überlisten, Libets "Veto" lässt grüßen. Und siehe da, auch wenn es hier immer noch nicht um Willensentschlüsse ging: Das Mensch-Maschine-Duell endet unentschieden!

PR-Arbeit

Was an sich interessante Forschung ist, wird nun gleich in der Pressemitteilung von Haynes' Institut (hier: der Berliner Charité) zur bahnbrechenden Erkenntnis hochgejazzt: "Unser Wille ist freier als bislang angenommen." Und der Studienleiter selbst erklärt: "Die Probanden sind den frühen Hirnwellen nicht unkontrollierbar unterworfen. […] Dies bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist, als bisher gedacht."

Brisant: In der Originalarbeit klammern die Forscher die Willensfreiheitsproblematik explizit aus. Und in Haynes' gerade erschienenem Buch "Fenster ins Gehirn: Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann" (zusammen mit dem Wissenschaftsjournalisten Matthias Eckoldt) klagen die Autoren, es seien immer diese Journalisten, die alles übertreiben, damit ihre Artikel nur oft genug angeklickt werden. Nein, es sind durchaus die Aussagen von Forschern wie Haynes und der PR-Abteilungen ihrer Institute. Das hat auch die Kommunikationsforschung gut belegt.

Ein Forschungsgebiet, das alle paar Jahre ein neues Menschen- und Weltbild predigt, diskreditiert sich selbst. Schade, dass solche Versuche, immer wieder in die Medien zu kommen, so die wirklich interessanten wissenschaftlichen Ergebnisse (durchaus auch von Haynes selbst) verdrängen. Doch rein PR-technisch ist das natürlich gut gemacht: Erst erklärt man das traditionelle Bild als wissenschaftlich widerlegt; und wenn sich das herumgesprochen und seinen Neuheitswert verloren hat, widerlegt man die Widerlegung.

So schwimmt man immer auf der Welle der Aufmerksamkeit. Korrekt müsste man einräumen: Weder in den alten, noch in den neuen Experimenten ging es um Willensentschlüsse. Und sowohl in den alten wie in den neuen Experimenten steuerten die Versuchspersonen ihr Verhalten bewusst. Dazu passen auch die Muster der gefundenen Hirnaktivierungen.

Das hört sich natürlich weniger reißerisch an: "Versuchspersonen drücken unter bewusster Kontrolle Knöpfe im Hirnscanner." Damit schafft man es wahrscheinlich nicht in Zeitschriften wie Nature, wo alle hippen Wissenschaftler publizieren wollen. (Oder müssen, weil sie im Hyperwettbewerb um eine der wenigen Professuren konkurrieren.)