Das virtuelle Reich des Bösen oder: Wer hat Angst vor dem Cyberspace?

Anfang Mai in Deutschland - SPIEGEL, Focus, SZ

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Das Internet ist nicht nur eine neue Welt, an der viele noch nicht teilhaben und von der sie nur wenig wissen, es ist auch, wie die Massenmedien immer wieder gerne berichten, ein gefährliches Land und ein wenig ein El Dorado. Nichts also für Hausfrauen, Familienväter, ordentliche Bürger und Kinder, die man tunlichst schützen muß. Sie verirren sich - ohne die starke Hand des Staates und gelenkt durch die Massenmedien - in den dunklen Labyrinthen der Netzwelt, geraten in Fallen oder werden zum Opfer übler Subjekte, die, wie einst im Wilden Westen, freie Hand haben, weil die Staatsmacht kaum präsent ist und sich selbst nicht vor den dreisten Überfällen schützen kann.

Der SPIEGEL veröffentlichte, neben einem Artikel über die Vergabe von Domain-Namen und über einen Virus, der alle Dateien auf der Festplatte löschen kann, eine große Geschichte über den Angriff auf das Pentagon mittels der Computernetze (Nr. 19/5.5.1997). Leider kein neuer Robin Hood, aber immerhin ein neugieriger 16jähriger Brite namens Richard Pryce, der sich treffenderweise "Datastream Cowboy" nannte, hatte sich Zugang zu den Rechnern der größten militärischen Macht verschafft. Im Cyberspace ist alles möglich, die Jugend gefährlich und der Staat mit seinem Geheimnissen, riesigen Organisationen, besten Maschinen und Spezialisten ungeschützt: "Der Ausgang des Spiels zwischen Richard und dem Pentagon war von Anfang an klar. Das Pentagon hatte keine Chance." Man erwischt den einen - nach einer breit ausgeführten abenteuerlichen Jagd im neuen virtuellen Dschungel -, doch dahinter kommen Scharen von verspielten, aber auch gemeinen Hackern nach. Allein 1995 habe es über 250000 Hackerangriffe auf die vernetzten Computer des Pentagon, dem digitalen Heiligen Gral, gegeben. 65 Prozent der Angriffe seien erfolgreich. Der Autor der Jägerstory enthält sich geschickt der Bewertung, ob das Offenstehen der Machtzentren gut oder schlecht sei - wahrscheinlich eine Folge der journalistischen Neutralität -, aber die Moral von der Geschichte wird doch die sein, daß dann, wenn selbst neugierige Jungen leicht Zugang zu gut bewachten digitalen Burgen haben, der Tatbestand einer nationalen Gefahr gegeben sei. Es besteht mithin akuter Handlungsbedarf. Jeder könnte eindringen, die Daten manipulieren und Geheimnisse aufdecken. Selbst die kleinen unschuldigen Kinder werden zur Bedrohung, verführt durch die Lockungen der Netze.

Die Mythenbildung ist im vollen Gang. Es ist, als ob die "alten" Medien mit Schlagzeilen auf der ersten Seite oder mit Titelstories einen Abwehrkampf gegen das neue Medium führen, das sie noch nicht ganz im Griff haben, während die Konsumenten der Nachrichten zwar fasziniert vom Neuen sind, aber gleichzeitig begierig nach der Verkörperung eines neuen Reichs des Bösen zu verlangen scheinen, das mit dem Ende des Kalten Krieges abhanden gekommen ist, während es auf der Erde kein wirkliches exotisches Gebiet mehr gibt, aus dem noch Erzählungen über verwegene Abenteurer, große Skandale, tiefe Geheimnisse und böse Mächte dringen. Der Weltraum mit den UFOs ist auf Dauer zu unbefriedigend, die Greuel auf den Kriegsschauplätzen der Erde vielleicht zu real, Utopien im globalen Kampf der Standorte und Wettstreit der Individuen nicht vorhanden. Der Cyberspace kommt also gelegen, und der Auftrag lautet: Wo jetzt der Wilde Westen ist, müssen geordnete Verhältnisse einziehen, muß der Staat mächtig und das Eigentum geschützt werden. Wenn Sicherheit und Ordnung eingekehrt sind, kann man vielleicht dann auch einmal an die Zivilisierung oder Demokratisierung denken - aber das ist schon weniger interessant.

Immer wieder geistern seit geraumer Zeit Meldungen über die Sexhölle durch die sittsamen Printmedien und Fernsehprogramme. Jede noch so vage Meldung wird aufgebauscht und irgendwie mit der neuen Technik in Zusammenhang gebracht, die offensichtlich erst die ansonsten schlummernden schlimmen Triebe der Menschen weckt. Harte Pornographie wird erst im soften Medium zum Skandal - und unermüdliche und selbsternannte Sittenapostel sind eifrig an der Arbeit, um wieder Anstößiges zu entdecken. Das ist manchmal gar nicht so leicht und nimmt gelegentlich groteske Züge an. Vielleicht stößt man gerade durch das Internet auf die Bilder einfacher, die ja immer noch in der Wirklichkeit gemacht und nur übers Internet verbreitet werden. So überschrieb die Süddeutsche Zeitung am 3./4. Mai einen Artikel mit Kinderpornographie im Internet, der zum Inhalt hat, daß in Bayern "erneut ein Fall von Kindersex im Internet aufgeflogen" sei - in Rosenheim, vor kurzem erst in die Öffentlichkeit durch ein Paar geraten, das angeblich - laut einem selbsternannten bayerischen Sittenwächter - Kinder, so die SZ, "für sadistische Sexpraktiken angeboten und Kunden gegen Aufpreis sogar ihre Tötung in Aussicht gestellt hatte." Kindersex kann man im Internet noch nicht treiben oder höchstens virtuell, wohl aber hier wie auf anderen Kanälen an entsprechende Bilder herankommen.

Kinderpornographie ist furchtbar. Über 2000 Bilder von Kindern hatte der Student von Rosenheim sich aus dem Internet heruntergeladen. Aber er hatte offensichtlich auch entsprechende Videokassetten. Als Bestandteil alter Medien und Vertriebskanäle wären diese vermutlich weder einen Artikel noch eine Überschrift in einer überregionalen Zeitung wert, wohl aber die "komplette Computeranlage mit verdächtigem Inhalt", der eben aus dem Internet stammt. Alles Böse scheint heute mit dem Internet zusammenzuhängen und daraus eine besondere Gefährlichkeit zu gewinnen, gleich ob es sich um relativ harmlose linksradikale Parolen, Pornographie, irgendwelche Extremisten oder verbrecherische Umtriebe handelt. Wenn eine Sekte kollektiven Selbstmord begeht, bewaffnete Gruppen wie die Freemen oder die Kämpfer für eine unabhängige Republik von Texas ihre obskuren Verlautbarungen im Internet veröffentlichen, betrügerische Geschäfte oder Gewinnspiele hier ablaufen oder Datenbanken durchstöbert und Geld abgezapft wird - das Internet wird stets dämonisiert.

Jetzt hat auch Focus, das Intelligenzblatt der Info-Elite, sich mit einer Titelstory des Internets angenommen. Wie stets, wenn Reporter zuschlagen, die auf Sensation drücken müssen, wird die Info-Elite nicht anders wie bei der Bildzeitung eingestimmt. (Merke: Will man einen gängigen Artikel schreiben, dann muß der Leser erst durch Erfahrungsberichte aus der wirklichen Welt eingestimmt werden. Hautnah, persönlich, was man halt so erleben kann.) Wie es jedem Netzbenutzer so geht, sagt das Info-Eliten-Magazin wohl denjenigen, die so info-elitär noch nicht sein können und daher aufklärerisch mit Schrecken, Grundbegriffen und Abwehrmaßnahmen versorgt werden müssen: "Ein paarmal auf die Computermaus gedrückt und der ahnungslose Netznutzer gerät auf Schauplätze internationaler Verbrechen. Aber auch er selber ist ein potentielles Opfer: Betrüger und Räuber wollen sein Online-Konto anzapfen und Info-Piraten seine intimsten Daten mißbrauchen." So geht es zu an der Front der Zukunft: "Spione, Abzocker, Hacker, Viren" tummeln sich im "unkontrollierbaren Supermedium". Die Straftaten nehmen zu und werden "immer einfacher und risikoloser".

Nach den rhetorischen Höhenflügen im Tatort Internet folgen zwar gleich immer die Entwarnungen und Tips zum Schutz, aber die Dramaturgie muß doch erhalten werden: "Bundesweit stehen lediglich zehn qualifizierte Polizeibeamte weltweit Hunderttausenden von professionellen Gangstern und Teilzeit-Ganoven gegenüber." Da muß man etwas tun, auch wenn die "Freigeister", wie jüngst in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Kohl gegen Zensurversuche antreten. Die Arbeit der AOL-Privatpolizei wird in einem Gespräch widerspruchslos dargestellt, denn, so wird das BKA zitiert, hinter drei Millionen Homepages stecken Kriminelle. Die größere Bedrohung freilich ist, daß die Nutzer ungeschützt ihre Daten preisgeben und eine wirksame Verschlüsselung zum Datenschutz längst fällig ist. Daß dem Kanthers Vorhaben nicht dienen, darauf weist Focus zumindest hin.

Die aufputschende, die Sensationslust bedienen wollende Berichterstattung stößt stets auf ein Dilemma, daß sie nicht auflösen kann und selbstverständlich nicht will. Der implizite Ruf nach Sicherheit und Ordnung, der dem Staat und anderen Patrouillen alles offenhalten will, kollidiert mit dem ebenso wichtigen Wunsch nach Privatheit und Datenschutz. Dieses Paradox zu lösen, würde in der Tat Aufklärungsarbeit erheischen, woran den Massenmedien unter dem Deckmantel der vermeintlichen Berichterstattung nichts liegt, die eher auf gut verkäufliche Meme und Gerüchte setzt und diese zum Zweck der Vermarktung immer gleich mitproduziert. Letztendlich verstärkt die Dämonisierung des Internet einen Prozeß, der gerade das am Internet zu unterdrücken sucht, was auch seine demokratische Stärke ist: das Vorhandensein eines neuen öffentlichen Raums. Die Botschaft heißt: Zieht euch zurück, verbarrikadiert euch, schließt euch ein, laßt Fremdes und Fremde nicht ein, es sei denn die guten Onkels der Staatsbehörden und der sauberen Anbieter. Alles andere ist Anarchie. Und davor hat der Bürger Angst.