Der Frieden hat seinen Preis

Seite 5: Und was wird aus al-Qaida?

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Unterschwellig wäre das wichtigste Ziel der amerikanischen Verhandlungsführung zwischen Taliban und al-Qaida einen Keil zu treiben: "For the United States, the overarching goal of such negotiations would be to persuade at least some important Taliban leaders to break with al-Qaeda", erklärte dazu Steve Coll. Schon berichten Strick und Kuehn über Szenarios, in denen die Amerikaner die Taliban einsetzen, um die al-Qaida-Guerilla durch Taliban-Guerillas zu bekämpfen:

One such vision – recently suggested in private by a senior Taliban political strategist – is that Taliban forces could conduct counterterrorism operations, including operations together with "U.S. Special Forces”, against al-Qaeda and possibly its affiliates along the Afghanistan-Pakistan border.”

Diese Vorstellung ist keineswegs so abstrus, wie sie zunächst erscheint, schließlich haben in der dreißigjährigen Geschichte des afghanischen Bürgerkrieges einzelne Warlords (z. B. der Usbeken-General Abdul Raschid Dostum) gleich mehrfach die Seiten gewechselt. Zwar darf ein gläubiger Moslem einen anderen gläubigen Moslem eigentlich nicht verraten, aber letztendlich ist alles eine Interpretationsfrage. Werden die Taliban ihre Freundschaft zu Osama Bin Laden für einen "Deal" mit Barack Hussein Obama eintauschen?

Auf dem Kriegsschauplatz in Afghanistan spielt die al-Qaida keine nennenswerte Rolle, da sie hier nur noch über rund hundert Mann verfügen soll, die auf kleinere Zellen verteilt sind, um Sprengstoffanschläge zu verüben und Selbstmordattentäter gelegentlich zu unterstützen. Außerdem verfügt die al-Qaida im benachbarten afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet über die "Schwarze Garde" zum Schutz der Führungsspitze der al-Qaida und die Nominalbrigade 313 unter dem Kommando von Muhammad Ilyas Kashmiri. Diese Brigade ist mit mindestens 300 Mann der eigene Beitrag der al-Qaida zum gemeinsamen Truppenkontingent der verschiedenen aufständischen Gruppierungen. Diese "Schattenarmee" Lashkar al Zil soll aus sechs Nominalbrigaden mit angeblich rund 12.000 Kämpfern bestehen, allerdings lassen sich diese Militärangaben nicht überprüfen.

Es ist kaum zu glauben, dass al-Qaida einfach zuschauen wird, wenn die US-Regierung ihre weitere Isolierung anstrebt. Als Gegenreaktion könnte sich die Gruppierung – trotz aller oben genannten Differenzen - möglicherweise erstmals wirklich mit den Taliban vereinigen, zumindest mit dem radikalen Flügel, der einen Verhandlungsfrieden mit den "ungläubigen" Amerikanern ablehnt. So weisen Strick und Kuehn darauf hin, dass die jüngeren Taliban-Führer der mittleren Leitungsebene heute viel politischer und militanter sind, als die alten Führungskader des Führungsrates ("Rahbari Shura") um Mullah Omar. Die US Streitkräfte haben diese Entwicklung selbst ausgelöst, indem sie gemäß ihrer "Enthauptungs"-Strategie die ehemaligen Kader liquidierten. Außerdem könnte al-Qaida ihre Beziehungen zu den militanten Warlords Jalaluddin Haqqani und Gulbuddin Hekmatyar in Waziristan weiter festigen.

Außerdem wäre eine Einigung zwischen Amerikanern und Taliban nicht das Ende von al-Qaida. Die Zellen in den USA, Europa und Asien können zwar ihre Mitglieder zur Mudschahed-Ausbildung nach Waziristan schicken, aber erhalten ansonsten keinerlei operative Unterstützung. Außerdem hat al-Qaida bereits vor Jahren eigene Regionalorganisationen gegründet: "Al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQIM) unter der Führung von "Drukdal" alias Abdalmalik Darduqal und "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAP) unter der Leitung von "Abu Bashir" alias Nasir Abdalkarim Abdallah al-Wuhaishi. Diese Unterorganisationen haben eine Gesamtstärke von 2.000 bis 3.000 Mann. So ist der weitere Verlauf des "arabischen Frühlings" in Tunesien, Libyen, Ägypten etc. für die Zukunft der al-Qaida wahrscheinlich viel bedeutender, als der Ausgang des Krieges in Afghanistan. Dazu schreibt der Spiegel-Journalist Yassin Musharbash:

Die Volksaufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen haben machtvoll gezeigt, wie wenig Dschihadisten in den arabischen Gesellschaften zu sagen haben. Entgegen ihrer seit Jahrzehnten vorgetragenen Propaganda ist ihr Mobilisierungspotential gleich null. Ihr ureigenstes Ziel, der Sturz der säkularen Regime in der arabischen Welt, haben andere verwirklicht. Darunter sind Gruppen, die auch noch zu den erklärten Feindbildern von al-Qaida und Co. gehören: Laizisten, westlich orientierte Studenten, politische aktive Frauen, Demokraten, moderate Islamisten. Nicht al-Qaida hat sich als Avantgarde erwiesen, sondern die weltliche, internetaffine Jugend der arabischen Welt. Und einen talibanösen Gottesstaat, al-Qaidas Vision für die islamische Welt, hat niemand auf den Plätzen und Straßen von Tunis bis Bengasi gefordert.

Nicht zuletzt würde ein Friedenschluss in Afghanistan die Rückkehr der fast 5.000 Bundeswehrsoldaten ermöglichen und positive Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland haben. Immerhin hat das Afghanistanabenteuer dem deutschen Steuerzahler seit 2001 schon 7,3 Milliarden Euro gekostet - davon waren 5,7 Milliarden für ISAF und OEF und 1,6 Milliarden Euro für die Wiederaufbauhilfe.

Der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Staffan De Mistura, gab sich besonders optimistisch. Am 30. September 2010 erklärte er, er halte ein Friedensabkommen bis Juli 2011, dem Beginn des von US-Präsident Barack Obama angekündigten Abzugs seiner rund 95.000 GIs, für möglich. Die Taliban planen zunächst einmal die Eröffnung eines eigenen Büros in der Türkei, einem NATO-Staat.

Allerdings zeigt der Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern, dass vertrauenswürdige Friedensverhandlungen mit "Ungläubigen" manchmal etwas länger dauern. Hätte man sich vor zehn Jahren etwas mehr Zeit für Verhandlungen genommen, dann wäre der Kriegskrampf in Afghanistan vielleicht schon nach 20 statt nach 30+x Jahren beendet worden, und das ebenso sinnlose wie überflüssige Gemetzel des letzten Jahrzehnts wäre einfach ausgefallen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit