Der Krieg in der Ukraine und die Sicherheit Europas

Seite 3: Weitere Eskalation oder Verhandlungen

Vollkommen verantwortungslos wäre es, Schritte zu unternehmen, die eine weitere Eskalation auslösen und Europa in den Krieg oder gar eine nukleare Katastrophe führen könnten. Zwar wirkt die Abschreckung weiterhin, doch könnten sich die Risikokalküle der russischen Führung verändern, sollte sie eine existenzielle Bedrohung ihres politischen Überlebens und des strategischen Gleichgewichts mit den USA wahrnehmen.

Eine leichtfertige Sieges- und Regime-Change-Rhetorik könnte solche Perzeptionen fördern. Sie muss ebenso unterlassen werden wie das Austesten weiterer Schritte, die das Eskalationsrisiko erhöhen.

Dies gilt für Vorschläge zur Errichtung eines Luftverteidigungsschirms über der Westukraine, zum Einsatz westlicher Langstreckensysteme gegen strategische Ziele in Russland oder zur Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine.

Eine unmittelbare Konfrontation mit russischen Truppen könnte sich zu einem europäischen Krieg ausweiten. Die Einrichtung einer "Flugverbotszone" bedeutete einen Luftkrieg, der auch Angriffe auf russische Luftstützpunkte und die Luftverteidigung erfordern würde. Eine Eskalation wäre unausweichlich.

Für eine realistische und verantwortliche Politik können weder die Eskalation noch das Ausbluten der ukrainischen Bevölkerung akzeptable Optionen sein. Eine Strategie der Kriegsverlängerung, die weder eine realistische Aussicht auf einen nachhaltigen militärischen Sieg ohne das Risiko der Eskalation bieten kann noch ein Kriegsende durch konkrete Verhandlungsansätze anstrebt, läuft daher ins Leere.

Sie kann sich nur auf die vage Hoffnung auf eine politische oder militärische Wende stützen, deren Annahmen nicht faktisch unterlegt sind. Die damit verbundene Absicht, die eigenen Risiken zu begrenzen, geht ausschließlich zulasten der Ukrainer.

Die strategische Leistung, die Diplomatie in dieser Lage erbringen müsste, liegt darin, Kompromisswege zu eruieren, die einerseits die Eskalationsgefahren einhegen und andererseits die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine wahren.

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Dabei kommt es nicht darauf an, ob westliche Hauptstädte bereit wären, politische Prinzipien einer Friedenslösung zu opfern. Prinzipien haben sie selbst mehrfach gebrochen, wenn es ihnen im Interesse von Sicherheit und Stabilität geboten schien.

Vielmehr stellt sich die Frage, was sie dazu beitragen können, um einen mehrdimensionalen Konflikt zu entschärfen, dessen Trennlinien innerhalb der Ukraine, zwischen Moskau und Kiew und zwischen Russland und dem Westen verlaufen.

Zweifellos haben die russischen Gebietsannexionen vom September 2022 künftige Friedensgespräche gravierend erschwert. Gleichwohl muss Kiew die Frage beantworten, ob und inwieweit es gewillt ist, politische und territoriale Kompromisse einzugehen, um den Krieg zu beenden und ukrainische Leben zu retten.

Dies kann Kiew nur dann positiv beantworten, wenn Moskau bereit ist, Abstriche von maximalen Kriegszielen zu machen und die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine zu garantieren. Moskau muss erkennen, dass es nur so die eigenen Sicherheitsinteressen gegenüber Nato-Europa wahren kann.

Denn die Lage der russischen Führung ist keineswegs so komfortabel, dass sie nicht ebenfalls einen Ausweg aus dem Krieg anstreben muss. Sie hat militärische, ökonomische und innenpolitische Risiken sowie den Verhandlungsdruck des Globalen Südens zu berücksichtigen, will sie international nicht weiter ins Abseits geraten und die innere Stabilität aufs Spiel setzen. Zudem ist es ein Kernziel, die strategische Stabilität mit den USA aufrechtzuerhalten.

Ein Kompromisspaket muss daher auch Elemente der Rüstungskontrolle und der europäischen Sicherheitsordnung enthalten, die auf die Wahrung der strategischen Stabilität ausgerichtet sind.

Diese Leistung kann weder Kiew allein noch eine Friedenskonferenz ohne Russland erbringen. Dazu müssen die westlichen Führungsmächte Angebote machen, sofern sich Moskau verpflichtet, künftig die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine zu respektieren und dafür internationale Sicherheitsgaranten zu akzeptieren.

Wirksame und inklusive Sicherheitsgarantien für die Ukraine sind ein Schlüsselelement einer künftigen Friedenslösung. Der Vorschlag, die Nato solle Kiew zunächst territorial begrenzte Garantien ohne Vereinbarungen mit Russland geben und sie später in Abhängigkeit vom Kriegsverlauf oder der politischen Entwicklung in Moskau schrittweise ausweiten, ist unrealistisch.

Die Konstruktion wäre höchst fragil und mit einem hohen Eskalationsrisiko verbunden. Jede Lageänderung könnte den Kriegseintritt der Nato erfordern. Sicherheitsgarantien werden außerhalb von Artikel 5 des Washingtoner Vertrags gefunden werden müssen, wenn sie weder eskalierend wirken noch die weitere territoriale Spaltung der Ukraine befördern sollen.

Vor allem dürfte es Russland um Stationierungsbegrenzungen für Militärbasen der Verbündeten in der Ukraine gehen. Auch dies lässt Raum für Kompromisse.

Lösungen für den Ukrainekonflikt sind untrennbar mit einem breiteren europäischen Sicherheitsansatz verbunden. Sie können nur gefunden werden, wenn Verhandlungsinitiativen begonnen werden, statt sie auszuschließen.

Verhandlungen bedeuten nicht Kapitulation, sondern die Suche nach einem Ausweg aus einem Krieg, der vor allem von den Ukrainern hohe und auf Dauer untragbare Opfer fordert. Weitere Waffenlieferungen können daher nicht nur mit einer vagen "Sieghoffnung" ohne Exitstrategie begründet werden.

Notwendig ist vielmehr ein glaubwürdiges Verhandlungsangebot, das die Sicherheitsinteressen Russlands ebenso in den Blick nimmt wie die Unabhängigkeit und Souveränität der ukrainischen Nation.

Oberst a.D. Wolfgang Richter, geb. 1949, war Leitender Militärberater in den deutschen UN- und OSZE-Vertretungen, Senior Associate der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), jetzt Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GSCP).

Cover

Der Artikel erschien zuerst in der neuesten Ausgabe von WeltTrends – Nr. 201: Revolte des Globalen Südens

Eine Langfassung des Artikels inklusive umfassender Quellenangaben ist im WeltTrends-Blog veröffentlicht.