Der Krieg in der Ukraine und die Sicherheit Europas
Seite 2: Klärung der Kriegsursachen
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Der Kollaps dieser Vereinbarungen wurde teils willentlich von den USA und ihren Verbündeten veranlasst, teils auch sehenden Auges in Kauf genommen. Dies kann freilich den Angriffskrieg Moskaus gegen die Ukraine nicht rechtfertigen.
Doch hilft die nüchterne Aufarbeitung dieses Versagens bei der Klärung der Kriegsursachen, der Kriegsziele und der möglichen Wege aus der militärischen Konfrontation. Die Beendigung des Krieges bleibt sowohl mit der Lösung des übergeordneten geopolitischen Konflikts als auch mit der Befriedung der Ukraine mit ihren unterschiedlichen Identitäten verknüpft.
Fehlkalkulationen und das Schrauben an der Eskalationsspirale
Zu Beginn des Angriffs im Februar 2022 hat die russische Führung die nationale Einheit der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung und die Widerstandskraft der Regierungstruppen völlig unterschätzt. Gleichwohl glaubte Moskau, Kiew rasch zur Annahme seiner Forderungen zwingen zu können.
Doch auch Kiew dürfte über den raschen russischen Vorstoß im Süden überrascht gewesen sein. Das Ausmaß der lokalen Kollaboration mit der Besatzungsverwaltung hat Kiew ebenso alarmiert wie die hohe Zahl an Wehrdienstverweigerern.
Auch im Westen herrschten übertriebene Erwartungen, dass die Ukrainer an Führung und Moral überlegen seien und die Doppelstrategie aus Sanktionen gegen Moskau und Militärhilfe an Kiew zur raschen "strategischen Niederlage" Russlands führen würde.
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Doch hatte die Lieferung einzelner Waffensysteme keineswegs die Schlüsselrolle (Gamechanger) für den weiteren Kriegsverlauf, die Politiker und Experten vorwiegend in den deutschen Medien wiederholt vorhergesagt haben.
Zur Einordnung ihrer Wirkung im Gefecht verbundener Waffen fehlte oft der Sachverstand. Die Führungsüberlegenheit der ukrainischen Armee wurde ebenfalls überschätzt, auch wenn es an der Tapferkeit der ukrainischen Soldaten keine Zweifel gibt.
Hinzu kommt die Fehleinschätzung der Resilienz der russischen Rüstungsindustrie, die auf Kriegsproduktion umgeschaltet und ihre Auslieferungsraten an Raketen, Munition und schweren Waffen vervielfacht hat.
Die Wirksamkeit westlicher Wirtschaftssanktionen wurde überschätzt; dass der Globale Süden sich nicht vorbehaltlos an die Seite der früheren Kolonialmächte stellen würde, schien zu überraschen. Nicht einkalkuliert waren vordergründig die Risiken, die mit der Präsidentschaftswahl in den USA im Herbst 2024 verbunden sind.
Anders als im Kalten Krieg fehlen heute im öffentlichen Diskurs Kräftevergleiche und Analysen der verfügbaren Ressourcen, aber auch der Eskalationsgefahren, aus denen realistische Lagebilder erstellt werden können.
Zudem haben einseitige Darstellungen des Geschehens, maßlose Propaganda und Eskalationsdrohungen zur gegenseitigen Dämonisierung geführt und die Lage weiter destabilisiert. In dieser vergifteten Atmosphäre werden Verhandlungen häufig als Mission Impossible ausgeschlossen.
Wenn selektive Moral, Heroisierung der einen und Diffamierung der anderen Seite den Wunsch zur "strategischen Niederlage" des Feindes beflügeln, leidet die Fähigkeit zur nüchternen Beurteilung des operativen Geschehens und der Folgen des eigenen Handelns.
So war der russische Rückzug aus der Region Kiew Ende März 2022 trotz empfindlicher russischer Verluste nicht militärisch erzwungen worden; Moskau hatte den Rückzug angeordnet, als die parallel geführten Waffenstillstandsverhandlungen erste Erfolge aufwiesen.
Das Istanbuler Kommuniqué vom 29. März 2022 eröffnete die Möglichkeit eines Kompromissfriedens. Die Verhandlungsdelegationen Kiews und Moskaus hatten sich auf einen gemeinsamen Vorschlag geeinigt:
- Verzicht der Ukraine auf den Nato-Beitritt und die Stationierung fremder Truppen;
- Moskaus de facto-Kontrolle der Krim und endgültige Statuslösung innerhalb von 15 Jahren;
- Sonderstatus des Donbass, dessen Details durch die Präsidenten festgelegt würden.
Sicherheitsgarantien durch die Mitgliedstaaten des Sicherheitsrates sowie Deutschlands, Polens, der Türkei u. a. Der EU-Beitritt Kiews sollte sogar unterstützt werden.
Ob der Verhandlungsprozess tatsächlich zu einer Kriegsbeendigung geführt hätte, bleibt offen. Erfolg hätte er aber nur haben können, wenn er auch von denjenigen westlichen Verbündeten unterstützt worden wäre, die den Kompromiss mit Sicherheitsgarantien flankieren sollten. Dies haben sie nicht getan. Stattdessen ermutigten sie Kiew mit dem Versprechen umfangreicher Waffenhilfe, den Krieg fortzusetzen.
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In dem folgenden verlustreichen Stellungskrieg trat der Kräftemangel der russischen Bodentruppen offen zutage. Die russische Führung reagierte politisch mit der Annexion der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson, und militärisch mit der Intensivierung des strategischen Luftkriegs sowie mit einer Teilmobilisierung.
Damit rückte nicht nur eine Verhandlungslösung in weite Ferne; Moskau konnte nun schrittweise den akuten Personalmangel ausgleichen. Der kalkulierte Rückzug aus der Stadt Cherson verlief geordnet, stellte aber einen politischen Rückschlag dar.
Einzelerfolge im Osten, vor allem die verlustreiche Eroberung von Bachmut im Frühjahr 2023, erbrachten nicht den erwarteten operativen Durchbruch. Doch erreichten die Invasionskräfte im Sommer 2023 mit mehr als 400.000 Bodentruppen etwa die Stärke der regulären ukrainischen Landstreitkräfte.
Kiew begann, Luftverteidigungssysteme, Stützpunkte, Führungszentren, Depots und Schiffe der Schwarzmeerflotte sowie Verkehrswege einschließlich der kritischen Brückenübergänge zur Krim anzugreifen, aber auch Ziele in Russland selbst.
Die russische Führung intensivierte den strategischen Luft- und Raketenkrieg. Die Raketen- und Drohnenangriffe führten zu schweren Zerstörungen und brachten die regionale Energieversorgung zeitweilig zum Erliegen.
Die ukrainische Sommeroffensive 2023 scheiterte an den tief gestaffelten Verteidigungsstellungen der Russen. Seither ist Kiew in der strategischen Defensive. Aus dem Gesamtumfang der russischen Streitkräfte von mittlerweile 1,3 Millionen dürften nun über 650.000 Soldaten – teils auch von außerhalb – auf die Operationen vor Ort einwirken.
Seit der Einnahme von Awdijiwka im Februar 2024 ist die russische Armee im langsamen Vormarsch und erzielt taktische Raumgewinne. Am 9. Mai eröffnete sie einen neuen Frontabschnitt im Gebiet Charkiw.
Damit dehnt es die Front insgesamt auf eine Länge von 1.200 Kilometer aus und zwingt Kiew, seine personell unterlegenen Kampftruppen weiter auszudünnen und operative Reserven von anderen bedrohten Frontabschnitten im Donbass abzuziehen.
Ob es Moskau nach den jüngsten militärischen Erfolgen gelingen wird, 2024 wieder in einen Bewegungskrieg überzugehen, ist derzeit noch ungewiss. Die mit sehr hohen Verlusten erkauften Geländegewinne lassen eher den Schluss zu, dass sich der Abnutzungskrieg fortsetzt. Während die militärische Lage sich zuungunsten Kiews verschlechtert und die Personalverluste weiter zunehmen, setzen sowohl Moskau als auch Kiew und der Westen weiterhin auf eine militärische Lösung.
Doch ist auch 30 Monate nach Kriegsbeginn ein umfassender "Siegfrieden" der einen oder anderen Seite wenig wahrscheinlich. Weder eine "strategische Niederlage" der Atommacht Russland noch eine völlige Unterwerfung der Ukraine durch Moskau sind realistische Zielvorstellungen. Doch begünstigen die 2024 verfügbaren Ressourcen nicht die ukrainische Seite.
Hoffnungen auf überraschende politische oder militärische Wendungen zugunsten Kiews bleiben Spekulation und sind mit hohen Eskalationsrisiken behaftet.
Ob die westliche Materialunterstützung für einen langen Abnutzungskrieg aufrechterhalten werden kann, hängt von den politischen Entwicklungen in Europa und vor allem in den USA ab. Zwar bemühen sich die Biden-Administration sowie die Regierungen Deutschlands, Großbritanniens und anderer Nato-Länder, den Waffenstrom aufrechtzuerhalten, doch ist der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Herbst ungewiss.
Die Lagerbestände sind weitgehend aufgebraucht und die europäische Rüstungsindustrie wird viele Monate benötigen, um die Produktionsraten gravierend zu erhöhen. Aber auch wenn es dem Westen gelingen sollte, die Materialverluste der Ukraine langfristig zu ersetzen, so sind doch ihre Personalreserven begrenzt.