Der Traum vom besseren Leben: Biffo, die fliegende Minirocknonne und ein Schiff aus der Karibik
- Der Traum vom besseren Leben: Biffo, die fliegende Minirocknonne und ein Schiff aus der Karibik
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Make Britain Great Again - Teil 2
Teil 1: Die Themse, der Brexit und ein Gangsterfilm
Nach dem Zweiten Weltkrieg, den sie eigentlich gewonnen hatten, sahen sich die Engländer als eine Nation im Abstieg. Der Rückzug aus den Kolonien in den 1950ern und 1960ern und die Umwandlung des Empire in einen Commonwealth of Nations waren nicht dazu geeignet, das englische Selbstbildnis freundlicher zu gestalten. Der Verlust des Weltreichs ist ein bis heute unbewältigtes Trauma und hat immer wieder Figuren hervorgebracht, die eine Rückkehr zur alten Größe versprechen - von den Brexiteers unserer Tage bis zum Gangster Harold Shand in The Long Good Friday.
Queen Mum und die "Nig Nogs"
Während Harold auf der Themse den Einstieg seiner Bande, der "Corporation", ins Immobiliengewerbe feiert wird im Schwimmbad sein Freund Colin ermordet. Ein anderer Gangster stirbt, als Harolds Rolls Royce in die Luft fliegt. Ein in seinem Spielcasino deponierter Sprengsatz geht durch einen Fehler im Zündmechanismus nicht hoch. Shand fährt zum wegen veralteter Hafenanlagen und mangelnder Rentabilität in Abwicklung befindlichen King George V Dock, um mit Chefinspektor Parker ("Parky"), einem der von ihm bestochenen Polizisten, die Lage zu besprechen.
Sehr gelungen ist der lange Tracking Shot, der Shand und Parky (gespielt vom Fernsehkomiker Dave King) durch die verlassene Docklandschaft begleitet. "Wir können hier keine Bomben haben, die in die Luft gehen, Harold", sagt der korrupte Polizist. "Wir können keine Leichen haben." Nach dieser Ermahnung unterhalten sich die beiden darüber, wie es früher war und was die Zukunft bringen wird. Hier in diesem Dock, erinnert sich Parky, kamen nicht nur Waren aus aller Welt an, er hat sich auch von einer Indonesierin die Syphilis geholt, als junger Bobby. So war das, als Britannien noch groß war und ein Empire hatte.
Queen Mum und die "Nig Nogs" (14 Bilder)
"Und hier", sagt Parky, "soll also das Stadion für die Olympiade von 1988 gebaut werden." Heute ärgert sich Barrie Keeffe darüber, dass er ein Datum in den Dialog geschrieben hat. Die Olympiade fand dann doch erst 2012 statt. Für Iain Sinclair, einen der schärfsten Kritiker der von Margaret Thatcher angeschobenen Entwicklung, tut das der prophetischen Qualität des Films keinen Abbruch. Sinclairs Meinung nach ist das, was in den Docklands als "Stadtentwicklung" verkauft wird, eine moderne Form der Piraterie.
Der Weltumsegler Francis Drake, gern als Vater der britischen Marine gerühmt, steht am Anfang der britischen Expansionspolitik und wurde dafür in den Docks geadelt. Drakes Nachfolger sind Immobilienritter und erbeuten Land, das man bebauen kann. Ob 1988 oder 2012, für Sinclair ist die Olympiade vor allem eines: "Die Förderung eines großen Events als Nebelwand für kommerzielle Piraterie", wie er im Gespräch mit Keeffe sagt (abgedruckt in 70x70). Keeffe widerspricht ihm nicht.
Parky lacht. "Kannst du dir Nig Nogs vorstellen", fragt er Harold, "die hier an diesen Kais Weitsprung machen?" "Steck ihnen eine Rakete in den Arsch, dann springen sie schon", antwortet Harold. Die beiden Herren sind auch Rassisten. Ein "Nig Nog" kann ein einfältiger Mensch sein. Hier sind eindeutig Schwarze damit gemeint, als britische Form von "Nigger". Von der Mutter der aktuellen Königin, der durch Heirat mit einem seiner Söhne mit King George V verwandten Elizabeth Bowes-Lyon, ist überliefert, dass sie Schwarze gern als "Nig Nogs" bezeichnete.
Ob das so stimmt, weiß man nicht genau. Zeitzeugen haben es bestätigt, andere energisch dementiert, wieder andere haben angemerkt, dass es nicht böse gemeint war, wenn die allseits beliebte alte Dame so etwas sagte. Jedenfalls ist ihr Name mit den "Nig Nogs" verbunden. Queen Mum soll privat gegen die Apartheid gewesen sein, aber auch gegen die Selbstbestimmung der Schwarzen in Afrika. Ihr wird der Satz zugeschrieben, dass "Nig Nogs" ihre eigenen Länder nicht regieren können, weil sie dazu - als Schwarze - nicht fähig sind. Ob irrtümlicherweise oder nicht: Harold und Parky fühlen sich in royaler Gesellschaft, wenn sie Witze über die "Nig Nogs" machen.
Nachdem man gemeinsam gelacht hat bringt Shand die Rede auf den eigentlichen Grund für das Treffen: Wer könnte hinter den Anschlägen stecken? Trotz Harolds’ persönlichem Höhenflug: Das britische Gangstertum hat schon bessere Zeiten erlebt. Die Konkurrenz aus Tottenham, erfährt man, kann nicht einmal eine Autobatterie klauen, ohne sich einen Stromschlag zu holen. Einige aus der Bande der Clancys sind aus dem Gefängnis freigekommen, aber ein Bombenanschlag ist zu kompliziert für sie, und niemandem wurden die Zähne ausgerissen (ein Markenzeichen der für ihren Sadismus berüchtigten Richardsons).
Parky muss einen Schreckmoment verkraften, als ihm Harold den Koffer mit der im Casino gefundenen Bombe überreicht. Er soll sie im Polizeilabor untersuchen lassen, aber nur privat. Wozu hat man sonst die Polizei? Harold hätte auch gern den Namen von Parkys wichtigstem Spitzel, um ihn auszuquetschen. "Auf keinen Fall", sagt der Chefinspektor, denkt jedoch rasch um, als Shand anfängt, von den glänzenden Geschäften zu schwärmen, die man 1988 (oder 2012) in den Docklands machen werde. Milliarden sei der Grundstücksdeal dann wert, sagt der Gangster, und er, Parky, könne einen Anteil daran haben.
Francis Drake und die Nazis
"Prozente?", fragt der Polizist. Na gut. Sein Informant heißt Erroll. Erroll the Ponce aus Brixton. Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie The Long Good Friday seine Treffer setzt, und warum der Film noch immer aktuell ist, oder immer wieder, auf eine stets neue (und doch alte) Weise. Francis Drake ist eine Figur aus Romanen und Geschichtsbüchern, aber er ist auch Errol Flynn, der Heldendarsteller aus den ehemaligen Kolonien (von der zu Australien gehörenden Insel Tasmanien). Flynn spielt den "Freibeuter der Königin" in The Sea Hawk, einem 1940 in propagandistischer Absicht gedrehten Piratenfilm.
Die Hauptfigur heißt Thorpe, doch die Handlung orientiert sich an den Heldentaten von Francis Drake. Captain Thorpe geht auf Kaperfahrt, raubt spanische Schiffe aus und versucht, die Königin davon zu überzeugen, dass England eine starke Kriegsflotte braucht, um den Angriff der spanischen Armada abwehren zu können. Übertragen auf das Jahr 1940 sind das Nazideutschland und die Luftwaffe. Michael Curtiz’ Der Herr der sieben Meere (deutscher Verleihtitel) sollte in den USA die mäßig ausgeprägte Bereitschaft zum Kriegseintritt fördern und im Vereinigten Königreich den Durchhaltewillen stärken.
Das für Propagandazwecke eingerichtete Informationsministerium half dabei, dem Film ein möglichst großes Publikum zu verschaffen. So etwas wirkt lange nach und gräbt sich in das kollektive Gedächtnis ein. Anlässlich der 400-Jahr-Feiern zur Weltumsegelung wurde The Sea Hawk aus dem Archiv geholt. Er lief im Fernsehen, in britischen Kinos und bei Sonderveranstaltungen an historischen Schauplätzen. Nostalgiker vermissten die einst vom Informationsministerium gewünschten Einstellungen, mit denen der Film im Zweiten Weltkrieg endete: eine Überblendung von elisabethanischen Segelschiffen auf ein modernes Kriegsschiff und von da weiter auf den im Wind flatternden Union Jack.
Francis Drake und die Nazis (20 Bilder)
Wer bis dahin nicht mitgekriegt hatte, dass Errol Flynn Francis Drake war, erhielt bei den von 1978 bis 1980 abgehaltenen Jubelfeiern zum Jubiläum der freibeuterischen Kulturleistung Gelegenheit zum Schließen dieser Wissenslücke. Vor diesem Hintergrund ist es ziemlich frech, aus Erroll - laut Besetzungsliste mit zwei l - einen schwarzen Zuhälter (ponce) mit westindischen Wurzeln zu machen. In der Karibik erlebte Sir Francis einige seiner nicht so ruhmreichen Abenteuer. Zu Beginn seiner Seefahrerkarriere versuchte er, im Geiste des freien Unternehmertums, das spanische Monopol auf den Sklavenhandel zu brechen.
Weil die Geschichte oft seltsame Kapriolen schlägt (und weil Keeffe wusste, wovon er schrieb), bündelt sich das Ganze in Tilbury, das Harold Shand erwähnt, wenn er Charlie, seinem Investorenfreund von der Mafia, davon erzählt, wie voller Leben die Londoner Docks früher waren, und wie viele Schiffe es dort gab. Tilbury ist nicht nur der Ort an der Themse, an dem Elisabeth I. ihre berühmte Rede an die Truppen hielt, in Erwartung der (dann ausbleibenden) Armada. Es ist auch nicht nur der Ort, der den Royal Docks das Geschäft mit den Containern abjagte, weshalb die Docklands zum Spekulationsobjekt für die Immobilienbranche wurden.
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