Der Traum vom besseren Leben: Biffo, die fliegende Minirocknonne und ein Schiff aus der Karibik

Seite 3: Ströme von Blut

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Das neue Einwanderungsgesetz trat am 1. Juli 1962 in Kraft. Wer bereits in Großbritannien lebte durfte Kinder unter 16 Jahren nachholen. Da niemand wusste, wie lange das so bleiben würde, setzte nun ein Exodus dieser Kinder ein. Das wiederum beunruhigte diejenigen, die sich überfremdet fühlten. Zum Anwalt besorgter Bürger schwang sich Enoch Powell auf, der als Staatssekretär schwarze Krankenschwestern angeworben hatte. Am 20. April 1968, jetzt als Oppositionspolitiker, hielt er in Birmingham eine berüchtigte Rede, in der er sich darüber empörte, dass immer noch so viele "zusätzliche Immigrantenkinder" ins Land kamen.

In seiner "Rivers of Blood"-Rede, einem Manifest des modernen Populismus, verglich Powell das nun nicht mehr große, des Empires verlustig gegangene Britannien mit dem alten, dekadent gewordenen und von den Barbaren überrannten Rom. Beim Blick in eine düstere Zukunft sah er einen "Rassenkrieg" voraus, bei dem "Ströme von Blut" fließen würden. Schuld daran waren die Eliten und die von ihnen massenhaft ins Land geholten Einwanderer aus dem Commonwealth, insbesondere Schwarze aus der Karibik und Inder, die offenbar vorhatten, die alteingesessene Bevölkerung zu versklaven.

Enoch Powell (1986). Bild: Allan Warren / CC-BY-SA-3.0

Powell prophezeite, dass die Schwarzen in 15 bis 20 Jahren die Weißen unterworfen haben und dann die Peitsche schwingen würden. Dieser unheilvollen Entwicklung müsse sofort und entschlossen begegnet werden, indem man die Einwanderung auf ein zu vernachlässigendes Maß reduziere ("Rückführungen", wie das heute heißt, inklusive). Die Rede, gehalten an Hitlers Geburtstag (wovon der studierte Altphilologie eigenen Angaben nach nichts wusste), entfaltet bis heute ihre Wirkung. Die Times bescheinigte Powell, der erste ernst zu nehmende britische Politiker der Nachkriegszeit zu sein, der offen zum Rassenhass aufgerufen habe.

Edward Heath, der Chef der Konservativen, warf ihn aus seinem Schattenkabinett (Powell war als zukünftiger Verteidigungsminister vorgesehen). Damals konnte man so etwas noch relativ geräuschlos erledigen, und ohne sofort einen Shitstorm zu ernten. Inzwischen wird darüber diskutiert, ob Heath es sich auch im Zeitalter der "sozialen Medien" hätte leisten können, einen wie Powell abzuservieren. Bei einer Gallup-Umfrage von Ende April 1968 jedenfalls gaben 74 Prozent der Befragten an, Powell zuzustimmen (worin genau, blieb diffus).

Eingebettet in Bildungshuberei und Anspielungen auf das klassische Altertum inszenierte sich der Abgeordnete als Volkstribun und Vertreter einer ihrer Identität beraubten und von den Eliten verratenen "schweigenden Mehrheit", der den Mut aufbrachte, Dinge zu sagen, die nicht gesagt werden durften (worüber dann, weil man nichts sagen durfte, in den Medien ausführlich berichtet wurde). So etwas scheint besonders gut anzukommen, wenn einer aus der Elite gegen die Elite wettert und als gesellschaftlich Privilegierter anprangert, dass Minderheiten vermeintliche Privilegien (gleiche Rechte) erhalten sollen.

Der Anlass für Powells Auftritt in Birmingham war ein Gesetz der amtierenden Labour-Regierung, das es unter Strafe stellte, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion und ethnischen Zugehörigkeit zu diskriminieren und ihnen eine Wohnung, einen Job oder staatliche Leistungen zu verweigern. Mit seiner Rede avancierte der überzeugte Marktradikale zum Helden der britischen Arbeiter, indem er deren Ängste schürte und ihnen Sündenböcke präsentierte, die in einer ungerechten Gesellschaft noch unfairer behandelt wurden als sie selbst - ein Muster, das bis heute hervorragend funktioniert.

"Nig Nogs", Sklavenhalter und EU-Bürokraten

In den Londoner Docks, wo man bereits den Niedergang spürte, aus dem Harold Shand in The Long Good Friday Kapital schlagen will, demonstrierten die Arbeiter für Powell und seine Anliegen. Bei den eingewanderten Kollegen der Demonstranten ging die Angst um, bald abgeschoben zu werden. Von Powells Form der Problemlösung profitierte kurioserweise Edward Heath, der ihn aus seinem Schattenkabinett entfernt hatte. 1970 triumphierten die Konservativen bei den Wahlen zum Parlament, weil viele traditionelle Labour-Anhänger aus der Arbeiterschicht für die Partei des Volkstribunen Powell stimmten.

1971 verabschiedete die Regierung Heath ein erneut verschärftes Einwanderungsgesetz, das die einen für rassistisch und die anderen für zu lasch hielten. Wer nach den Ursprüngen der seit dem Brexit-Referendum allgemein beklagten Spaltung der britischen Gesellschaft sucht: bei Powell und den Folgen seiner populistischen Rede könnte man fündig werden. Als Heath Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Gemeinschaft aufnahm machte Powell als der Abgeordnete von sich reden, der bei jeder Abstimmung in der Angelegenheit - insgesamt 104 Mal - gegen die eigene Regierung votierte, konnte aber nicht verhindern, dass der von Heath ausgehandelte Beitrittsvertrag 1972 mit knapper Mehrheit das Parlament passierte.

In der aktualisierten Version von Powells Schreckensszenario waren es nicht mehr die Einwanderer, sondern die Bürokraten eines europäischen Superstaats, die mit der Peitsche knallten und die Briten zu Vasallen machten. Die Europäische Gemeinschaft, so Powell, werde die britischen Institutionen zerstören, die gewachsenen Traditionen und die Identität des Inselreichs. Mit sicherem Gespür für den publikumswirksamen Eklat verkündete er im Februar 1974, fünf Tage vor vorgezogenen Neuwahlen, nicht mehr Mitglied der Konservativen Partei sein zu können, weil die Regierung Heath mit dem Beitritt gegen den Willen des Volkes gehandelt und dieses verraten habe.

Populisten vertreten immer "das Volk" und dessen Willen, obwohl "das Volk" eine sehr heterogene Veranstaltung ist. Der Teil davon, der 1975 am ersten Referendum teilnahm, hatte mehrheitlich einen anderen Willen. 67,2 Prozent beantworteten die Frage "Denken Sie, dass das Vereinigte Königreich in der Europäischen Gemeinschaft bleiben sollte?" mit Ja. Darum kann Harold Shand in The Long Good Friday darüber jubilieren, dass Britannien keine Insel mehr ist, sondern ein Land im Herzen von Europa. Damit übertreibt er vielleicht ein bisschen, in der Euphorie des Augenblicks.

Enoch Powell starb 1998. Aus der EG war 1993 durch den Vertrag von Maastricht die EU geworden, ein Austritt des Vereinigten Königreichs kein Thema, das die Mehrheit der Briten interessierte. In einem seiner letzten Interviews teilte Powell mit, dass er sich nicht für gescheitert halte. Man werde einen Platz in der Ruhmeshalle des britischen Volkes für ihn finden, wenn das Gebäude des europäischen Superstaates eingestürzt sei und die Briten ihre Souveränität wiedererlangt hätten. Heute ist er der Held der Brexit-Hardliner, die einen beträchtlichen Teil ihres Vokabulars und ihres Narrativs von EU-Knechtschaft, Vasallenstaat und Identitätsverlust von ihm übernommen haben. Originelle Denker sind sie nicht.

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