Der Traum vom besseren Leben: Biffo, die fliegende Minirocknonne und ein Schiff aus der Karibik

Seite 2: "Westward Ho!" und die SS

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Hafen von Tilbury legte im Juni 1948 das Schiff Empire Windrush an (früher ein deutscher Truppentransporter). An Bord waren 492 Passagiere aus Jamaika, Trinidad, Tobago und anderen westindischen Inseln. Damit begann die Zuwanderung aus der Karibik. Für die amtierende Labour-Regierung war das ein Albtraum, obwohl ihren eigenen Schätzungen nach 1,3 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht wurden, wenn die nach fünf Kriegsjahren stark geschwächte Wirtschaft prosperieren sollte.

Das Problem war ein Gesetz, der British Nationality Act von 1948, mit dem die Regierung versuchte zu definieren, was "britisch" ist. Das Ziel war es, möglichst viel vom Empire zu retten und die Bindungen zwischen dem Mutterland und Commonwealth-Nationen wie Kanada und Australien zu stärken. Mit dem Gesetz wurde ein neuer Status geschaffen, der von "Bürgern des Vereinigten Königreichs und der Kolonien". Der Nationality Act bekräftigte das Recht aller in Großbritannien und den Kolonien geborenen oder dort eingebürgerten Menschen, innerhalb des Commonwealth frei zu reisen und zu leben und zu arbeiten, wo sie wollten.

Empire Windrush. Bild: Royal Navy

Wir sind alle Briten, verkündeten die Politiker im Mutterland, aber "britisch" war in erster Linie: weiß. Offenbar konnten sich Leute wie der damalige Premierminister Clement Attlee nicht vorstellen, dass nicht nur Weiße aus Neuseeland von der Reisefreiheit Gebrauch machen würden, sondern auch Menschen mit dunklerer Hautfarbe aus der Karibik und aus Asien. Auf das Herannahen der Empire Windrush reagierte die Regierung Attlee so panisch, als stünde eine neue Invasion bevor. Einer der abstruseren, von Beamten ausgearbeiteten Vorschläge war der, das Schiff nach Ostafrika umzuleiten und die Passagiere (gut qualifizierte Handwerker) bei der Erdnussernte einzusetzen.

David Olusoga hat für die BBC-Dokumentation The Unwanted: The Secret Windrush Files alte Akten gesichtet und erinnert daran, dass zur selben Zeit ein Programm zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels lief. Dieses Anwerbeprogramm firmierte unter dem Namen "Operation Westward Ho". Westward Ho! ist der Titel eines viel gelesenen Romans des viktorianischen Bestsellerautors Charles Kingsley, der den Kampf der elisabethanischen Freibeuter gegen die Spanier romantisiert. Kingsley feiert den Imperialismus und Francis Drake als seinen Kulturhelden. Die Spanier sind Katholiken und somit böse, weshalb man sie ausrauben darf.

Zwischen 1946 und 1950 ließen sich rund 180.000 "Freiwillige" (European Voluntary Workers, kurz: EVWs) in Großbritannien nieder. Sie erhielten - zumindest theoretisch - dieselben Rechte und dieselbe Bezahlung wie ihre britischen Arbeitskollegen, und im Rahmen der "Operation Westward Ho" durften sie enge Familienangehörige nachholen, um das Anwerbeprogramm attraktiver zu machen. Die EVWs waren überwiegend Displaced Persons vom Balkan, aus Polen und der Ukraine sowie aus Lettland, doch es waren auch viele Deutschstämmige darunter, die bei Kriegsende aus ihrer Heimat vertrieben worden waren.

Die Not war so groß, dass die Briten sogar ehemalige Angehörige der Waffen-SS anwarben, die man im Freund-Feind-Schema von Kingsleys Roman (der erste überhaupt, der von der BBC als Hörspiel adaptiert wurde) ganz leicht für die Katholiken einsetzen könnte. Aus Sicht der verantwortlichen Politiker war das immer noch besser, als Schwarze aus den Kolonien ins Land zu lassen. "In ihrer extremsten Form bestand die Regierungspolitik darin", stellt Olusoga fest, "Männern, die gegen Großbritannien gekämpft hatten, den Vorzug gegenüber Männern zu geben, die Veteranen der britischen Streitkräfte waren, und das alles, weil diese Veteranen schwarz waren." SS-Angehörige waren weiß.

Keep England White

Am 22. Juni 1948 gingen in Tilbury die ersten Männer von Bord der Empire Windrush, die nun "ein farbiges Element in unsere eigene Bevölkerung einbringen" würden, was man nicht mehr werde rückgängig machen können, wie ein hoher Beamter drei Monate zuvor in einem Papier für die Regierung gewarnt hatte. 1951, als Winston Churchill noch einmal zum Premierminister gewählt wurde, wanderten jährlich etwa 3000 Menschen aus der Karibik zu. Das Mutterland empfing sie nicht so sehr wie britische Staatsbürger (die sie waren) als vielmehr wie eine Bedrohung, gegen die man sich wappnen musste.

Eine der ersten Unterkünfte für die Neuankömmlinge war eine leer stehende Lagerhalle im Londoner Stadtteil Brixton. Viele von ihnen blieben in der Gegend. In Brixton bildete sich eine größere westindische Community, weil sich Immigranten am liebsten dort niederlassen, wo bereits Leute aus der alten Heimat leben. Die, die schon länger da sind, sehen solche Entwicklungen oft mit Misstrauen und fühlen sich überfremdet. Als sich der Betreiber eines Pubs in Brixton weigerte, Getränke an Schwarze auszuschenken, sah Churchill sich in seiner Meinung bestätigt, dass die Einwanderung (von Nicht-Weißen) die größte Herausforderung sei, die seine Regierung zu bewältigen hatte.

Der Premierminister scheint unter einer regelrechten Phobie gegen schwarze Postangestellte gelitten zu haben. Überall waren sie anzutreffen. Der Postminister musste eruieren, um wie viele Personen es sich da handelte und ob sich daraus schwerwiegende "soziale Probleme" ergeben könnten. Resultat: Die Post hatte 500 bis 600 schwarze Mitarbeiter - viel zu viele für ein Land mit damals 50 Millionen Einwohnern. Im Kabinett zirkulierte ein Schreiben des Ministers, der darauf hinwies, dass man diese Menschen schlecht diskriminieren (feuern) könne, weil sie zwar "Farbige", aber eben auch britische Staatsbürger seien.

Man müsse sich daher fragen, so der Minister, ob man "Farbigen" aus dem Commonwealth weiter die Einreise gestatten sollte. Gegenmaßnahmen waren aber kompliziert, weil es dieses Gesetz von 1948 gab und niemand als Rassist dastehen wollte, so kurz nach dem Sieg über die Nazis und ihre rassistische Ideologie. Also wurde eine mit hohen Beamten bestückte Arbeitsgruppe etabliert, die "objektive" Gründe dafür liefern sollte, warum die Zuwanderung schlecht für die britische Gesellschaft war, wenn die Immigranten keine Weißen waren.

Am 2. Juni 1953 wurde Elisabeth II. zum Oberhaupt des Vereinigten Königreichs und des Commonwealth gekrönt. Zwei Wochen später startete die Arbeitsgruppe einen Versuch, mithilfe dubioser Arbeitsamt-Statistiken und der Antworten hoher Polizeibeamter auf einen Katalog mit Suggestivfragen die Richtigkeit gängiger Vorurteile gegenüber den nicht-weißen Untertanen Ihrer Majestät nachzuweisen: dass sie arbeitsscheu seien, nur in die Sozialsysteme einwandern wollten, aus Mentalitätsgründen einen niedrigen Lebensstandard hätten, drogensüchtig seien, krimineller als Weiße und dergleichen mehr.

Mit solchen Umfragen und pseudo-wissenschaftlichen Studien kam man allerdings nicht weiter. Die Bemühungen der Regierung, die (nicht-weiße) Zuwanderung zu stoppen, scheiterten nicht zuletzt daran, dass das Land Mitte der 1950er einen Wirtschaftsboom erlebte. Unternehmen, die händeringend nach Arbeitskräften suchten, wollten keine Rücksicht auf Vorurteile und diffuse Überfremdungsängste nehmen, auch nicht der Staat. Enoch Powell, den Staatssekretär im Gesundheitsministerium, zwang der Pflegenotstand, persönlich nach Barbados zu fliegen (noch bis 1966 Kolonie, Jamaika sowie Trinidad und Tobago wurden vier Jahre früher unabhängig) und schwarze Krankenschwestern anzuwerben.

1954 war die Zahl der jährlich eintreffenden Zuwanderer auf 10.000 angewachsen, mit steigender Tendenz. Die Regierung schlug sich weiter mit dem Problem herum, wie man Schwarzen den Zutritt zum Mutterland verweigern konnte, ohne auch die Weißen auszuschließen und ohne rassistisch zu erscheinen, und Winston Churchill, inzwischen Premierminister im Ruhestand, empfahl seiner Partei, den nächsten Wahlkampf mit dem Slogan "Keep England White" zu bestreiten.

Unruhen in Notting Hill

Ende der 1950er kam der Wirtschaftsaufschwung zum Erliegen. Aus Arbeitern, die man zur Sicherung des Wohlstands dringend brauchte, wurden Konkurrenten um zu wenige Jobs. Die daraus entstehenden Spannungen eskalierten am 23. August 1958 in Nottingham, einer Stadt mit 2500 Zuwanderern aus Westindien und 600 Asiaten. Auslöser war ein Übergriff gegen einen jungen Schwarzen aus der Karibik, der dabei gesehen wurde, wie er mit einer Blondine Alkohol trank. Nun nahmen ihnen die "Nig Nogs" nach den Jobs auch noch die Frauen weg, dachten sich einige Weiße und schlugen auf den Mann ein.

Innerhalb kurzer Zeit hatten sich mehr als tausend Menschen in dem Viertel versammelt und es kam zu Prügeleien zwischen weißen und schwarzen Gruppen, die mehrere Stunden andauerten, landesweit für Schlagzeilen sorgten und die schlimmsten Befürchtungen der weißen Bevölkerung zu bestätigen schienen. Die Polizei brauchte bis 1989, um ein offizielles Untersuchungsergebnis vorzulegen, in dem festgestellt wurde, dass die Gewalt weißer, in Nottingham gebürtiger Hooligans die Rassenunruhen ausgelöst hatte.

Bei der schwarzen Community in London wuchs die Furcht, dass sich so etwas wiederholen könnte. Sir Oswald Mosleys Union Movement und andere rechtsradikale Gruppierungen marschierten mit dem Spruch "Make Britain White" durch Gegenden wie Notting Hill, das damals noch nicht das gentrifizierte Szeneviertel war, in dem Julia Roberts bei Hugh Grant ein Buch kauft, sondern ein heruntergekommener Distrikt, in dem Slumlords wie aus einem Roman von Charles Dickens Schrottwohnungen an Schwarze vermieteten. Der Anteil von Einwanderern aus der Karibik war dort besonders hoch.

Am 28. August stritt sich Raymond Morrison, nach Polizeiangaben ein Zuhälter, vor einer U-Bahn-Station mit seiner schwedischen Ehefrau. Raymond war schwarz, Majbritt war weiß. Weiße Jugendliche boten ihr eine Hilfe an, die sie weder verlangt hatte noch haben wollte. Schwarze Freunde von Raymond mischten sich ein, Beleidigungen wurden ausgetauscht. Am nächsten Tag erkannten die Jugendlichen Majbritt auf einer Straße in Notting Hill wieder, beschimpften sie als "Niggerhure", schlugen mit einer Eisenstange auf sie ein und machten dann Jagd auf einzelne Schwarze, die sie in der Gegend antrafen.

Das gilt allgemein als der Beginn der Rassenunruhen von Notting Hill. Bis zum Abend des 29. August waren es 300 bis 400 weiße Randalierer, die sich mit Knüppeln, Eisenstangen und Messern bewaffnet hatten, schwarze Passanten attackierten und in Häuser eindrangen, wo sie schwarze Bewohner vermuteten. Auf der Gegenseite formierten sich ähnlich bewaffnete Schwarze, um zum Gegenangriff überzugehen. Nach fünf Nächten voller Ausschreitungen beruhigte sich die Lage allmählich. Noch bis Mitte September kam es in verschiedenen Londoner Stadtvierteln immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Die Polizeiführung behauptete dem Innenminister Rab Butler gegenüber, dass es keinen rassistischen Hintergrund gebe, es sich vielmehr um Prügeleien unter gleichermaßen weißen und schwarzen Schlägern handele, die auf Randale aus seien. Butler nahm das dankend an. 2002 wurden geheime Dokumente veröffentlicht, aus denen eindeutig hervorgeht, dass die Unruhen durch einen rassistischen Mob ausgelöst wurden, bestehend aus mehreren hundert Weißen, die der Parole "Make Britain White" Taten folgen lassen wollten. Danach war die Atmosphäre endgültig vergiftet.

Memorandum von Rab Butler

In der Karibik verbreitete sich das Gerücht, dass London bald die Grenzen schließen würde. Das löste eine Art Torschlusspanik aus. Die Zahl der Zuwanderer, die gerade dabei war, wieder zu sinken, stieg von 15.000 (1958) auf 21.000 (1959) und 57.000 im Jahr 1960. 1962 verabschiedete die konservative Regierung von Harold Macmillan ein Gesetz, das potentielle Zuwanderer aus dem Commonwealth in verschiedene Kategorien einteilte, abhängig von ihrem Nutzen für die Wirtschaft. Menschen ohne Berufsausbildung hatten kaum Chancen auf die künftig erforderliche Einreisegenehmigung, und das, so das Kalkül, waren fast ausnahmslos Nicht-Weiße.

David Olusoga hat in den Archiven ein Schreiben Rab Butlers an seine Kabinettskollegen gefunden, in dem der Innenminister auf den großen Vorteil der Einreisebeschränkungen zu sprechen kommt: Man könne die neuen Regelungen so darstellen, als seien nur die Beschäftigungsaussichten ein Kriterium und als würde nicht "auf Grundlage von Rasse und Hautfarbe" entschieden, obwohl im Endeffekt genau das der Fall sei. Mit dem Gesetz verfolge man primär ein gesellschaftliches Ziel (möglichst wenig Zuwanderung von Nicht-Weißen), kein ökonomisches.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.