Der Traum vom besseren Leben: Biffo, die fliegende Minirocknonne und ein Schiff aus der Karibik

Seite 6: Was kostet es, kultiviert zu sein?

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Ihren ersten Auftritt als die Gangsterbraut mit dem königlichen Namen Victoria hat Mirren auf der Yacht, die in den St. Katharine Docks vertäut ist, wo Harold zwecks Diversifizierung ins Immobiliengeschäft einsteigen will. Die beiden sitzen an Deck und trinken eine Bloody Mary. Victoria hat alles für den Empfang mit Freunden und Investoren vorbereitet. Sie ist nervös und fragt sich, ob sie Charlie, den von Eddie Constantine gespielten Mafioso aus New York, nicht besser vom Flughafen abgeholt hätten. Immer mit der Ruhe, sagt Harold: "Wenn der Chef von Coca Cola in London vorbeikommt düst die Queen auch nicht nach Heathrow, oder?"

"Die Queen?", fragt Victoria verdutzt. "Du weißt schon, was ich meine", antwortet Harold. "Alles hochspielen, stimmt’s? Du bist mit Prinzessin Anne zur Schule gegangen, hast Hockey mit ihr gespielt, das ganze Zeug." "In Benenden ist es Lacrosse", korrigiert ihn Victoria. "Hockey ist fürchterlich vulgär." Harold freut sich, dass er eine Geliebte hat, die solche Sachen sagt. "Ja, ja, und ob, ja doch", näselt er mit gespieltem upper class drawl (Rees-Mogg kann das Affektierte besser). "Die Amis lieben Snobismus. Sie fühlen sich in England so richtig angekommen, wenn die Oberschicht sie wie Scheiße behandelt." "Gibt ihnen einen Sinn für Geschichte", kommentiert Victoria.

Was kostet es, kultiviert zu sein? (19 Bilder)

The Long Good Friday

Schade, dass die wenigsten Drehbuchautoren solche Dialoge schreiben können. Aus ein paar Sätzen erfahren wir sehr viel über diese Beziehung, ohne dass es für uns ausformuliert wird, als ob wir begriffsstutzige Idioten wären. Victoria hat die Klasse, die Harold, dem Aufsteiger aus der Unterschicht, fehlt. Beide bringen ein gesundes Maß an Selbstironie mit und ein Bewusstsein für die eigenen Schwächen, das es ihnen ermöglicht, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Victoria könnte auf den ungebildeten Gangster herabschauen und Harold auf die Frau, die er sich mit seinem schmutzigen Geld gekauft hat (die sexuelle Potenz hat auch etwas damit zu tun). Nichts davon findet statt.

Benenden ist ein exklusives Mädcheninternet in Kent, zu dessen illustren Absolventinnen Prinzessin Anne gehört, die Tochter der Königin. "Selbstbewusste, positive junge Frauen, wirklich auf die Zukunft vorbereitet", steht auf der Website. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Eltern das happige Schulgeld leisten können. Die Oberschicht, sagt uns der Film damit, ist nicht von Natur aus überlegen, wie es immer wieder behauptet (und von vielen auch geglaubt) wurde, um die Klassengesellschaft zu rechtfertigen. Sie genießt per Geburt Privilegien und kennt die Leute, die einem nützlich sein können, weil ihre Mitglieder in den richtigen Kreisen verkehren.

Bei seiner Ansprache vor den geladenen Gästen wird Harold den "Sinn für Geschichte" für sich selbst reklamieren. Das ist eine Geschichte, in der die einen oben waren und die anderen "wie Scheiße" behandelt wurden. Wenn Harold Britannien wieder groß machen will schwingt da auch der Gedanke mit, dass man ein hierarchisches System wiederherstellen könnte, in dem man ganz oben stand, wenn man Engländer war (die Arroganz den ehemaligen Kolonien gegenüber mit inbegriffen). Den Schauplatz an der Tower Bridge, dem Symbol des britischen Imperialismus im 19. Jahrhundert (als Queen Victoria über ein Weltreich herrschte), hätte man kaum besser wählen können.

Es lohnt sich, den Film mehrmals zu sehen, weil man dann anfängt, die Feinheiten zu entdecken. Nach der Bemerkung über den Sinn der Amerikaner für Geschichte muss sich die moderne Victoria um den französischen Koch kümmern, den sie für das Buffet engagiert hat. Von Harold verabschiedet sie sich mit einem kurzen "Oi". Da spricht die vornehme Lady mit dem ungehobelten Kerl aus der Unterschicht (Harold trinkt zu viel Vodka und mag den Geruch des französischen Essens nicht), und zugleich ironisiert sie ihre Rolle. In Brixton wird Harold den schwarzen Mechaniker mit einem "Oi" anreden. Die Ironie ist weg.

Der weiße Herr spricht da mit dem Schwarzen aus den Kolonien, der jetzt in London lebt und das Viertel in ein Drecksloch verwandelt hat. So war das nicht vorgesehen, als Britannien noch groß war. Harold fährt nach Brixton, um Erroll the Ponce zu suchen. In Keeffes Dialogen wird auch das mit der Yacht verbunden. Für Victoria ist der französische Koch ein sensibler Künstler, mit dem die Benenden-Absolventin selbstverständlich in seiner Sprache parliert. Für Razors (der später Erroll foltert) ist er "a right horrible ponce". Mit ponce ist hier Schwuler gemeint, nicht Zuhälter wie bei Erroll. Die Verbindung ist trotzdem etabliert. Harold ist immer noch der Junge aus Stepney, wenn er aus Errolls Kühlschrank isst.

Victoria, die Right Honourable Lady, muss den Koch beruhigen. Der Künstler leidet, weil er seine erlesenen Speisen auf Porzellantellern mit blauem Rand kredenzen soll. Dabei müssten es weiße Teller sein! Immer, wenn es kultiviert wird, erinnert uns der Film daran, dass Geld im Spiel ist, nicht ein genetischer Vorteil der Privilegierten. Zwanzig Pfund das Stück habe sie für die Teller bezahlt, sagt Victoria zu Jeff. Das macht ihren Wert aus, nicht die künstlerische Gestaltung. Zwei davon, seufzt Victoria, habe Harold schon zerbrochen: "Er kennt seine eigene Stärke nicht."

Jeff ist für Harold wie ein Sohn. Im amerikanischen Gangsterfilm der 1930er (The Public Enemy, Scarface), den Keeffe und Mackenzie modernisierten und nach South East London holten, ist das die Figur (meistens als bester Freund des Gangsterbosses), deren Tod den Untergang des Helden einleitet. Nicht anders in The Long Good Friday. Mit der Tellerszene wird bereits Jeffs Ende vorbereitet. Er wird am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn Harold mit zerbrechlichen Gegenständen hantiert und nicht weiß, wie stark er ist.

Tod im Yachtclub

In einem von Keeffes Theaterstücken gibt es einen Satz über das Hockeyspielen in Benenden. Nach einer Aufführung meldete sich eine Dame, die das Internat besucht hatte und belehrte ihn, dass Hockey für Benenden viel zu gewöhnlich sei. Lacrosse werde dort gespielt! Beim Schreiben des Drehbuchs erinnerte er sich daran. Das Vorbild für Victoria war The Hon. Vicki Hodge, Tochter des 2nd Baronet of Chipstead. Der erste Baronet war Chef einer Schiffsbaufirma. Offiziell erhielt er den Titel 1921 für Verdienste seines Unternehmens im Ersten Weltkrieg.

Vermutlich hatte sich Sir Rowland Hodge den Titel gekauft. David Lloyd George, der Premierminister, betrieb einen schwungvollen Handel mit solchen Auszeichnungen. Einen schlichten "Sir" kriegte man für 10.000 Pfund. Wer Baronet sein wollte musste 30.000 Pfund hinblättern (1979 immerhin noch der Gegenwert von 1.500 Porzellantellern mit blauem Rand, von denen auf Harolds Yacht korrupte Politiker, Gangster und Society-Ladies essen). Das war ganz legal, aber auch extrem peinlich, als es herauskam. Sir Rowlands Name wurde in dem Skandal genannt, der 1925 zu einem Gesetz zur Verhinderung des Missbrauchs von Titelverleihungen führte. Der Verkauf steht seitdem unter Strafe.

Vicki, eine Enkelin des ehrenwerten Sir Howard, war Model und die langjährige Freundin von John Bindon, der es verstand, das Gangstertum mit der Schauspielerei zu vereinen und es dank seiner vielen Talente (von der Schutzgelderpressung bis zum Rezitieren von Gedichten) zum Society-Liebling brachte. In Get Carter ist Bindon einer von den Fletcher-Brüdern, für die Jack (Michael Caine) als Killer arbeitet. In Performance gehört er zur Bande des schwulen Gangsters Harry Flowers und assistiert Chas (James Fox) bei einer Einschüchterungsaktion. In seiner zweiten Karriere hatte er geschäftlich mit den Krays und den Richardsons zu tun.

Tod im Yachtclub (10 Bilder)

Performance

Seine Freunde schätzten an Bindon, dass es keine langweiligen Partys gab, wenn er dabei war. Für seine bekannteste Darbietung brauchte er Biergläser mit Henkel, die er an seinen erigierten Penis hängte. Damit soll er auch Prinzessin Margaret beeindruckt haben. Die Schwester der Königin durfte er in ihrem Feriendomizil auf Mustique besuchen, einer Privatinsel für Reiche (und schwarze Diener) in Westindien. Wenn Bindon sich ärgerte oder jemanden einschüchtern sollte, wurde es gefährlich. Mitunter richtete er mehr Schaden an als beabsichtigt. Wie Harold Shand konnte er seine Kraft schlecht einschätzen.

Bindons Spitzname war "Biffo", weil er andere Leute gern herumstieß und auf sie einschlug (das englische Verb dafür ist biff). An einem Nachmittag im November 1978 ging er auf ein paar Drinks in den Ranelagh Yacht Club bei der Putney Bridge in Fulham, damals ein ziemlich raues Viertel. Der "Yacht Club" war nicht das, was man sich gemeinhin darunter vorstellt, sondern ein finsteres Loch unter einem Bahnbogen (74 Station Approach) - ein Treffpunkt für zwielichtige Charaktere, der sich als Club ausgab und eine Mitgliederliste führte, um sich nicht an die gesetzlichen Öffnungszeiten für Kneipen halten zu müssen.

Der Ranelagh Yacht Club gelangte zu internationaler Berühmtheit, weil Biffo dort mit Johnny Darke ("Darky") aneinander geriet, worauf Darkes Leiche mit neun Stich- und Schnittwunden aufgefunden wurde. Der daraus resultierende Mordprozess im Court No 1 im Old Bailey war ein Medienereignis. Auf der Zuschauerbühne gesichtet wurden unter anderen Michael Caine, Mitglieder der Stones und Carol White, Bindons Partnerin in Poor Cow (1967), seinem ersten Film. White spielt die Frau eines Kriminellen (Bindon), der sie seelisch und körperlich misshandelt.

Darky gehörte zu einer Bande von der anderen Seite der Themse, die sich The Wild Bunch nannte, nach dem Film von Sam Peckinpah. Seine Freundin sagte später, dass er nicht mit Ärger rechnete, als er den Club betrat, weil er sonst eine Pistole mitgenommen hätte. Ein Messer hatte er aber schon dabei, genau wie Biffo. Bindons Version nach steckte es in seinen Schlangenlederstiefeln, weil er wegen eines Drogendeals Schulden bei anderen Gangstern hatte und um sein Leben fürchtete. Seine mehrfach modifizierte Darstellung des Tathergangs war in etwa diese:

Johnny Darke fing Streit mit einem von Biffos Freunden an und ging auf ihn los. Biffo wollte seinem Freund helfen. Darky geriet in eine mörderische Wut. Bindon konnte nicht anders, als in Selbstverteidigung ebenfalls sein Messer zu ziehen. Darky war nicht zu bändigen. Bindon ging zu Boden. Darky saß mit gespreizten Beinen auf ihm und überlegte gerade, ob er Bindon das Messer in die Brust stoßen oder ihm die Kehle durchschneiden sollte, als ihm Lennie Osbourne, auch ein Freund von Biffo, eine Machete in den Rücken rammte. Bindon konnte sich nicht daran erinnern, ob er danach noch einmal zugestoßen hatte oder nicht.

Bob, Biffo und die fliegende Minirocknonne

Während die Mitglieder des Yachtclubs am Tatort die Spuren beseitigten gelang es dem schwer verletzten und notdürftig verarzteten Bindon, den Flughafen zu erreichen. Von dort flog er nach Dublin. Seine Mutter stammte aus Irland, und die Londoner Unterwelt hatte gute Kontakte zur IRA. Er hielt sich in einem abgelegenen Bauernhaus versteckt, als er sich eingestehen musste, dass er die Verletzungen und den Blutverlust nur im Krankenhaus überleben würde. Ein Stich hatte seine Lunge durchbohrt, und angeblich hingen ihm die Eingeweide aus dem Leib.

Bei dieser unglaublichen Geschichte weiß man nie, was stimmt und was erfunden oder zumindest übertrieben ist. Einer von Bindons IRA-Begleitern soll sich im Krankenhaus in Dublin als Polizeiinspektor ausgegeben und dem Personal erzählt haben, dass "Mr. Monaghan" (der Mädchenname seiner Mutter) in Nordirland von britischen Spezialkräften so zugerichtet worden sei. Während "Mr. Monaghan" im Krankenhaus lag sprach sich bei Londons Gangstern herum, wo Bindon abgeblieben war. Gerüchteweise hatten Johnny Darkes Freunde einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt, was diese immer abstritten.

Bindon scheint daran geglaubt zu haben. So, wie es war, konnte es nicht bleiben. Schließlich nahm er Kontakt zur Londoner Mordkommission auf, um über die Modalitäten seiner Rückkehr zu verhandeln. Am 10. Dezember 1978 war er wieder da. Die Öffentlichkeitsarbeit übernahm Vicki Hodge. Vicki hatte es stets verstanden, Bindon und ihre Beziehung zu ihm gut zu vermarkten und sich in der Chelsea-Schickeria den Kampfnamen "Fliegende Nonne" erworben, weil sie nie davor zurückschreckte, überfallartig auf die Rivalinnen aus der Model-Szene loszugehen, mit denen Biffo sie betrog. Das stand dann in der Zeitung.

Jetzt besuchte sie ihren Liebsten täglich in der Untersuchungshaft, um das Publikum anschließend über den Stand der Dinge zu informieren. Dabei trotzte sie Wind und Wetter und trug auch bei eisigen Temperaturen die ultrakurzen Miniröcke, die ihr Markenzeichen waren. Am 23. Oktober 1979 begann der Prozess. Die Staatsanwaltschaft legte Bindon zur Last, für 10.000 Pfund einen als Kneipenschlägerei getarnten Auftragsmord begangen zu haben. Ein verurteilter Mörder hatte mit ihm im Gefängnis Ihrer Majestät in Brixton eingesessen und angeblich gehört, wie Bindon damit prahlte.

Bindon erzählte seine Geschichte von der Selbstverteidigung. Der Mann mit der Machete, sein Freund und Lebensrettter Lennie Osbourne, konnte diese Version des Tathergangs nicht bestätigen, weil er vor Prozessbeginn verschwunden war. Er ist nie wieder aufgetaucht. Vielleicht hat ihn der Eiswagen abgeholt wie Colin, Shands guten alten Freund. Der Richter äußerte den Verdacht, dass Zeugen eingeschüchtert worden waren und gelogen hatten, fand Bindon aber offenbar sympathisch, was in seiner Zusammenfassung für die Geschworenen zum Ausdruck kam. Was genau im Ranelagh Yacht Club passiert war und warum blieb unaufgeklärt.

Bob Hoskins trat - ein paar Monate nach den Dreharbeiten zu The Long Good Friday - als Charakterzeuge für den Angeklagten auf. Für Biffo war das der Moment, der dem Prozess die entscheidende Wendung gab: "Als Bob in den Gerichtssaal ging wussten die Geschworenen, dass ich okay war. Und sie wussten, dass ich nicht die Person war, als die mich die Polizei darstellte", wird er in Wensley Clarksons Bindon zitiert. So ähnlich sahen es manche Prozessbeobachter. Den Spitznamen, den Bindon erhalten hatte, weil er öfter ausrastete und auf andere Leute einprügelte - auch auf die mit ihm in einer Amour fou verbundene Vicki -, erklärte Hoskins damit, dass er wie ein großer knuddeliger Bär sei.

Biffo the Bear ist eine populäre britische Comicfigur und der beste Freund des kleinen Buster. So einer begeht keine Auftragsmorde. Am 13. November, nach 12-stündiger Beratung der Geschworenen, wurde Biffo in allen Punkten der Anklage freigesprochen. Vicki hatte inzwischen die "wahre Geschichte" für 40.000 Pfund an den Daily Mirror verkauft. Mag sein, dass Razors, Shands Mann fürs Grobe, Lennies Machete geerbt hat. Beim britischen Gangsterfilm der 1970er weiß man nicht immer so genau, wo die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verläuft.

Wer Verschwörungstheorien mag, sehe sich The Princess and the Gangster an. Vicki Hodge mutmaßt da, dass beschlossen wurde, John Bindon ungeschoren davonkommen zu lassen, weil das besser für die damals noch unantastbare und durch Prinzessin Margaret in den Fall verwickelte königliche Familie gewesen sei. Die Prinzessin durfte übrigens nicht nach Benenden. Sie wurde wie ihre Schwester Elizabeth von Gouvernanten erzogen, was sie ihrer Mutter (die mit den "Nig Nogs") immer vorwarf. Mit einer standesgemäßen Erziehung, meinte sie, hätte etwas aus ihr werden können.

Der Paddy-Faktor

Am Tag nach dem Freispruch veröffentlichte die Daily Mail ein Bild aus Bindons Photoalbum. Biffo sitzt in einem T-Shirt ("Enjoy Cocaine") neben Prinzessin Margaret, die ihn, einer Mitteilung des Palasts zufolge, gar nicht kannte. Entstanden war das Photo auf Mustique, wohin Margaret Biffo eingeladen hatte. Gästen muss man etwas bieten, doch Westindien ist weit. Harold will Charlie und Tony, die Geschäftsfreunde von der New Yorker Mafia, zum Abendessen in ein Londoner Lokal ausführen, das er gekauft und zum "typisch englischen Pub" hat umbauen lassen (in der Protz-Variante).

Die Gesellschaft kommt gerade in einem Jaguar und einem Mercedes Cabriolet beim Lion & Unicorn vorgefahren (der Rolls ist schon explodiert), als der Laden in die Luft fliegt. Löwe - für England - und Einhorn - für Schottland - sind die Wappentiere des Vereinigten Königreichs. Harold, der mit Victoria liierte König der Unterwelt, hat royale Ambitionen, erlebt nun aber, um im Bild zu bleiben, seine Schlacht bei Hastings, bei der sein Namensvetter Wilhelm dem Eroberer unterlag und vom Thron gestoßen wurde. In diesem Fall sind es nicht die Normannen, es ist das ungelöste Nordirland-Problem, das Harolds Pläne zunichte macht.

Der Paddy-Faktor (33 Bilder)

The Long Good Friday

Keeffes ursprünglicher Titel für den Film war "The Paddy Factor". Vergleichbar mit unseren Ostfriesenwitzen gibt es in England solche, die sich über Leute lustig machen, die dumm sind, weil sie Iren sind. Das ist der paddy factor. Keeffe hatte allerdings mehr den Polizeijargon im Sinn. Mit paddy factor ist da die Praxis gemeint, der IRA unaufgeklärte Verbrechen in die Schuhe zu schieben. In The Long Good Friday steckt sie wirklich hinter den Anschlägen. Mackenzie lehnte Keeffes Titel ab, weil er fand, dass er dem Film die Spannung raubte. Er wollte die Auflösung möglichst lange hinauszögern.

Den ersten deutlichen Hinweis gibt es, nachdem die Bombe im Lion & Unicorn explodiert ist. Vor ein paar Tagen, erzählt der Geschäftsführer, waren zwei "Micks" da (ein abfälliger Ausdruck für die Iren), zwei "hart aussehende Paddys", und haben Geld verlangt. Parky, der korrupte Chefinspektor, ist alarmiert. Iren und zwei Bomben, das wird die Special Branch auf den Plan rufen, die Antiterror-Einheit der Polizei. Mit ordinärer Schutzgelderpressung hat so etwas nichts mehr zu tun. In den 1970ern war das nur allzu real, weil die IRA beschlossen hatte, den Krieg nach England zu tragen.

An einem Samstagabend im Oktober 1974 gingen in zwei von Soldaten frequentierten Pubs in Guildford Bomben der Provisional IRA hoch. Fünf Menschen wurden getötet, mehr als 60 verletzt. Noch blutiger waren die Anschläge der Provos auf zwei Pubs in Birmingham am 21. November 1974. 21 Menschen starben, über 150 wurden verletzt, und wenn eine dritte Pub-Bombe ebenfalls detoniert wäre wie geplant hätte es noch mehr Opfer gegeben. Nach einem von der IRA verkündeten Waffenstillstand und ergebnislosen Geheimverhandlungen mit Merlyn Rees, dem britischen Staatssekretär für Nordirland, ging die Gewalt im Januar 1976 weiter.

"Aus Sicht der IRA steckte eine gewisse Logik darin, ihren Krieg nach England zu bringen", schreibt Richard English in Armed Struggle. "Angriffe in England bekamen viel mehr Publizität, als es gemeinhin bei Aktionen in Irland der Fall war. Britische Bomben sollten London unter Druck setzen, auf dem Weg über die öffentliche Meinung, damit man dort den republikanischen Forderungen nachgab." Das misslang, weil die Provos die allgemeine Empörung über die von ihr angerichteten Blutbäder unterschätzt hatten. Andererseits ging auch die britische Strategie, das Problem durch Repression zu lösen, nach hinten los.

Im November 1974 erhielt Judith Ward dreißig Jahre Gefängnis für einen Bombenanschlag auf einen mit britischem Militärpersonal und dessen Angehörigen besetzten Bus in Nordengland (zwölf Tote) und zwei weitere Explosionen, obwohl sie an allen drei Verbrechen unschuldig war. Mit jeder (britischen) Leiche stieg nicht so sehr der Druck auf Behörden und Politik, den Forderungen der IRA nachzugeben, wohl aber, Ermittlungserfolge nachzuweisen und Täter zu präsentieren. Der Zweck heiligte dabei die Mittel.

Im August 1975 wurden sechs unschuldige Männer wegen der Pub-Bomben in Birmingham zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, nachdem man ihnen unter der Folter Geständnisse abgezwungen hatte. Während die (1991 zur Aufhebung der Urteile führende) Kampagne für die Freilassung der Birmingham Six anlief versuchte sich Staatssekretär Rees daran, den – aus Sicht der irischen Terroristen – Unabhängigkeitskampf der IRA zu delegitimieren, indem er ihn kriminalisierte. Im November 1975 drohte er der IRA damit, festgenommenen Provos den 1972 durch einen Hungerstreik erkämpften Sonderstatus zu entziehen und sie wie gemeine Verbrecher zu behandeln.

Der erste, der (im September 1976) nach den neuen Regeln verurteilt wurde, war der 19-jährige Kieran Nugent. Er weigerte sich, Anstaltskleidung zu tragen und wurde nackt in seine Zelle gesteckt, wo er wenigstens eine Decke (blanket) hatte. Andere folgten seinem Beispiel. Die Bestimmungen besagten, dass Häftlinge nur bekleidet ihre Zelle verlassen durften. Also wurden die Blanket Men 24 Stunden am Tag in ihren Zellen festgehalten. Die Vorstellung, dass IRA-Kämpfer nackt in einem Gefängnis Ihrer Majestät saßen, hatte - ganz egal, wie man dazu stand - eine beachtliche öffentliche Wirkung.

Deckenmänner vs. Law-and-Order-Politiker

Gute Kriminalfilme zeichnen sich dadurch aus, dass sie, wie der Filmhistoriker Eddie Mueller über John Hustons The Asphalt Jungle gesagt hat, die normale Gesellschaft und die Unterwelt komprimieren und auf die Ähnlichkeiten zwischen beiden hinweisen. The Long Good Friday ist so vielschichtig und intellektuell stimulierend, weil Realität und Fiktion immer mehrfach anschlussfähig sind. Keeffe erfindet eine Szene, in der Erroll mit einer Weißen im Bett liegt, weil das der zu Gewalttaten führende Albtraum der Rassisten ist. Zugleich ergibt sich daraus die Gelegenheit, einen nackten Mann (einen Blanket Man ohne Decke) zu zeigen, ohne dass es gewollt wirkt.

Man kann sich auch fragen, was irische Terroristen von Gangstern unterscheidet, ohne darüber den kolonialen Ursprung des Konflikts zu vergessen. In The Long Good Friday ist das so kunstvoll verknüpft, dass sich eine zusätzliche, von der reinen Kriminalhandlung abgehobene Bedeutungsebene einstellt. Harold Shand rät Erroll zum Gebrauch eines Deos, bevor er ihn von Razors foltern lässt, weil der Gangster ein Rassist ist, für den "Nig Nogs" stinken. Zugleich fährt Harold, der englische Patriot (auch das Essen der Franzosen stinkt), nur nach Brixton, weil er wissen will, wer seine Leute tötet. So kommen die Iren ins Spiel.

The Long Good Friday

Der Film schlägt sich nicht etwa auf die Seite der Terroristen. Er macht vielmehr deutlich, vor welchem Hintergrund er gesehen werden will, indem er Bilder abruft, die stark mit bestimmten Assoziationen besetzt sind (1979 mehr als jetzt). Bei "Kolonialismus" denkt man üblicherweise an zwangsbeglückte Afrikaner oder Asiaten. Aus Sicht (nicht nur) der IRA waren die Iren, deren Vorfahren von den englischen Invasoren wie Untermenschen behandelt wurden, die ersten Opfer des englischen Imperialismus (die Geschichte der Herrschaft von Harolds Landsleuten über die Iren ist über weite Strecken so bedrückend, dass man es kaum glauben mag).

Einige der IRA-Kämpfer stanken damals tatsächlich. Im Frühjahr 1978 wurde aus dem "Blanket Protest" der "No Wash Protest". Den Gefangenen war es inzwischen erlaubt, nur mit einem Handtuch bedeckt, durch die Gefängniskorridore zum Waschraum zu gehen. Ein zweites Handtuch zum Abtrocknen wurde ihnen verweigert. Die Gefangenen blieben in den Zellen. Das wurde bald zur übel riechenden Angelegenheit, was sich durch die unsachgemäße Entsorgung von Exkrementen noch verschärfen ließ.

Als Margaret Thatcher Premierministerin wurde und sich als besonders unnachgiebig profilierte war die nächste Eskalationsstufe erreicht. Am 27. Oktober 1980 begannen die ersten IRA-Häftlinge im Gefängnis Long Kesh einen Hungerstreik, mit dem sie ihre Forderung durchsetzen wollten, als politische Gefangene anerkannt zu werden und wieder zivile Kleidung tragen zu dürfen. Am Ende gab es zehn Tote.

Von den unschuldig Verurteilten bis zu den Hungerstreikenden: durch ihre unnachgiebige Haltung schuf die britische Regierung ein um das andere Mal Märtyrer, was der IRA beim Rekrutieren neuer Kämpfer half. Im Rückblick kommt einem der Nordirland-Konflikt vor wie eine schier endlose Kettenreaktion. Wenn man das begriffen hat versteht man auch, warum das Karfreitagsabkommen unbedingt bewahrt werden sollte und warum man sich ein - im wahrsten Sinne des Wortes - explosives Problem einhandelt, falls es nach dem Brexit wieder eine sichtbare Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland gibt.

The Long Good Friday

Theresa May und (nach längerem Zögern) Boris Johnson haben das schließlich eingesehen, auch wenn eine Sonderlösung für Nordirland entweder die protestantischen Fundamentalisten von der DUP in Rage bringt (Verlegung der Zollgrenze in die Irische See) oder die Hardcore-Brexiteers um Jacob Rees-Mogg, an deren Widerstand May gescheitert ist. Bei der derzeitigen Gemengelage kann es gut sein, dass – durch Zusätze zum „neuen“, vom Parlament abgesegneten Johnson-Deal – der alte Backstop wiederkehrt, also der Verbleib des gesamten Königreichs in einer Zollunion mit der EU bis zum Abschluss eines Freihandelsvertrags.

Abgesehen von einer Rücknahme des Brexit ist der Backstop bisher die beste Möglichkeit, den zerbrechlichen Frieden zu wahren. Es muss nur irgendeine Form von Grenzeinrichtung auf der irischen Insel stehen. Schon kann man darauf warten, bis die ersten Hitzköpfe Sachen beschädigen oder Menschen verletzen. Die Polizei muss dagegen vorgehen. Wenn dann nicht sehr schnell deeskaliert wird fängt der Kreislauf der Gewalt von vorne an. The Long Good Friday liefert den Kommentar dazu. Nachdem die Bombe im Lion & Unicorn explodiert ist reagiert Harold wie ein Law-and-Order-Politiker alter Schule. Der Film zeigt, wohin das führt.

Harold verlangt von Parky Namen und Adressen von Iren in seinem Herrschaftsgebiet, die als Täter in Frage kommen. Dann zieht er in eine Auseinandersetzung, die er mit Gewalt nicht gewinnen kann, weil für jeden Gegner, den er ausschaltet, zwei neue aufstehen. Für Parkys Einwände, dass das ein anderes Spiel ist, mit Widersachern, die sich nicht an die Regeln halten, nach denen Gangster ihre Revierkämpfe austragen, hat er taube Ohren. Es macht die Qualität des Films aus, dass die Geschichte an dieser Stelle zur Tragödie eines Mannes wird, der seine Vergangenheit hinter sich lassen will und im Moment der Krise in die alten Verhaltensmuster zurückfällt.

Das Ende des Königs der Unterwelt im dritten und letzten Teil von Make Britain Great Again:
Zwischen IRA, Krauts und Mafia: Harold Shand und der Geist von Dünkirchen

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