Der Ukraine-Krieg als Menetekel

Seite 4: Multilateralismus? Kaputt!

Während der Lebensmittelpreis-Krise 2008 erließen viele Regierungen Exportverbote und bemühten sich um bilaterale Abkommen mit den Erzeugerländern, um bevorzugt beliefert zu werden. Indem sie Getreide horteten, vergrößerten sie allerdings die Knappheit anderswo. Auch das könnte sich dieses Jahr wiederholen, befürchtet die Food and Agricultural Organisation (FAO) der Vereinten Nationen. Sie appelliert an die Regierungen, die Märkte offenzuhalten:

Besonders Exportbeschränkungen müssen vermieden werden; sie verschlimmern die Preisschwankungen, begrenzen die abfedernde Wirkung des Weltmarktes und haben mittelfristig negative Folgen. Die Markttransparenz und der politische Dialog sollten intensiviert werden. Beides spielt eine Schlüsselrolle, wenn die Agrargütermärkte unter Unsicherheit leiden.

Die Warnung dürfte auf taube Ohren stoßen, die Regierungen werden voraussichtlich abermals Vorräte horten und Ausfuhren unterbinden.

Dieses Verhaltensmuster zeigten sie jedenfalls in sämtlichen internationalen Krisen seit dem Arabischen Frühling. Während der ersten Welle von Covid-19 kauften selbst die Mitgliedsländer der Europäischen Union einander Medikamente und Beatmungsgeräte weg und schlossen ihre Grenzen. Kurz darauf scheiterte eine effektive globale Verteilung der Impfstoffe aufgrund von nationalen Manövern und Sonderverträgen mit den Herstellerfirmen.

China, Russland und USA sabotierten ein abgestimmtes Vorgehen im Rahmen des WHO-Programms Covax und betrieben stattdessen eine bilaterale Impfdiplomatie, um befreundete Nationen und Partner an sich zu binden.

Belastungsproben ausgesetzt, versagt die sogenannte Staatengemeinschaft mittlerweile regelmäßig.

Unter "Multilateralismus" werden zwei verschiedene Dinge verstanden - einerseits die Gleichbehandlung aller Handelspartner (mit dem Kern der Meistbegünstigungsklausel), andererseits ein integratives Vorgehen bei internationalen Problemen. Beides ist gegenwärtig in einer tiefen Krise. Dass es einen allseitigen Vorteil überhaupt geben könne, scheint kaum noch vorstellbar, weil das übergeordnete Interesse darin besteht, den Konkurrenten zu schaden.

Die eskalierenden geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen Welt- und Mittelmächten verhindern, dass Krisen kontrolliert und aufgelöst werden, ob es sich um eine Pandemie, Migration, Hunger oder Klimawandel handelt – allesamt Probleme, die sich nur global und kooperativ lösen lassen. Obwohl ihre Folgen immer krassere Formen annehmen und keine Nation sich ihnen ganz entziehen kann, hofft man darauf, dass die Katastrophen "den strategischen Gegner" härter treffen als einen selbst.

Gleichzeitig aber zeigt der Ukraine-Krieg, wie groß die gegenseitige Abhängigkeit ist. Der Versuch des "Transatlantiks", sich auf allen Ebenen von Russland zu entkoppeln, wird zu heftigen Verwerfungen führen. Das Wegbrechen des russischen Marktes kann die deutsche Exportindustrie noch verkraften, schwieriger wird es bei den Energiekosten.

Auch einige wichtige Wertschöpfungsketten sind betroffen. Beispielsweise dürfte sich der Chipmangel noch verschärfen, weil die russischen Ausfuhren von Aluminium und Palladium zurückgehen.

Die Ursachen von Krieg, Migration und Klimawandel sind miteinander verwoben, sie sind gleichzeitig ökologisch, wirtschaftlich und politisch. Zu einer Ursachenbekämpfung scheint die sogenannte Weltgemeinschaft allerdings nicht in der Lage zu sein.