Der Zeitgeist der Wirtschaftskrise

Ein unbekannter Brief von Konrad Zuse aus den 1930er Jahren

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Der Brief, der hier erstmals veröffentlicht wird, stammt aus der Feder des jungen Konrad Zuse. Das stenographische Original wurde 2012 im Nachlass des deutschen Erfinders entdeckt. Die Baupläne, Briefe, Fotos und Stenographien, die den Nachlass bilden, befinden sich heute im Archiv des Deutschen Museums in München. Seit etwa vier Jahren arbeitet ein interdisziplinäres Team vom Deutschen Museum und Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin an der Sichtung und Katalogisierung der Unterlagen.

Konrad Zuse beim Basteln in der elterlichen Wohnung. Bild: Konrad Zuse Internet Archive/CC-BY-SA-3.0

Der Brief wurde im März 1932 geschrieben. Zuse erwähnt, noch nicht 25 Jahre alt zu sein (er wurde 1910 geboren). Auch das Jahr Pause, das er mitten im Studium nahm, wird angeführt. In seiner Autobiographie gibt Zuse an, diese Pause "nach dem Vorexamen" für das Bauingenieurstudium eingelegt zu haben. Der Adressat war ein Studienrat im Gymnasium von Konrad Zuse in Hoyerswerda. Nach Angaben von Dr. Wilhelm Füßl, Leiter des Archivs im Deutschen Museum, war dieser Studienrat Dr. William Meyer, ein früherer Lehrer Zuses. Der Brief schließt inhaltlich an einen Brief vom 23.11.1930 an Meyer an, der 2010 teilweise veröffentlicht worden ist.1

Der Brief geht auf drei Autoren ein: Henry Ford, Silvio Gesell und Oswald Spengler. Alle drei haben den jungen Zuse beeindruckt. Henry Ford mit seiner Autobiographie und das von ihm herausgegebene antisemitische Buch "Der internationale Jude", Silvio Gesell mit seinem Vorschlag eines "Schwundgeldes" und Oswald Spengler mit seinem grandiosen Entwurf einer Geschichtsphilosophie. Der Brief ist also mitten in der Krise der dreißiger Jahre entstanden und spiegelt die damalige Desorientierung der Studentenschaft und Zeitgeist wider.

Der Brief von 1931 bzw. 1932

Berlin den 29. März 1932 Hochgeehrter Herr Studienrat,2 Ich will Ihnen wieder einmal einige von meinen Gedanken mitteilen. Eigentlich hätte ich mich schon längst für Ihren Brief bedanken müssen. Aber ich habe die Angewohnheit, selten zu schreiben, dann aber umso reichlicher. Ich glaube Sie können mir wieder einmal helfen. Ich bin nämlich auf eine Frage gestoßen, die mir bisher widerwärtig war, und an der ich ziemlich achtlos vorübergegangen bin. Es ist die Judenfrage. Ich bin darauf gekommen, dadurch dass ich das Buch "Der Internationale Jude" von Ford gelesen habe. Es ist das Beste, was ich bisher über die Juden gelesen habe. Ford behandelt die Frage in sachlicher und feiner Form, ohne den Hass und das Geschrei der Antisemiten. Er wird den Juden gerecht und tritt für sie ein, wo es angeht. Er glaubt, dass es im Interesse der Juden selbst läge, die Tatsachen über die Juden mit aller Offenheit aufzurollen. Was er dann aus dem Dunkel hervorholt ist erschütternd. Der Krieg, die Friedensverhandlungen, Amerikas Eintritt in den Krieg, Sowjetrussland, amerikanische Presse und Weltfinanz rollt vorüber im Licht der jüdischen Einflüsse. Einem Mann wie Ford darf man die angeführten Tatsachen wohl glauben. Wer sollte die Verhältnisse in der internationalen Hochfinanz besser kennen als der der zeitlebens mit ihr gekämpft hat. Ich habe auch etwas gefunden, was uns beide sehr interessiert in Bezug auf die Ideen Silvio Gesells. Ist es nicht verwunderlich, dass diese gesunde und einfache Idee so wenig an die Öffentlichkeit gekommen ist? Ford schreibt in diesem Buch: "Die rote Revolution ist die größte Spekulationstat der Menschheitsgeschichte. ... Der jüdische Kapitalismus weiß also genau, was er tut. Was gewinnt er dabei? Er hat der Welt von Neuem die angebliche Unentbehrlichkeit des Goldes gezeigt. Die jüdische Macht beruht auf dem Truge, dass Gold Reichtum sei. ... Das Gold sitzt immer noch auf seinem Thron. Man zerstöre den Wahn, dass Gold unentbehrlich ist und die jüdischen internationalen Geldmächtigen sitzen verlassen und verloren auf Haufen nutzlosen Metalls. [Seite 199]." An einer anderen Stelle weist er nach, dass die National-ök. die Hauptwissenschaft der Juden wäre, die sich krampfhaft Mühe gebe, die Welt von dem Tun und Treiben der jüdischen Finanziers abzulenken, unwesentliche Probleme in den Vordergrund zu stellen, und Probleme zu verschweigen, die uns die Augen öffnen könnten. Versteht man jetzt nicht, warum die sog. nat.-ök. Wissenschaft so eifrig bemüht ist, die Wichtigkeit und Heiligkeit des Goldes in verzwickten Theorien zu beweisen und jeden Vorschlag einer Währungsreform mit der Phrase "Inflation" abzutun? Sollte Silvio Gesell nicht absichtlich totgeschwiegen und als Laie hingestellt worden sein? Sie schrieben mir nichts über Schwanenkirchen, ich nehme also an, dass die Sache irgendwie schiefgegangen ist. Ist es ein Wunder, weil unsere Reichsmark eine rein ausländische und jüdische Angelegenheit ist? Kurz das Buch hat mir die Augen über manches geöffnet. Leider besitze ich es nicht selber, kann es Ihnen also auch nicht schicken. Falls Sie Interesse daran haben sollten will ich Ihnen den Verlag angeben. Hammer Verlag Leipzig. Ich habe jetzt folgenden Plan gefasst, den ich Sie aber einstweilen für sich zu behalten bitte: Ich will Henry Ford kurzer Hand die Idee des Schwundgeldes mitteilen. Die Schwierigkeit besteht darin, das Schreiben so abzufassen, dass es bei der Fülle von Briefen, die er wahrscheinlich täglich bekommt, auch wirklich in seine Hände gelangt, und dass er veranlasst wird, sich damit zu beschäftigen, bei seiner knappen Zeit. Ich weiß, wie ich selbst anfangs, nur mit einem gewissen Widerwillen an das Buch herangegangen bin, ich will es ruhig gestehen eigentlich nur Ihnen zum Gefallen, bis mir dann tropfenweise die Richtigkeit der Ideen aufging. Dass der viel beschäftigte Ford einem unbekannten Jemand zuliebe, das Buch überhaupt nur durchblättert ist nicht zu erwarten. Das Buch selbst, falls es eine englische Übersetzung geben sollte hinzuschicken, kommt wohl daher nicht in Frage. Ich will die Schwundgeldlehre kurz zusammenfassen in einer speziell auf Fordsche Denkweise zugeschnittenen englischen Schrift, wobei ich all meine Fähigkeiten als Reklamezeichner zusammenfassen will, so dass Ford die Schrift einfach lesen muss. Ich, der ich dauernd in Fordschen Gedankengängen lebe, müsste eigentlich dazu berufen, die Aufgabe zu lösen. Ich glaube nämlich, dass für die Ideen Silvio Gesells bisher ganz verkehrte Reklame gemacht worden ist. Ich werde die Sache nicht überstürzen, sondern mir Zeit lassen. Was die Judenfrage anbetrifft, so will ich mir ein klares Bild erarbeiten. Ich will mich vor allem hüten, in blindes antisemitisches Fahrwasser hinein zu geraten. Schriften von hervorragenden Juden will ich im Laufe der Zeit lesen und mir so ein Bild zu machen versuchen. Ein solcher ist Rathenau. Ich habe ein Buch über ihn von Harry Graf Kessler gelesen, und einiges von ihm selbst. Ich habe den Eindruck, dass Deutschland in ihm einen ganz bedeutenden Mann verloren hat. Ford gibt ja zu, dass die Möglichkeit besteht, dass einzelne Juden ihre hervorragenden Kräfte auf anständige Weise in den Dienst der Gesellschaft stellen. Ein solcher scheint Rathenau gewesen zu sein. Andere behaupten allerdings, dass er ein ganz Geriebener gewesen wäre. Auf jeden Fall kann man von ihm viel lernen, und es finden sich bei ihm sehr feine Gedankengänge. Vielleicht können Sie mir, wie ich anfangs schon erwähnte bei der Klärung der Judenfrage irgendwie helfen. Sie werden sich ja auch schon damit beschäftigt haben, und können mich vielleicht an Dinge und Personen heranführen, die mich weiterbringen. Mit Marx habe ich keinen Konnex, den Kerl begreife ich nicht. Rosa Luxemburg will ich noch studieren. Sie soll sehr feine Briefe geschrieben haben. Im Winter bin ich nicht so produktiv gewesen wie im Sommer, wenigstens künstlerisch nicht. Ich habe mich mit allem Möglichen beschäftigt, besonders mit Volkswirtschaft und Politik. Jetzt bin ich gerade dabei Spenglers "Untergang des Abendlandes" zu studieren. Der Mann verlangt ja von mir, dass ich meine in der Schule vernachlässigte Geschichtsklasse nachhole. Siehste, Zuse, warum haste keine Schularbeiten gemacht. Aber damals habe ich ja doch nur auswendig gelernt und mich auf die Weise verdummt. Jetzt gehe ich an solche Fragen mit einem ganz anderen Verständnis heran. Hätte ich mein Abitur in einem normalen Alter, d.h. 2 Jahre später, gemacht, so wäre meine Einstellung zur Schule wahrscheinlich eine ganz andere gewesen. Wahrscheinlich hätte ich nicht so sehr über die Schule geschimpft. Ähnlich geht es mir mit dem Studium. Je reifer und älter ich werde, umso mehr habe ich davon. Deshalb ist es auch sehr gut, dass ich ein Jahr Pause gemacht habe. Ich bekomme jetzt direkt schon wieder Lust mein Studium fortzusetzen, und wieder einmal in statischen Formeln rumzuwühlen. Ohne math. und technische Probleme könnte ich auf die Dauer ja doch nicht leben. Künstlerisch merke ich immer mehr, wie viel ich noch arbeiten muss, um einigermaßen etwas zu leisten. Ich glaube kaum, dass ich vor dem 25. Lebensjahre etwas Vernünftiges schaffe. Im Winter habe ich mehr den menschlichen Körper studiert, am liebsten würde ich noch etwas Medizin studieren, um den Körper genau kennenzulernen. Ferner lege ich großen Wert auf Fotografie, die ich mir zu einem der wichtigsten Werkzeuge ausbauen will. Was die Autos anbetrifft, so mache ich ebenfalls Fortschritte. Wenn auch langsam. Vor allem komme ich jetzt allmählich auf eigene Füße zustehen. Bisher befand ich mich trotz aller gegenteiligen Anstrengungen ja immer etwas im Fahrwasser des Autozeichners Bernd Reuters, der jahrelang der Gesuchteste auf seinem Gebiet in ganz Deutschland gewesen ist. Künstlerisch ist dieser Mann fabelhaft und unerreicht. Aber er ist neuerdings bei den Autofirmen nicht mehr so beliebt, weil er nicht sachlich genug ist. Da fange ich jetzt an, meine eigenen Wege zu gehen, indem auf die Sachlichkeit und Reklame Wert lege. Zu dem Zweck erforsche und rationalisiere ich das perspektivische Konstruieren von Autos. Das ist an sich eine wahnsinnige Arbeit. Ich bin aber dabei, es soweit zu vereinfachen und mich einzuarbeiten, dass es mir leicht von der Hand geht. Einige Fotos lege ich wieder bei. Selbstverständlich können Sie sie behalten. So empfehle ich mich Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin. Ihr Konrad Zuse.

Zum Brief

Der Industrielle Henry Ford war ein bekennender Antisemit. Das Buch "Der internationale Jude" (1920-22, in vier Bänden) war eine Sammlung von Zeitungsartikeln von der Redaktion seiner Zeitung "The Dearborn Independent". Ab 1920 gab es 91 Leitartikel, die die "jüdische Gefahr" dokumentieren sollten.

Das Buch von Ford hat in Deutschland vor und während der Wirtschaftskrise eine breite Leserschaft gefunden. Das Renommee des Autors, der einer der wichtigsten Industriekapitäne der amerikanischen Autoindustrie war, hat wesentlich zur Verbreitung des Buches beigetragen.

Silvio Gesell war ein Sozialreformer. Seine Theorie des Schwundgeldes basiert darauf, dem Geld Lagerkosten aufzuzwingen (negative Zinsen). Damit wäre der Vorteil des Geldes als Wertreserve gegenüber anderen Waren aufgehoben. Geld würde somit hauptsächlich für die Warenzirkulation und nicht für die persönliche Bereicherung bzw. Spekulation verwendet.

In Schwanenkirchen wurde 1930/31 ein solches Experiment mit eine Art Tauschgeld durchgeführt (die Wära), das allerdings 1931 von der Finanzministerium in Berlin gestoppt wurde. Darauf spielt die Nachfrage von Zuse im Brief wahrscheinlich an.

In dem Brief will sich Zuse für die Theorien von Gesell bei Henry Ford einsetzen. Viele Jahre danach hat er sich im Konzept für seine Autobiographie von Gesell distanziert:

Die "Goldwährung" wurde zum "schwarzen Peter" der Wirtschaftskrise gemacht (...) Ein solcher wirklichkeitsfremder und phantastischer Prophet war Sylvio Gesell.

Konrad Zuse

Über das Buch "Der internationale Jude" hat sich Zuse anscheinend nie wieder schriftlich geäußert. Nur Fords Autobiographie erwähnt er in seiner eigenen Autobiographie als wichtiges Werk.

Von den drei Autoren im Brief hat Zuse später im Leben nur Oswald Spengler zustimmend zitiert, insbesondere Spenglers "Untergang des Abendlandes" (1918-22) und "Preußentum und Sozialismus" (1920). Spenglers Konzeption von der Moderne als das Zeitalter der "abendländischen" bzw. "faustischen" ("Optimismus ist Feigheit"), die nach der ultimativen Ausdehnung und Grenzüberschreitung strebt, war für Zuse faszinierend.

Die Ursprünge seiner technokratischen Auffassung der Gesellschaft müssen in jenen formativen Jahren und in solchen Werken gesucht werden. In späteren Schriften hat Konrad Zuse sich über Automatisierung und selbstreproduzierende Maschinen ausgelassen, und daran eine Art Verselbständigung der Technologie und das faustische Schicksal unserer heutigen Gesellschaft gezeichnet. Die "technische Keimzelle" bildet in diesem Zusammenhang nur eine technologische Phantasie, ähnlich zu Kurzweils Singularität:

Hochgezüchtete Keimzellen könnten auf Weltraumkörper abgeworfen werden, welche selbsttätig und automatisch zu Industrieanlagen "auskristallisieren". Man würde also Industrieanlagen "pflanzen". Dabei würde man genau wie ein Gärtner vorgehen und die gepflanzte Anlage zunächst "düngen", d. h. mit hochgezüchtetem Rohmaterial versehen, bis das wachsende System so weit ist, die in der Umgebung der Abwurfstelle vorhandenen Materialien selber für den weiteren Aufbau zu verwenden. Diese Perspektive mag heute noch etwas phantastisch erscheinen, jedoch müssen wir den Mut haben, auch solche Möglichkeiten in unsere Betrachtungen einzubeziehen.

Konrad Zuse

Ich denke, dass in dem hier reproduzierten Brief und in dem Auszug oben ein Konrad Zuse spricht, der voll die technokratische Brille angezogen hat. Seine Dokumente im Nachlass sind Schriften der Zeitgeschichte und vielleicht relevant, um die damalige Zeit zu verstehen, so wie auch die Einstellung der Intellektuellen (wie es Akademiker sind) zu den Umwälzungen jener Zeit. Der junge Konrad Zuse war kein Mitglied der NSDAP, war aber auch nicht völlig immun gegen Propaganda, vor allem wenn sie aus dem Umkreis eines Jugendhelden von ihm, wie es Henry Ford war, kam.

Raúl Rojas González ist Professor für Informatik an der Freien Universität Berlin mit den Spezialgebieten Robotik und künstliche neuronale Netze. 1998 ist von ihm als Herausgeber das Buch "Die Rechenmaschinen von Konrad Zuse" erschienen.

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